Text
Editionsbericht
Literatur
[95] Der Klang der Musik bahnt uns den Weg, um besonders an Göthe's lyrischen
Erzeugnissen anzudeuten, wie Alles in ihnen erlebt, empfunden, und von
des Tages Ordnung angegeben ist. Glücklicherweise haben wir fast zu allen
ihren Einzelnheiten lebendige Schlüssel der Biographie, und können das
Viele, was uns hier noch fehlen mag, durch Ahnung ergänzen.
Nach Petrarka gab keine Lyrik so viel Wahrheit für Dichtung, wie Göthe's, und Göthe übertrifft sogar Petrarka. Denn was Petrarka sang, verstand sich nur für die Situation in der er sang, und erhielt sich für sie in der Literaturgeschichte. Doch Göthe's Poesieen, meist durch ganz individuelle Erlebnisse angeschlagen, klingen auf Alles anwendbar im Volkstone fort, und sind in die Theilnahme der Masse, die freilich den Verfasser [96] nicht mehr anzugeben weiß, noch tiefer gedrungen, als die Gedichte Schiller's.
Unbefangen und heiter sind Göthe's lyrische Erstlinge. Sie adoptiren die poetische Sprache der Zeit, den Schäferton, wo Amor sich zu Damon schleicht, und dieser gute Junge, sanft die Flöte blasend, Dorilis aus ihren Träumen weckt. Luna schleicht mit Silberglanz durch Busch und Eichen, und Zephir ist der beschwingte Bote, der der Schwester Apollo's leise voranweht. Hier ist Alles klein, zart, frisch, heilig durch die Veranlassung; man nascht und tanzt mit den Amoretten, der Ernst wird vertändelt, und selbst die Empfindung scheint mehr poetisch überliefert, als von innen hervorquillend.
Jetzt kommen schon tiefer klingende Töne, das Versmaaß ist länger
ausgehalten, der Dichter sehnt sich nach der ersten Liebe, und
[97] sieht die Unschuld in Nebel gehüllt von ihm wegfliehen. Plötzlich
bricht ein schreiender Akkord in diese Modulationen. In dem Gedichte
Abschied friert dem Dichter das Wort auf dem Munde zu Eis. Jetzt weht
eine schneidend kalte, aber unübertrefflich wahr und schön gefühlte
Resignation durch eine Empfindung, die zwar feiert, ausruht und
verachtet, trotz alles Stoicismus aber doch vom tiefsten Schmerze
durchschnitten ist. Der Dichter begründet sein philosophisches
Evangelium mit einer Ironie, die uns Thränen in das Auge, und um den
Mund zu gleicher Zeit ein Lächeln jagt. Tiefe Stille herrscht in des
Schiffers Herzen, die Stille nach überstandenem Sturm; auf der ungeheuren
Weite regt sich keine Welle mehr; er steht am Mast, leicht hingelehnt
und pfeift seine Maxime der Gleichgültigkeit: Sehe jeder wie er's treibe!
Und
[98] doch kömmt zuweilen wieder eine Ermattung über ihn, er kann der
Ermunterung: "lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer
da," nicht die siegreiche Kraft des Trostes abgewinnen, und schleudert
seinen ungeheuern Groll in reimlosen Dithyrambenquadern von einer Höhe
des Parnaß herab, wie sie nie wieder erstiegen ist.
Da faßt ihn eine frische Neigung, hinreichender Ersatz für die Lücke, eine Neigung mit mehr Zärtlichkeit als Liebe. Und diese haucht in Liedern aus, die nicht so melancholisch sind, wie die vorangegangenen, auch nicht mehr so allgemein sehnsüchtig, und in der Geliebten nur die Liebe liebend, sondern rasch, klug, besorgt, angemessen Ort und Stunde. Wer erlebte dies nicht! Du scheitertest schon oft mit deinem Herzen, du hast die Liebe schon als Kunst, dein Benehmen ist ein Hand[99]griff der Verführung, und dennoch sehnt sich die letzte Abendröthe weichender Unschuld nach dem Zauber der Natur noch einmal zurück, nach einer wahren und ächten Empfindung, die uns, von unserm Herzen ausgeschlossen, zu gewinnen kaum noch möglich schien, und sich in den schmelzendsten Tönen offenbaret. So in diesen Liedern Göthe's. Die Liebe mäßigt sich, da sie wohl aus Erfahrung weiß, daß man in ihr nichts überstürzen und keine Genüsse zeitigen, und zu rasch abschlürfen soll, und trotz dieses Raffinements wird der Dichter mit recht frischem Herzen noch einmal wieder naiv und munter, ein Bär, den Lillis Menagerie bis zum Murmelthiere zähmte. War die Natur früher die Anknüpfung einer ungestillten Sehnsucht, war sie früher nur die Vertraute des Liebenden, so ist sie jetzt lebendig geworden und Leben schaffend, sie öffnet [100] ihre Mannigfaltigkeit einem Auge, das sich Aehnlichkeiten ihres Glückes sucht, ihre Situationen ordnen sich vor dem beruhigten sinnenden Dichter, fremde Zustände locken seine behagliche Betrachtung, und die poetische Form wird eine neue, die Ballade.
