[anonym]

 

Karl Beck

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

 

[517] Man hat unsere Zeit häufig als eine vorzugsweise kritische bezeichnet und ihr mehr oder minder nach allen Seiten hin den Beruf und die Kraft zur Productivität abgesprochen. Wenn Savigny ihr den Beruf absprach, auf dem Gebiete der Gesetzgebung productiv aufzutreten; wenn man darauf hindeutet, daß sich in allen Künsten mehr ein feiner und großartiger Eklekticismus als eine tiefe, ursprüngliche Originalität geltend macht; wenn man selbst bemüht gewesen ist, die philosophischen Entwickelungen der Gegenwart nur als eklektische Ausbildung früherer Systeme nachzuweisen, so hat die Behauptung, daß unsere Zeit vorzugsweise kritisch und nicht productiv sei, nirgend mehr als auf dem Gebiete der schönen Literatur Raum gefunden. Fragt man nun, wo die großen kritischen Thaten auf diesem Felde sind, so weiß Niemand Antwort zu geben. Wären die kritischen Organe der Gegenwart aber wirklich so vorzugsweise und so überwiegend ausgebildet, so würden sie doch wol etwas Besonderes und Bedeutendes hervorgebracht haben? Wir sehen jedoch nichts dieser Art. Im Gegentheil, die kritischen Bestrebungen auf dem Felde der schönen Literatur sind entschieden in den Hintergrund getreten und sie stehen, im Vergleich mit derartigen Bewegungen des vorigen Jahrhunderts, gerade auf Null. Die Kritik ist in sich selbst blasirt und das Publicum ist gegen die Kritik mistrauisch geworden. Und dennoch hört man häufig unsere Gegenwart als eine besonders kritische bezeichnen! Man spricht eben einen Gemeinplatz nach, ohne über seine Wahrheit weiter nachgedacht zu haben. Will man die Gegenwart aber einmal durchaus eine kritische Epoche nennen, so muß man darunter verstehen: sie ist eine Epoche der Krisen, sie ist eine Epoche, welche alles Alte zusammenschüttelt, nicht um es kaltblütig zu kritisiren, sondern um ein Neues, ein Nochnichtdagewesenes zu produciren, um endlich das Resultat einer bereits dreihundertjährigen Bewegung zu gewinnen. Sie ist eine Epoche des Strebens, also gewissermaßen eine durchweg productive Zeit, wenn ihr Produciren auch weniger Ende als Anfang, weniger Zweck als Mittel ist. Sie ist eine Epoche, welche sich weder in der Kritik noch in der künstlerisch gemäßigten Production befriedigt, sie geht mit ihrem Wollen über beide hinaus und darin eben liegt ihr Hamletscharakter. Denn in der Kritik Hamlet's ist auch keine Freude, kein Genuß an der Kritik, sie will eben nur über die Vollziehung einer That, welche der ganze Hamlet anstrebt, täuschen.

Haben wir nun aber unsere Gegenwart nicht als eine einseitig kritische, sondern als die Periode eines großen unbefriedigten Strebens, in der die kritischen und die productiven Elemente durcheinanderwogen, ohne zur Ruhe und zur That gelangen zu können, richtig erkannt, so wird uns Alles klar werden müssen. Sie hat viel von dem Schelling'schen Janus mit seinen drei Potenzen des Seinkönnens, des Seinsollens und des Seinmüssens, aber es fehlt das große, Eine, wahrhafte Sein. Als Janus schaut sie zurück, prüfend, in eine Vergangenheit, mit der sie durch tausend Adergeflechte verbunden, als Janus schaut sie verlangend und harrend in die Zukunft, und zwischen beiden Gegensätzen liegt die Gegenwart, auf dem Boden dieser beiden unvereinigten Gegensätze sind die kritischen und productiven Elemente der Gegenwart geboren und daher, weil sie den großen Zwiespalt der ganzen Zeit in sich tragen und, bei allem Sehnen nach einem Großen und Ganzen, nicht über ihn hinaus können, ihr Unbefriedigtsein mit sich selbst, ihre Schwäche, ihr Sterben als Knospe, als Blüte. Es ist nicht schwer, diesen zerrissenen Grundcharakter unserer Gegenwart auf allen Gebieten des Lebens und der Wissenschaften, ganz besonders aber in der Wissenschaft, welche es mit dem ganzen Menschen zu thun hat, zu erkennen. Er bricht überall hervor und noch viele wohlgemeinte und tüchtige Strebungen wird der ungeheure Abgrund verschlingen, ehe er sich schließt und die Welt in der kräftigen That einen versöhnenden Messias für ihr langes unbefriedigtes Wollen findet.

