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Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Lenau
Literatur: Allgemeine Literatur-Zeitung
Der Vf. dieser Gedichtesammlung gehört, wenigstens seinem poetischen Charakter nach, offenbar einer ältern Aera unserer Literatur. Dies bewei[295]sen diejenigen seiner Lieder am augenfälligsten, in welchen er sich als Naturdichter zeigt; dies beweist auch die auffallende Erscheinung, daß ihm die Ironie, das Characteristicum unserer Zeit, völlig fremd geblieben ist. Die Naturpoesie unserer Dichter vorigen Jahrhunderts besteht wohl größtentheils darin, daß sie entweder eine Reihe von Naturerscheinungen aufzählen, welche weder durch Empfindung, noch durch Situation in einen lebendigen Verband gebracht sind; oder sie ziehen eine Parallele zwischen irgend einer Erscheinung des Menschenlebens und einer correspondirenden Erscheinung aus der Natur. Allein weder jene sterile Enumeration, noch dieser blos verständige Parallelismus dürfte, streng genommen, künstlerische Darstellung zu nennen seyn. Die wahre Naturpoesie muß unseres Bedünkens die Natur und das Menschenleben in einen innigen Conflict bringen, und aus diesem Conflicte ein drittes Organischlebendiges resultiren lassen, welches ein Symbol darstelle jener höhern geistigen Einheit, worunter Natur und Menschenleben begriffen sind. Diese Gestaltung der Naturpoesie scheint unserer Zeit vorbehalten und auf eine merkwürdige Weise mit der charakteristischen Ironie der neuesten Poesie überhaupt zusammenzuhängen. Scheint es doch, als ob gerade die ironische Auffassung des Menschenlebens, und ihre schmerzliche Nichtbefriedigung das Herz des Dichters näher zur Natur dränge, um in einem innigeren Verkehre mit derselben die ideale Befriedigung zu suchen, welche in der einseitigen Dissonanz der Ironie nimmer zu finden ist.
Als belegendes Beispiel jener sterilen Enumeration führen wir an das Gedicht: "Frühlingslied" S. 16. Hier werden eine Menge freundlicher Naturerscheinungen je vier und vier in jeder Strophe aufgezählt, und nach jedem Doppelpaar wird gesagt, daß dies Alles recht schön sey. Durch eine solche Aufzählung wird die Natur für den Leser getödtet, und das vermeintliche Poem ist nichts, als ein wohlgereimtes Inventar über die Verlassenschaft der Verblichenen. – Das Gedicht: "Die Thränen" S. 53. ist ein Beispiel jener Naturpoesie, die sich in bloßen Verstandes-Parallelen bewegte. Die vom Sonnenbrande durchglühte Erde findet Linderung und Erquickung im wohlthätigen Regen; das von Schmerzen durchglühte Menschenherz findet die seinige in den wohlthätigen Thränen.
Glücklicher ist der Vf. wo er das Menschenleben zum Vorwurfe seiner Gedichte nimmt, und [296] er hat in dieser Sphäre manches wahrhaft schöne Lied gesungen. Vorzüglich haben uns angesprochen: "Traum der Liebe" S. 10, bei welchem Liede wir nur zu bedauern finden, daß es nicht mit der vierten Strophe schließt, indem uns die folgenden als lähmende Erläuterung erschienen sind; ferner: "Abschied" S. 19; – "Wünsche" S. 32, ein liebenswürdig naives Lied. Eines der schönsten Lieder dieser Sammlung nennen wir: "der geliebte Name" voll wahren Gefühls und überaus glücklichen Wohlklanges im Vers. – "Der gefangene Schmetterling" S. 43 ist ein vortreffliches Lied, in welchem der ominöse Schluß mit der lieblich lebhaften Schilderung der Ungeduld des gefangenen Schmetterlings zu einem sehr angenehmen parabolischen Effekte verschmilzt. – "Spinnerliedchen" S. 75. – "Des Jägers Lust und Leid" S. 91 u. flg. nennen wir ebenfalls mit Auszeichnung. – Je individueller und concreter die Situation ist, welche der Vf. aus dem Leben wählt, je gelungener wird auch sein Gedicht. Wo die Beziehung eine blos allgemeine ist, vermissen wir die lebendige Lokalfarbe. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Vf. eine Lehre ausspricht, in dem Gedichte: "Glück" S. 18, oder eine psychologische Thatsache in: "Stürmische Nacht" S. 41; oder allgemeine altbekannte Reflexionen über die "Liebe" S. 82.
Die Romanzen und Balladen dieser Sammlung sind weniger bedeutend, als die Lieder. Die Sprache, die alles bildlichen Schmuckes entbehrt, eignet sich wohl zur unmittelbaren Darstellung, wie sie im Liede gefodert wird, nicht aber zur epischen. – Hierauf folgen Epigramme und Gnomen, dann Sprüche, in welchen viel Sinnreiches oft sehr präcis gesagt ist. Den Schluß dieser Sammlung bilden "Vermischte Gedichte" von welchen die Anakreontischen Lieder S. 254 u. flg. schön zu nennen sind.
Resumiren wir die Eindrücke, die uns bei Durchlesung dieses Buches geworden, so müssen wir dem Vf. ein achtungswerthes Talent für das Lyrische, namentlich für das Lied zuerkennen. Wahre Empfindung, die höchst selten an das Weichliche streift, glücklicher Sinn für poetisch brauchbare Situationen, und bedeutende Formgewandtheit sind die Vorzüge dieses Talentes. – Die Ausstattung des Werkes in Druck und Papier, mit geschmackvoller Vignette, ist zu empfehlen.
Erstdruck und Druckvorlage
Allgemeine Literatur-Zeitung.
1834, Bd. 2, Nr. 113, Juni, Sp. 294-296.
Ungezeichnet.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
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Verzeichnisse
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Stock, Karl F. / Heilinger, Rudolf / Stock, Marylène:
Personalbibliographien österreichischer Dichterinnen und Dichter.
Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Bd. 2. 2. Aufl. München: Saur 2002.
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Nr. 212, 4. September, Sp. 1693-1696
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Nr. 214, 6. September, Sp. 1710-1712
Nr. 215, 7. September, Sp. 1718-1720
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Kap. 3: Literaturkritik mit Lessing und Kant.
Die Allgemeine Literatur-Zeitung.
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