Text
Editionsbericht
Literatur
Lyrische Poesie der vollendete Ausdruck einer Empfindung oder Anschauung
im höchsten Wohlklange der Sprache. Ihr Charakter ist idealisirte Darstellung
(Objectivisirung) bestimmter subjectiver Gefühle (als des Stoffes) in der Totalität
einer vollendeten ästhetischen Form. Jene individuellen Gefühle aber sind nach
ihrem Zusammenhange mit den höchsten Idealen der Menschheit geläuterte und rein
menschliche Gefühle, so daß der lyrische Dichter keine Rolle hat, seine
Person verschwindet, da durch ihn die Muse singt, und daß sich jedes gebildete
menschliche Individuum in der
[763] Darstellung der Gefühle, als der seiner eignen, wieder erkennt. Daher kann
in der l. P. die ganze Unermeßlichkeit des Gefühlvermögens ausgedrückt
werden, und dadurch wird der l.n P. die höchste Wirkung auf das Gefühl, die tiefste
Bewegung und Rührung desselben gesichert. Die l. P. ist unter allen Arten
der Poesie die reinste, unmittelbarste, gleichsam die Musik der Poesie, daher auch
unter allen am Geeignetsten für die Begleitung der Tonkunst, mit der sie in den
frühesten Zeiten immer Hand in Hand ging, daher auch ihr Name, von der begleitenden Lyra.
Begeisterung wird bei dem lyrischen Dichter in vorzüglichem Grade vorausgesetzt.
Dadurch entstehen große, erhabene, ungewöhnlich lebhafte Vorstellungen, Bilder
und Gefühle, die sich dem Gedichte selbst mittheilen und lyrischer Schwung
genannt werden. Eben diese Stärke der Leidenschaft und die ausschließende
Richtung der Seele auf sie allein macht es dem lyrischen Dichter unmöglich, an eine
absichtliche regelmäßige Form seiner Gedanken, Bilder und Ausdrücke zu denken;
daher die lyrische Unordnung, die aber mehr scheinbar als wirklich ist, weil die
Ordnung und Gedankenreihe der begeisterten Phantasie doch immer dabei wirksam ist und zu Grunde liegt.
Alle lyrischen Producte tragen den gemeinschaftlichen Charakter, daß in ihnen der
unmittelbare und reine Ton des subjectiven Gefühls ist; aber dieser Ton kann als Ton der Freude
bis zur höchsten Stufe derselben, zum Ausdruck des Entzückens, und als Ton der Traurigkeit
bis zur höchsten Steigerung derselben in der tiefsten Wehmut, nach sehr verschiedenen
Graden des Schwunges dieses Gefühls, schattirt werden. Diese Schattirungen in dem Tone
des ausgedrückten Gefühls bestimmen den Charakter der einzelnen Untergattungen der
lyrischen Form. Diese sind: Lied, Ode, Hymne, Dithyrambos, Cantate (lyrische Gedichte
im engern Sinne); Elegie, Heroide (lyrisch-elegische Gedichte); das lyrische
Lehrgedicht (lyrisch-didaktische Gedicht, s. Lehrgedicht). Nur prosodische Formen, die bald einen
rein lyrischen, bald einen lyrisch-elegischen, bald einen lyrisch-didaktischen,
oft sogar einen epischen Charakter haben und daher mit Unrecht als selbstständige
lyrische Unterarten aufgeführt werden, sind: Sonnet, Bout rimés, Madrigal,
Rondeau, Triolet, Sestinen, Stanzen (s. d. a.). –
Wie bei allen Nationen, war auch bei den Hebräern die l. P. die älteste,
s. Hebräische Literatur, so wie Griechische Literatur und Römische Literatur und so
die Literatur der einzelnen alten und neuen Völker. Was das lyrische Metrum betrifft, so war, weil
dem alten Lyriker besonders der Gesang eigen ist, ihm, bei der größten Freiheit
im Gebrauche mannigfaltiger Versarten, um der Wiederkehr einer gleichen musikalischen
Weise willen, doch eine bestimmte Gestaltung
aller einzelner Theile Aufgabe. Nur wo der einzelne Vers schon an und für sich ein rhythmisches
Ganzes ausmachte, konnte der Lyriker bei einerlei Versart bleiben. Sonst werden
2 oder mehr Verse zu Systemen oder Strophen verbunden, deren Anordnung desto freier und
kühner zu sein pflegt, mit je höherm Schwung der Dichter seine Empfindungen
ausspricht. Doch bleibt, bei aller Mannigfaltigkeit der Strophen, Einheit des Rhythmus
in der Mannigfaltigkeit der Form Gesetz. Dem Lyriker steht der Gebrauch jeder Versart frei;
aber darin zeigt sich eben sein Kunstgefühl, wenn er überall die passendste wählt.
Wie die trochäischen Rhythmen sich mehr zum gelassenen Gange des Liedes eignen, so
entsprechen die daktylischen und choriambischen mehr dem feierlichen Aufschwunge
der Ode. Päonische u. andere kühnere Rhythmen bleiben dem stürmischen Hinrollen erhabner
Hymnen und Dithyramben überlassen.
Letztere waren bei den Griechen an keinen bestimmten Rhythmus gebunden und schienen,
ohne alle Abtheilung in Strophen, gesetzlos dahin zu rollen. Die Hymnen und
Chorgesänge aber, mit welchen auch die Tragödien (und Aristophanes Komödien)
untermischt zu werden pflegten, bestanden meist aus längern Strophen (Wendungen)
und Antistrophen (Gegenwendungen) von gleichem Maße, womit auch wohl
Prooden (Vorgesänge), Mesoden (Zwischengesänge) oder Epoden (Nachgesänge)
von verschiedenem Maße bei gleichem Grundrhythmus wechselten.
Die einzelnen Verse lyrischer Gedichte werden nur als Glieder und Einschnitte
eines größern Ganzen betrachtet und daher Kola (Strophenglieder,
s. Kolon) genannt. Nach der Anzahl dieser Kola werden die Strophen,
wie die Verse, nach der Anzahl ihrer Metren (Versglieder) bestimmt;
doch Verse gleicher Art, die nach einer Melodie gesungen werden,
galten nur als Ein Kolon. Vgl. die eben erwähnten Namen, so wie Dikolon,
Trikolon, Monokolon, Distichon u. Aehnl.
Erstdruck und Druckvorlage
Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe,
bearbeitet von mehreren Gelehrten, herausgegeben von H. A. Pierer.
Zwölfter Band: Kteatos Lyttos.
Altenburg: Literatur-Comptoir 1829, S. 762-763.
Gezeichnet: Sch.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10401481-1
URL: https://books.google.fr/books?id=oyJCAAAAcAAJ
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Pierer online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Universal-Lexikon_der_Gegenwart_und_Vergangenheit
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Edition
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