So haben wir nun auch den Grund gefunden, weshalb unsere Zeit vorzugsweise die Zeit der Talente ist und das Genie keinen rechten Boden in ihr finden will. Das Genie beruht auf innerer Einheit, auf einer großartig-harmonischen Entwickelung des ganzen Menschen. Unsere Zeit kann über den Zwiespalt nicht hinauskommen. In den Gegensätzen und Widersprüchen unsers Lebens ist ein großer Raum für Talente jeder Art, das Genie kann nicht zwischen denselben stehen, es muß sich [518] über dieselben erheben, aber diese Gegensätze unserer Welt sind noch so mächtig, daß sie die freie, allseitige Entwickelung eines Genies sehr beeinträchtigen müssen und ihm, wo es sich dennoch, trotz unserer Zeit, kraft seines gottmenschlichen Wesens, hervorheben sollte, eine durchaus vereinsamte Anachoretenstellung anweisen würden. Denn die Welt ist mit den Gegensätzen, auf denen sie steht und sich bewegt, so vollkommen beschäftigt, daß sie keine Zeit gewinnen kann, ein Genie, welches über diesen Gegensätzen steht, zu begreifen und seine Versöhnungsmission zu würdigen. Wäre das Genie überhaupt ein Fluch, so würde es in keiner Zeit ein größerer Fluch sein können als in der unserigen. Sie hat kein Interesse für den universellen Standpunkt eines Genies. Im Kampfe der Gegensätze nutzt das Genie nichts, beweist sich wol gar störend; die Talente, die mittelmäßigen Talente und die talentvollen Mittelmäßigkeiten sind an der Tagesordnung und schwimmen am besten oben, das Genie steht tief unten im stillen einsamen Meeresgrunde.

Aber ehe wir weiter gehen, dürfte es wol nothwendig sein, eine Erörterung Dessen, was Genie und was Talent ist, zu versuchen; wir bedürfen einer solchen Prüfung für die Folge dieses Aufsatzes und um dem jungen Dichter, mit welchem wir uns speciell beschäftigen werden, seinen wahren und richtigen Standpunkt anzuweisen. Man hat sich seit langer Zeit schon mit der Erklärung des "Genies" beschäftigt und allerlei mehr oder minder treffende und pedantische Auslegungen gegeben. Beim Verstehen des Genies kommt es aber in Wahrheit weniger auf eine Ausbreitung dialektischer Begriffe als auf ein Ahnen seines Wesens an und am Ende kann nur ein Genie das Genie selbst begreifen. Nicht durch philosophische Kategorien, eben nur durch die geniale Erleuchtung des Lebens kann das Genie verstanden werden. Das Talent wird immer nur einzelne Seiten verstehen. Da nun der Schreiber dieser Zeilen wol nicht berechtigt wäre, sich für ein Genie zu halten, so kann er für seine Deutung Dessen, was Genie ist, auch keine Vollständigkeit erwarten. "Vom Standpunkte des Talents" mag er aber auch nicht das Genie betrachten, denn das hieße in dem Genie eben nur das Talent erkennen und sagen, daß es Genie sei. Versuchen wir deshalb objectiv zu verfahren. Sehen wir zu, worin das Genie sich äußert und als solches erkenntlich wird, so müssen wir sagen: in seinen Schöpfungen, und wir müssen also an den Schöpfungen des Genies sein eigenes Wesen entdecken können, das Schaffende durch das Geschaffene. Zwar mag das Genie da sein können, ohne Thaten verrichtet zu haben, allein wir könnten nicht sagen, Rafael, Shakspeare, Beethoven, Goethe wären Genies, hätten sie nichts geschaffen, wodurch das Wesen des Genies zu uns spräche. Also die Schöpfungen des Genies sind durchströmt von der ganzen Fülle des Genies selbst. Die Einheit von Idee und Form ist mächtig in ihnen geworden, das Genie verkündet sich durch sie. Wenn wir also aus den Schöpfungen des Genies das Schaffende in seinem eigenen Wesen erkennen können, so haben wir für unsere Prüfung einen bestimmten Kreis gewonnen und wir brauchen uns nicht in dialektischen Abstractionen und poetischen, unbegrenzten Ahnungen über Das, was Genie ist, umherzutreiben.