Erstdruck und Druckvorlage
Karl Gutzkow: Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte.
Berlin: Verlag der Plahn'schen Buchhandlung 1836.
Unser Auszug: S. 95-100.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015014807070
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000281C400000000
URL: https://archive.org/details/uebergimwendepu01gutzgoog
URL: https://books.google.fr/books?id=smVKAAAAYAAJ
Kommentierte Ausgaben
Editionsprojekt
Literatur
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Calvié, Lucien: Karl Gutzkows "Vergangenheit und Gegenwart. 1830-1838":
Politik, Literatur und Hegelianismus
In: Heine-Jahrbuch 61 (2022), S. 171-194.
Cimmino, Giuseppina: Gegenwart in Latenz.
Verfahren und Figurationen von Präsenz in der Zeitdiagnostik des Vormärz (1830-1848).
Göttingen 2022.
Eke, Norbert O. (Hrsg.): Vormärz-Handbuch.
Bielefeld 2020.
Kopp, Detlev u.a. (Hrsg.): Goethe im Vormärz.
Bielefeld 2004 (= Forum Vormärz Forschung, Jg. 9, 2003).
Lauster, Martina: Vom Körper der Kunst.
Goethe und Schiller im Urteil Heines, Börnes, Wienbargs und Gutzkows (1828 – 1840).
In: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 187-201.
Lukas, Wolfgang / Schneider, Ute (Hrsg.): Karl Gutzkow (1811 1878).
Publizistik, Literatur und Buchmarkt zwischen Vormärz und Gründerzeit.
Wiesbaden 2013 (= Buchwissenschaftliche Beiträge, 84.
Mandelkow, Karl R.: Goethe in Deutschland.
Rezeptionsgeschichte eines Klassikers.
Bd. 1: 1773 - 1918.
München 1980.
Meyer, Anne-Rose: Jeune France und Junges Deutschland.
In: Deutsch-französischer Ideentransfer im Vormärz.
Hrsg. von Gerhard Höhn u.a.
Bielefeld 2002 (= Forum Vormärz Forschung; Jahrbuch 2002, 8. Jg.), S. 115-140.
Peitsch, Helmut: "Die Literaturgeschichte ist die große Morgue,
wo jeder seine Todten aufsucht,
die er liebt oder womit er verwandt ist".
Zur jungdeutschen Literaturgeschichtsschreibung.
In: Passagen. Literatur – Theorie – Medien.
Festschrift für Peter Uwe Hohendahl.
Hrsg. von Manuel Köppen u.a.
Berlin 2001, S. 165-198.
Rasch, Wolfgang: Bibliographie Karl Gutzkow (1829 - 1880).
2 Bde. Bielefeld 1998.
Rasch, Wolfgang (Hrsg.): Karl Gutzkow.
Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen.
Eine Dokumentation.
Berlin u. New York 2011.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie,
Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Steinecke, Hartmut: Literaturkritik des Jungen Deutschland.
Entwicklungen – Tendenzen – Texte.
Berlin 1982.
Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.
Trobitz, Norbert: Der Literaturkritiker Karl Gutzkow.
Diss. Düseldorf 2003.
URL: https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=2599
Vonhoff, Gert (Hrsg.):
Karl Gutzkow and His Contemporaries /
Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen.
Beiträge zur internationalen Konferenz des Editionsprojekts
Karl Gutzkow vom 7. bis 9. September 2010 in Exeter.
Bielefeld 2011
Vonhoff, Gert: 'Correlation' als Signum der Moderne.
Zu Gutzkows Frühwerk mit besonderer Berücksichtigung
der Beiträge zur Geschichte der neuesten
Literatur (1836).
In: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk.
Literarische Intermedialität 1815-1848.
Hrsg. von Stefan Keppler-Tasaki u. Wolf Gerhard Schmidt.
Berlin u.a. 2015, S. 423-440.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer