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Editionsbericht
Literatur
Lyrik, lyrische Poesie; die Poesie des Inneren, oder der inneren Zustände, nämlich der Gefühle,
Anschauungen, Reflexionen, oder mit anderen Worten die idealisirende Darstellung des Inneren als dessen
unmittelbare Erscheinung durch die Sprache. Die Lyrik nimmt nämlich von einer Seite die gesammte Welt
der Gegenstände und Verhältnisse in sich auf, und läßt sie vom Inneren des einzelnen Bewußtseyns durchdringen,
von der anderen Seite aber schließt sich das in sich gesammelte und zurückgedrängte Gemüth auf, und bringt
jenes Innerliche durch Worte zur Anschauung. Indem solchergestalt der Dichter in eigener Person hervortritt,
und das innere Gefühlleben in einer individuellen Unmittelbarkeit veranschaulicht, so ist die lyrische
Poesie ihrer Eigenthümlichkeit nach subjektiv, und in ihrer Bewegung auf die Gegenwart selbst in dem Fall
angewiesen, wenn auch die Gemüthslage durch Vergangenheit oder Zukunft veranlaßt erscheint.
Der ästhetische Charakter der lyrischen Poesie begnügt sich indeß nicht mit der bloßen Subjektivität des
Dichters, in der Darstellung seiner Innerlichkeit, sondern verlangt, der fast allgemeinen Ansicht zufolge, daß die
Gemüthsäußerungen in sich selbst eine tiefere Bedeutung haben, sich über den Kreis des Gemeinen und Gewöhnlichen
zum Bewußtseyn der inneren Freiheit und Würde des Menschen erheben, und in der Sprache veranschaulicht die
möglich vollendete Form erhalten, damit sie nicht als der Ausdruck eines einzelnen Individuums, sondern gleichsam
als ideale Nothwendigkeit erscheinen, und auch der Nachwelt verständlich bleiben. Nun ist es zwar allerdings wahr,
daß die Anschauungen und Empfindungen, welche der Dichter als die seinigen schildert, wahrhafte
Empfindungen und Betrachtungen seyn müssen, für die
auch die Poesie den gemäßen Ausdruck erfindet und trifft, mithin selbst das Höchste und Tieffste des
menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens, in so fern solches sich nach der Form der Anschauung
fügt, und in die Empfindung eingeht, zum allgemeinen Inhalt der Lyrik gehört, und nur in besonderer
Weise sich ausspricht; allein ohne Zweifel ist auch Hegels Bemerkung richtig, daß, weil im Lyrischen
das Subjekt sich ausspricht, diesem Aussprechen selbst der geringfügigste Inhalt genügen kann. Es wird
nämlich alsdann das Gemüth selbst (die Subjektivität als solche) der eigentliche Gehalt, und es kommt
nicht mehr auf den näheren Gegenstand, sondern nur auf die Seele der Empfindung an, da hier
die ganze Stufenleiter der Empfindung in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen
über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht wird.
So sind alsdann die Gegenstände das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive
Auffassung und Darstellung. –
In Beziehung auf die Mannigfaltigkeit des lyrischen Gedichts entscheidet die innere Anschauungsweise des
Dichters. Das Ganze nimmt daher vom Herzen und Gemüth, und näher von der besonderen Stimmung und Situation
des dichterischen Subjekts, seinen Anfang, und so entstehen die allerverschiedensten Normen für den inneren
Fortgang und Zusammenhang, dieser Wandelbarkeit des Inneren wegen. Als Arten der eigentlichen Lyrik nennt man indeß
Hymnen, Dithyramben, Päanen, Psalmen, Oden, das Lied (mit seinen verschiedenen Unterarten), Sonette,
Sestinen, Elegien und Episteln. Uebrigens verlangt die lyrische Poesie eine bereits erworbene Bildung,
indem hier der Mensch einer geordneten Außenwelt gegenüber in sich selbst reflektirt, und wie nur in der Gesammtheit
der lyrischen Gedichte eines Dichters sich dessen inneres Leben abspiegelt, so kann auch nur in der
gesammten Lyrik eines Volks die Gesammtheit der nationalen Interessen, Vorstellungen und Zwecke, ohne an eine bestimmte
Epoche gebunden zu seyn, veranschaulicht werden. Wie aber die Empfindung im dichterischen Gemüthe nicht gleichmäßig
fortschreitet, seine innere Bewegung vielmehr wechselt, sich hebt und senkt, so soll auch im Betreff der äußeren
Form der Lyrik ein Wechsel der lebendigen Bewegung im Rhythmus herrschen, und daher ist für die Lyrik
die größte Mannigfaltigkeit der Metra, und die <vielseitigere> innere Struktur derselben mit Recht zu fodern.
Die griechische Lyrik hat den Namen von lyra, und bezeichnet ursprünglich Gedichte,
[432] die zur Lyra gesungen wurden. Ihr Gefühlsausdruck diente aber auch besonders zur anschaulichen
Schilderung der Gegenstände, und das in ihr herrschende Gefühl ist aus dem Eindrucke der Umgebungen von
einem unbefangenen Gemüth aufgefaßt und ausgesprochen. Von einer Beziehung auf das Unsichtbare, Unendliche
oder Ewige in dieser momentanen Stimmung weiß die Lyrik der Griechen nichts. Plato fand nur in den
Hymnen und Enkomien jene höhere Lyrik, die sich durch Feinheit des Gefühls, durch richtigen Takt und
durch einen ausgebildeten Sinn für alles Schöne auszeichnet. Und diese Lyrik, die ihm zufolge
aus Rede, Melos und Rhythmus besteht, nennt er vorzugsweise Musik. Die römische Lyrik beschränkt sich größtentheils
auf das Zeitalter August's, und bleibt der griechischen weit untergeordnet. –
Aus der oben entwickelten Eigenthümlichkeit der Lyrik erklärt sich zugleich ganz ungezwungen die Unzahl
der lyrischen Gedichte selbst, welche sämmtlich zu lesen wohl einen längeren Zeitraum in Anspruch
nehmen würde, als den eines Menschenalters. Es ist dieß jedoch keineswegs eine nur der heutigen Zeit
angehörige Erscheinung, vielmehr hat schon Cicero das nämliche von der seinigen bemerkt:
Negat Cicero, si duplicetur aetas, habiturum se tempus, quo legat lyricos (Senec. epist. 49).
Wie wenig die Lyrik der Römer überhaupt ausgezeichnet gewesen ist, sagt Quintilian, etwa hundert Jahre nach
Cicero, ausdrücklich: Lyricorum Horatius fere solus legi dignus. Dagegen wird von ihm Pindar
(um 500 v. Chr.) mit vollem Recht genannt: lyricorum longe princeps, spiritu, magnificentia, figuris,
sententiis, beatissimus rerum verborumque copia etc.; ein Ausspruch, den mancher seichte
Beurtheiler jenes kräftigen, tiefen und klaren griechischen Dichters beherzigen sollte.
Ausführliches über die lyrische Poesie und über ihre geschichtliche Entwickelung enthält
Hegel (Aesthet. III. S. 419-478), und treffliche Bemerkungen über die Lyrik der Griechen
H. Ulrici (Geschichte der hellenischen Dichtkst., Th. II. Berlin, 1835. 8.).
Erstdruck und Druckvorlage
Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik.
Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache.
Wien: Gerold 1843, S. 431-432.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00018126
URL: https://books.google.fr/books?id=BtdXAAAAcAAJ
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Edition
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