Zunächst erheben sich die Productionen des Genies immer über die Gegensätze, in welche die Wirklichkeit des Lebens sich spaltet, und sie sind deshalb ihrer innersten Natur nach immer versöhnend. Was nicht hinaus kann über die Gegensätze der Wirklichkeit, kann kein Genie sein. Die romantische Schule konnte nicht hinaus über die Gegensätze, deshalb hat sie auch kein Genie hervorbringen können. Sie brachte es in ihren Hauptvertretern blos zu einem genialen Anflug. Shakspeare erhebt sich über die Gegensätze der Wirklichkeit, es erreicht in ihm die Vollendung und Versöhnung des wahren Menschenthums ihre ganze Höhe, er ist ein Genie. Wie also die Productionen des Genies im Allgemeinmenschlichen, in der Versöhnung der Gegensätze einen großen Theil ihres Wesens finden, so in ihnen eben auch das Genie selbst. Das Genie ist berufen und befähigt, den auseinandergehenden Menschenatomen den Spiegel des wahren Menschenthums vorzuhalten und für sie die Menschheit zu fühlen, als ein heiliger Hoherpriester sie zu vertreten. Darum wurzelt es mit seinem ganzen Wesen in dem wahrhaften Humanen, und das Selbstbewußtsein des Genies ist eben das Sichwissen der Menschheit. In diesem großen, gotterfüllten Bewußtsein überredet das Genie die Schranken der Zeit und es fühlt sich in seinem Schöpferdrange ewig, wie denn auch seine Schöpfungen in ihrer wahrhaft und rein menschlichen Natur ein ewiges Moment enthalten. Es bewegt sich frei über den Schranken, welche der Wirklichkeit des Lebens gesezt sind und welche auch das Talent über sich anerkennen muß, es ist eingegangen in die Freiheit des Sichselbstbewegens und ist mit seinem ewigen, weil reinmenschlichen Inhalte nicht wie das zeitliche Wirken des Talents dem Wechsel der Zeiten verfallen. Darin ist denn nun aber auch eine andere Seite des Genies, seine Universalität, gefunden. Denn wie es schon darin als universal anerkannt ist, daß es sich über die Schranke des Zeitlichen erhebt, so macht sich auch darin seine Universalität geltend, daß es sich in durchaus universaler Weise der Wissenschaft, der Poesie, des Lebens, der Kunst bemächtigt. Die Strahlen des ganzen Menschenthumes fließen dem Genie zu und es gebärt sie, durch sein göttliches Medium, freier und lichter zu einem neuen Leben, denn das schöpferische Moment des Genies duldet nicht, daß sie in seiner besondern Individualität abgeschlossen verharren, sondern fodert ihren neuen Gährungsproceß von demselben. Diese Universalität des Genies läßt sich aber bald als eine excentrische, bald als eine concentrische bezeichnen. Bald macht sie sich darin geltend, daß sie sich in einem freien Hervorbringen nach allen Seiten hin darstellt, bald tritt sie in der begrenzten Form einer bestimmten Kunst oder Wissenschaft hervor, um diese besondere mit ihrer allgemeinmenschlichen [519] Kraft und Strömung zu erfüllen und immer das Höchste in derselben zu leisten. In Michel Angelo z. B. machte die Universalität des Genies sich in erster Art, excentrisch, geltend. Ihm genügte nicht eine Sphäre, umzuschaffen, er wurde vielmehr getrieben nach den verschiedensten Seiten hin. Er mußte als Maler, als Architekt, als Bildhauer, als Dichter sein Genie bewähren, während Rafael dagegen sein Genie in die Malerei concentrisch versenkte und es aus ihr universell hervorleuchten ließ. Fassen wir es nun also zusammen, worin sich uns das Genie bewährt, so können wir sagen: in seiner schöpferischen Kraft, in der vollkommenen Unabhängigkeit seiner Schöpfungen von den Gegensätzen und Einseitigkeiten der gemeinen Wirklichkeit und in dem wahrhaft menschlichen, versöhnenden Wesen, endlich aber auch in der Universalität dieser Productionen.

