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Editionsbericht
Literatur
DICHTUNGSARTEN.
Die Quelle aller Poesie entspringt aus den ästhetischen
Anlagen des menschlichen Gemüths, Einbildungskraft und
Gefühl, und durch diese wirkt sie auf alle Vermögen des
Gemüths, die sie sämtlich in Anspruch <nimmt>. Was sie auch
darstelle, so hat sie es nicht nur in einer malerischen und
musikalisch-harmonischen Sprache darzustellen, sondern in Beziehung
auf die Gemüthswelt, und dies ist allezeit die Hauptsache. Ohne
sie fehlt der Poesie die <Seele>, die sich durch keine noch so
schöne äußere Form ersetzen läßt. Alle
urspünglichen und wesentlichen Anlagen der menschlichen Natur
machen die menschliche Gemüthswelt aus, und es gehören also
dazu: Sinnlichkeit, Erkenntniß- und Denkvermögen,
Gefühl, Begehrungs- Strebungsvermögen, und dieses in
höchster Potenz: Wille.
Mit den Vorstellungen, welche durch jedes
dieser Vermögen zum Bewußtseyn gelangen, hat es nun zwar
die Poesie überhaupt zu thun; allein sie kann auch die
Gegenstände eines jeden dieser Vermögen insbesondere darstellen, und
hienach zerfällt sie in verschiedene Klassen, welche man
Dichtungsarten zu nennen pflegt, von denen jede etwas Eigenthümliches
haben muß, ohne den allgemeinen Gat[509]tungscharakter zu
verlieren. Wenn man sich über die Anzahl dieser Dichtungsarten
und den eigenthümlichen Charakter einer jeden bis zu dieser
Stunde noch nicht hat vereinigen können, so lag dies blos daran,
daß man das richtige Eintheilungsprincip nicht gefunden
hatte. Dieses aber ist das ursachliche Verhältniß, in
welchem das Darstellen zu dem Auffassen
des einem jeden Gemüthsvermögen zukommenden
Gegenstandes im Vorstellungsvermögen
steht.
Gegenstand der Sinnlichkeit ist die äußere
Welt, die Natur als Erscheinung. Dieser kann nur aufgefaßt
werden in der Anschauung;
alles aber dieser gemäß (als Bild) Vorgestellte,
kann nur dargestellt werden durch Beschreibung.
Gegenstand des Denk- und Erkenntnißvermögens ist die durch Bildung von
Begriffen und Ideen, Urtheilen und Schlüssen und deren
gesetzmäßige Verbindung zu ermittelnde Wahrheit. Wahrheit,
als Ergebniß des Denk- und Erkenntnißvermögens, kann
nur dargestellt werden in Gemäßheit der zur Erkenntniß
derselben nothwendigen Verbindung von Vorstellungen, in
zusammenhängenden, genau und richtig gefolgerten,
Gedankenreihen. Durch
deren Mittheilung lehrt man. Eine
Darstellung von Vorstellungen zu dem Zwecke der Erkenntniß einer
Wahrheit wird daher lehrend – auch belehrend – seyn.
Gegenstand des Gefühls sind die Zustände
des Gemüths selbst. Diese lassen sich nicht anders darstellen als
durch den Ausdruck der durch das Gefühl erregten Vorstellungen
und deren eigenthümlichen Gang.
Gegenstand des Begehrungs-
Strebungsvermögens, des Willens, ist im Allgemeinen jeder
Zweck, auf dessen Erreichung eine
Absicht gerichtet ist,
und zu dessen Erreichung Mittel angewendet werden müssen.
Die Ergebnisse dieses
Vermögens werden nur herbeigeführt durch
Handlung, und
Streben und Wollen offenbart sich uns nur durch
Handeln. Hieraus
folgt, daß alles, was hievon dargestellt werden soll, nur
dargestellt werden kann nach den Vorstellungen, wie wir es von dem
Streben und Wollen durch die Äußerung
desselben, das Handeln
erhalten haben. Diese Darstellung muß daher pragmatische Geschichte
seyn.
Eine solche kann nun aber dargestellt werden entweder als
eine vergangene,
und dann muß die Darstellung erzählend
seyn, oder als in der Gegenwart sich ereignend, und dann
läßt sie sich nur auffassen durch Anschauen der Handlung
selbst, und nur dadurch darstellen, daß die Handlung zur Anschauung
selbst gebracht wird.
Hieraus ergeben sich als die einzig
möglichen Dichtungsarten: 1) die beschreibende (malerische,
pittoreske), 2) die didaktische, 3) die lyrische, 4) die epische und
5) die dramatische. Innerhalb des Kreises jeder dieser Dichtungsarten
ist eine große Mannichfaltigkeit von poetischen Formen
möglich. Diese machen nicht selbst Dichtungsarten
aus, bedingen aber Unterarten und Spielarten, deren es in der
antiken und modernen Poesie viele gibt. – Das Ausführlichere
sehe man in den Artikeln, welche die einzelnen Dichtungsarten selbst
behandeln.
Erstdruck und Druckvorlage
Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste
in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern
bearbeitet und herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber.
Erste Section. Vierundzwanzigster Theil. Leipzig: Brockhaus 1833,
S. 508-509.
Gezeichnet: H.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste online
URL: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN345284054
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007923388/Home
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Allgemeine_Encyclopädie_der_Wissenschaften_und_Künste_(Digitalisate)
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer