Text
Editionsbericht
Literatur
Lyrik, Lyrische Poesie, ist die Poesie des Innern, oder der inneren Zustände, nämlich der
Gefühle, Anschauungen, Reflexionen, oder mit anderen Worten: die idealisirende Darstellung des
Innern, als dessen unmittelbare Erscheinung durch die Sprache. Die L. nimmt nämlich von einer Seite
die gesammte Welt der Gegenstände u. Verhältnisse in sich auf u. läßt sie vom Innern des einzelnen
Bewußtseyns durchdringen, von der anderen Seite aber schließt sich das in sich gesammelte u.
zurückgedrängte Gemüth auf und bringt jenes Innerliche durch Worte zur Anschauung. Indem solchergestalt
der Dichter in eigener Person hervortritt u. das innere Gefühlleben in einer individuellen
Unmittelbarkeit veranschaulicht, so ist die l. P. ihrer Eigenthümlichkeit nach subjektiv u.
in ihrer Bewegung auf die Gegenwart selbst in dem Falle angewiesen, wenn auch die Gemüthslage
durch Vergangenheit oder Zukunft veranlaßt erscheint. Der ästhetische Charakter der l.n P. begnügt
sich indeß nicht mit der bloßen Subjektivität des Dichters in der Darstellung seiner Innerlichkeit,
sondern verlangt, daß die Gemüthsäußerungen in sich selbst eine tiefere Bedeutung haben, sich über
den Kreis des Gemeinen u. Gewöhnlichen zum Bewußtseyn der inneren Freiheit u. Würde des Menschen
erheben u., in der Sprache veranschaulicht, die möglich vollendete Form erhalten, damit sie nicht als
der Ausdruck eines einzelnen Individuums, sondern gleichsam als ideale Nothwendigkeit erscheinen u.
auch der Nachwelt verständlich bleiben. Nun ist es zwar allerdings wahr, daß die Anschauungen u. Empfindungen,
welche der Dichter als die seinigen schildert, wahrhafte Emfindungen u. Betrachtungen seyn müssen,
für die auch die Poesie den gemäßen Ausdruck erfindet u. trifft, mithin selbst das Höchste u. Tiefste
des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens, insofern solches sich nach der Form der Anschauung fügt u.
in die Empfindung eingeht, zum allgemeinen Inhalte der L. gehört u. nur in besonderer Weise sich
ausspricht; allein ohne Zweifel ist auch die Bemerkung richtig, daß, weil im Lyrischen das Subjekt
sich ausspricht, diesem Aussprechen selbst der geringfügigste Inhalt genügen kann. So sind alsdann
die Gegenstände das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung u.
Darstellung. In Beziehung auf die Mannigfaltigkeit des lyrischen Gedichts entscheidet die
innere Anschauungsweise des Dichters. Das Ganze nimmt daher vom Herzen u. Gemüth, und näher von der
besonderen Stimmung u. Situation des dichterischen Subjekts seinen Anfang, u. so entstehen die
aller verschiedensten Normen für den innern Fortgang u. Zusammenhang, dieser Wandelbarkeit des
Innern wegen. Als Arten der eigentlichen L. nennt man: den
Hym[969]nus, Dithyrambus, Päan, Psalm, die Ode, das Lied (mit seinen verschiedenen Unterarten),
das Sonett, die Sestine, Elegie, Epistel (s. dd.). Gleichwie die Empfindung im dichterischen
Gemüthe nicht gleichmäßig fortschreitet, seine innere Bewegung vielmehr wechselt, sich hebt
und senkt, so soll auch in Betreff der äußeren Form der L. ein Wechsel der lebendigen Bewegung im
Rhythmus herrschen u. daher ist für sie die größte Mannigfaltigkeit der Metra u. die vielseitigere
innere Struktur derselben mit Recht zu fordern. Die griechische L. hat den Namen von
λύρα
u.
bezeichnet ursprünglich Gedichte, die zur Lyra (s. d.) gesungen wurden. Ihr Gefühlsausdruck diente
aber auch besonders zur anschaulichen Schilderung der Gegenstände, u. das in ihr herrschende
Gefühl ist aus dem Eindrucke der Umgebungen von einem unbefangenen Gemüthe aufgefaßt u. ausgesprochen.
Plato fand nur in den Hymnen u. Enkomien jene höhere L., die sich durch Feinheit des Gefühls, durch
richtigen Takt u. durch einen ausgebildeten Sinn für alles Schöne auszeichnet. Und diese L., die,
ihm zufolge, aus Rede, Melos u. Rhythmus besteht, nennt er vorzugsweise Musik. Die römische L.
beschränkt sich größtentheils auf das Zeitalter Augusts u. bleibt der griechischen weit untergeordnet.
Aus der oben entwickelten Eigenthümlichkeit der L. erklärt sich zugleich ganz ungezwungen die Unzahl
der lyrischen Gedichte selbst, welche sämmtliche zu lesen wohl einen längeren Zeitraum in Anspruch
nehmen würde, als den eines Menschenalters. Es ist dieß jedoch keineswegs eine nur der heutigen
Zeit angehörige Erscheinung, vielmehr hat schon Cicero das Nämliche von der seinigen
bemerkt: "Negat Cicero, si duplicetur actas, habiturum, se tempus, quo legat lyricos"
(Senec. epist. 49). Ausführliches über die l. P., und über ihre geschichtliche Entwickelung
enthält Hegel (Aesthet III., S. 419478), und treffliche Bemerkungen über die L. der Griechen H. Ulrici,
Geschichte der hellenischen Dichtkunst, Berlin 1835.
Erstdruck und Druckvorlage
Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland.
Bearbeitet von einem Vereine katholischer Gelehrten und herausgegeben von Dr. Wilhelm Binder.
Sechster Band: Karl – Maronen.
Regensburg: Manz 1848, S. 968-969.
Ungezeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland
(12 Bde. 1846-1850) online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Enzyklopädien_und_Lexika#Erste_Auflage_zwischen_1750_und_1850
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007911574
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Edition
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