Das Talent verhält sich darin als Gegensatz zum Genie, daß es wie dieses das Universelle, so das Vereinzelte, das von dem großen göttlichen Medium des wahrhaften Menschenthums vereinsamt Ausgestoßene und in den Wirrwarr der Gegensätze Hinausgetriebene ist, welche sich überall geltend machen. Darin aber ist es im Zusammenhange mit dem Genie, daß es bemüht ist, über die gemeine Wirklichkeit mit ihren Gegensätzen hinauszukommen und einen vollkommenen Zustand zu schaffen. Zwar gelingt ihm dieses nicht, denn es ist eben einseitig und selbst in den Gegensätzen befangen, wenn es dieselben auch als solche erkannt hat, und es ist eben dem Genie vorbehalten, den letzten großen Schlag zu vollführen und die gewappnete Minerva mit Schild und Speer aus dem Haupte des Zeus hervorspringen zu lassen; aber es arbeitet, und was ihm an Intensivität abgeht, das sucht es durch Extensivität zu ersetzen, und wenn es nicht großartig, ursprünglich schafft, so strebt es um so tüchtiger und emsiger, und wie das Genie im vollendeten Schaffen seinen welthistorischen Beruf erfüllt, so findet das Talent denselben im Streben. Dadurch wird es der Bahnbrecher des Genies, es wird der Johannes, welcher dem Erlöser die Wege bereitet, und eben nur durch seine tüchtigen Vorarbeiten kann dem Genie die vollendete und vollendende Schöpfung möglich werden. Die Wahrheit dieser Stellung des Talents zum Genie kann die ganze Geschichte vielfach beweisen, wir wollen hier aber nur zwei Beispiele aus der neuern Zeit anführen. In Luther trat das Genie der Reformation hervor, aber nur dadurch war ihm seine geniale That möglich geworden, daß schon lange vor ihm die mannichfachsten Talente sich in der Erreichung Dessen einseitig abgearbeitet hatten, was er zum Durchbruch brachte. Eine große und genaue Entwickelung dieser antereformatorischen Talente ist in dem Werke Ullmann's "Die Reformatoren vor der Reformation" zu finden. Dieselbe Nothwendigkeit der vorarbeitenden Talente zeigt sich bei dem glänzenden Durchbruche unserer sogenannten classischen deutschen Literaturperiode in Schiller und Goethe. Diese Genies konnten eben nur dadurch die Imperatorenstellung des Genies gewinnen und behaupten, daß ihnen eine Menge rüstiger und eifriger Talente vorangegangen waren, die nun zum Theil unter dem Schutt der Zeit begraben und vergessen liegen oder auf die man doch, wenn man sie kennt, spöttisch und achselzuckend herabzublicken pflegt. Zwar mit großem und entschiedenem Unrecht, denn von dem reinsittlichen Standpunkte aus kann das emsige und unermüdliche Streben des Talents eine weit höhere Anerkennung verlangen als die vollendende That des beinahe naturwüchsigen Genies. Wenn das Genie auf eine universell-menschliche Bedeutung Anspruch machen darf, so muß dagegen dem Talent eine historische zuerkannt werden, und unsere Zeit als die Zeit der Talente nach jeder Richtung hin wird deshalb eine tiefsinnige, historische Bedeutung anzusprechen haben. Sie ist die Zeit des tüchtigsten, des eifrigsten Strebens, des allseitigsten Anstaltmachens, um den Bräutigam der Zukunft zu empfangen. Sie arbeitet überall hin mit dem eisernsten Fleiße, und diese ungeheure Arbeit der Talente, welche vielleicht alle einmal von einem kommenden Genie verdunkelt werden und doch ihr entschiedenes Verdienst haben, hat in der momentanen Erfolglosigkeit der Arbeit eine sehr rührende Seite, aber auch eine erhebende. Die Talente der Gegenwart haben es durch ihre ungeheuern Bestrebungen und ihren unermüdlichen Fleiß dahin gebracht, daß sie die Gegensätze und Gebrechen der Zeit von allen Seiten her beleuchtet und erkannt haben und doch, weil sie eben nur Talente sind, können sie nicht Herr derselben werden und das Neue, die That, welche sie in sich tragen und als nothwendig bezeichnen, zu einer vollen, lebenden Wahrheit machen. Hier haben wir wieder die Hamletsnatur der Gegenwart, welche wir schon im Anfange des Aufsatzes angedeutet haben, hier sehen wir die Zeit mit ihren vielen Talenten vor dem Schleier der Zukunft stehen, unfähig denselben zu heben. Es fehlt das Genie, ob aber das Genie, diese Nothwendigkeit unserer Zukunft, sich einst in einem Individuum offenbaren oder ob es in der Masse erwachen wird, das ist eine Frage, die wir hier unerörtert lassen müssen.

Das Streben und die Bewegung der Zeit sind so ungeheuer, daß die Talente zuweilen über sich selbst hinauszugehen scheinen und das Genie zu anticipiren suchen. Ganz dasselbe geschah im vorigen Jahrhundert, wo der Drang nach Umgestaltung unsers Nationallebens namentlich in der Literatur ein so tiefes und allgemeines und das Bedürfniß nach genialen Thaten ein so lebendiges wurde, daß überall Scheingenies die wahrhaften Genies zu anticipiren suchten. Es braucht nur an die Geniesucht der Sturm- und Drangperiode erinnert zu werden. So treten in der Gegenwart ebenfalls eine Menge guter Talente hervor, welche sich bald für Genies ausgeben und bald auch dafür gehalten werden, bis dann immer wieder entdeckt wird, daß sie eben auch nur fleißige und feinspürige Talente sind. Sehen wir von allen übrigen Entwickelungen unserer Tage ab und behalten wir eben nur die schöne Literatur im Auge, so kann sich in ihr die Wahrheit unserer [520] Behauptung schon recht deutlich beweisen. Eine Umgestaltung unsers literarischen Lebens ist überall als nothwendig anerkannt worden und überall streben die vielen Talente unserer Literatur eine solche an, aber sie selbst hat desseungeachtet noch nicht erzielt werden können. Welche Rührigkeit hat sich z. B. auf dem Gebiete des Dramas entwickelt, es ist viel Schönes, viel Talentvolles geschehen, aber das wahrhaft geniale Drama ist noch ausgeblieben und das talentvolle ist bald von der Eitelkeit des Verfassers selbst, bald von der Kurzsichtigkeit und Einseitigkeit unserer Tageskritik als das geniale angepriesen worden. Natürlich war es am Ende immer wieder nichts mit demselben und nur das Talent konnte Anerkennung verdienen. So ist unsere schöne Literatur nicht arm an falschen Demetriussen und Sebastianen, welche den leerstehenden Thron des Genies, des "Retters der Zukunft" einzunehmen suchen, aber immer wieder herabgetrieben werden. Eins aber kann nicht geleugnet werden, daß in unserer schönen Literatur nach und nach Erscheinungen auftauchen, bei denen es sehr zweifelhaft wird, ob man ihnen den Standpunkt des Talents oder des Genies vindiciren muß. Es sind dies solche Erscheinungen, aus denen einerseits die Flamme des Genies hervorlodert, während sie andererseits wieder mit den Schwächen und Einseitigkeiten des Talents behaftet blieben, Erscheinungen, die durch ihre Ursprünglichkeit jedenfalls mehr sind als fleißiges Talent, andererseits aber auch wieder den großen Ansprüchen nicht genügen wollen, welche die Gegenwart an ein sie aus ihrem Zwiespalt erlösendes Genie macht, während sie vielleicht in einer frühern Zeit unbedingt und freudig als ein solches anerkannt wären. Diese Erscheinungen geben das deutlichste Zeugniß von der tiefen Bewegung unserer Gegenwart und werden deshalb immer eine besondere Beachtung verdienen. Sie schaffen eine Mittelstufe zwischen Talent und Genie, wie es eine solche noch in keiner frühern Epoche hat geben können, sie sind Talente, so feinspürig und so umsichtig, daß es sehr schwer wird, in der Kunst ihrer Productionen nicht die unbefangene, vollendete That des Genies zu vermuthen, oder sie sind auch wirklich Genies, denen es aber unmöglich wurde, der ungeheuern, nach allen Seiten hin ausgebreiteten und zerrissenen Bewegung Herr zu werden, und die deshalb vereinsamt in sich hineinschauen und geniale Feuerkugeln steigen lassen, da sie die Welt nicht an allen Enden in Brand stecken können. Ein solches über das Talent hinausgehende Talent ist z. B. Gutzkow in seinen dramatischen Productionen. Er versteht es, seinen Dramen eine Fassung zu geben und seine Situationen so überraschend anzulegen, seine Charaktere so aus sich selbst herauszuentwickeln, daß man sehr häufig nicht umhin kann, ihn als ein dramatisches Genie zu bezeichnen, und dennoch tritt es bei genauerer Betrachtung und Zerlegung seiner Arbeiten wieder deutlich hervor, daß sie nicht sowol aus der Unmittelbarkeit des Genies, als aus dem mühsamen, mit Schmerz und Noth verbundenen Streben des Talents entstanden sind. Umgekehrt möchten die dramatischen Productionen Hebbel's ein Genie erkennen lassen, sie tragen die volle Tiefe und Unmittelbarkeit des Genies in sich, aber sie können sich, trotz ihrer großen Natur, nicht zu der Bedeutung erheben welche das Genie anzusprechen hat, und sie bleiben stille vereinzelte Anachoreten. Diese ganz neue Stufe, welche erst die moderne Zeit zwischen Talent und Genie hervorgebracht hat, dieses Ineinanderweben des Einen in das Andere, ist aber auch erfüllt mit allen Schmerzen und Qualen der gegenwärtigen Krise, sie fühlt alle Dolche in ihrer Brust und es ist ihr weder die glückliche Beschränktheit des Talents in einem Gegensatze der Zeit noch auch die göttliche Unbefangenheit des Genies über allen Gegensätzen der Zeit gegeben.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Blätter für literarische Unterhaltung.
1845:
Nr. 129, 9. Mai, S. 517-520
Nr. 130, 10. Mai, S. 521-524
Nr. 131, 11. Mai, S. 525-527
Nr. 132, 12. Mai, S. 529-532
Nr. 133, 13. Mai, S. 533-534.

Gezeichnet: 28.

Unser Auszug: Nr. 129, 9. Mai, S. 517-520.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Blätter für literarische Unterhaltung   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#BflU
PURL: http://digital.slub-dresden.de/id390927252
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100319397
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008697234
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/501569-8

Blätter für literarische Unterhaltung   inhaltsanalytische Bibliographie
Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts - IBDK.
Band 9; 5 Teile: Blätter für literarische Unterhaltung (1826-1850 [-1898]). München u.a. 1996.

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Cimmino, Giuseppina: Gegenwart in Latenz. Verfahren und Figurationen von Präsenz in der Zeitdiagnostik des Vormärz (1830-1848). Göttingen 2022.

Eke, Norbert O. / Famula, Marta (Hrsg.): Ästhetik im Vormärz. Bielefeld 2021.

Felten, Georges: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus 1850–1900. Wallstein Verlag 2022.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Selbmann, Rolf: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt 1994.

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

 

 

Literatur: Blätter für literarische Unterhaltung

Bachleitner, Norbert: Die Aufnahme der englischen Literatur in den 'Blättern für literarische Unterhaltung' (1818-1898) In: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Amsterdam u.a. 1997, S. 99-149.

Hauke, Petra-Sybille: Literaturkritik in den Blättern für literarische Unterhaltung 1818 – 1835. Stuttgart u.a. 1972 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, 27).

Hohendahl, Peter U.: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985.

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer