Wolfgang Menzel

Die deutsche Literatur

 

 

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[243] Wir wollen zu den einzelnen Gattungen der Poesie übergehn, und Lyra, Epos und Drama besonders betrachten. Jede dieser Gattungen hat bei uns geherrscht, heute mehr die eine, morgen die andre; alle sind nach allen möglichen Seiten ausgebildet worden, und selbst nicht wenige einzelne Dichter haben sie alle zugleich behandelt, am universellsten unter allen übrigen Göthe. Homer war nur Epiker, Anakreon und Pindar waren nur Lyriker, Äschylos und Sophokles nur Dramatiker, unsre modernen Dichter sind aber gern und leicht alles in allem. Woher dies komme, haben wir schon oben erörtert.

Man kann in unsrer neuern Poesie einen Übergang vom Lyrischen durchs Dramatische zum Epischen unterscheiden, doch ohne dabei die Gränzen allzuscharf zu ziehn. Anfangs hat unstreitig die lyrische Poesie das Übergewicht gehabt. Die schlesische Schule, bis auf welche man zurückgehn muß, war vorzugsweise lyrisch, so nachher die Schule von Haller, Gleim, Uz, Hagedorn etc., und die von Klopstock, Voß, Stollberg etc. Dann bemächtigte sich der Deutschen die Theaterwuth, und nach dem Vorgange Lessing's begründeten Schiller und Göthe, Iffland und Kotzebue die dramatische Periode, ungefähr in derselben Weise, wie auf die Arien, Symphonien und Oratorien in der Musik die Opern, auf Bach und Händel Mozart folgte. Jetzt aber sind wir vorzugsweise episch geworden in jener Sündfluth von Romanen, welche [244] die schöne Literatur gänzlich unter Wasser zu setzen droht.

Dieser Übergang ist sehr natürlich. Wenn man auch nicht behaupten darf, daß er der ursprünglich nothwendige Gang sey, den die Poesie jedes Volks, oder überhaupt des menschlichen Geschlechts nehmen müsse, so ist er doch für unser Volk und unsre Zeit nothwendig geworden. Die Poesie des Menschengeschlechts hat mit einer rein epischen Symbolik begonnen, und aus dieser objectiven Weltpoesie hat sich allmählig erst die subjective Lyrik entwickelt, so wie der Mensch selbst immer freier und selbständiger geworden ist. Jene älteste Poesie gieng aus einer harmonischen, gläubigen Weltansicht hervor, die neue Poesie der Deutschen dagegen aus einer zerrißnen, völlig disharmonischen und ungläubigen Ansicht der Dinge. Dort gieng man vom Ganzen zum Einzelnen über, und von dem Äußern zum Innern, vom objectiven All zur subjectiven Persönlichkeit. Das alte mythische Epos zerfiel in Dramen, und diese wieder in lyrische Charaktere, wie aus der Theokratie die Heldenkämpfe, und aus diesen die bürgerliche Freiheit hervorgieng. Äschylos begann den Homer ins Drama zu übersetzen, und Anakreon löste wieder die lyrischen Tiraden aus den Stücken des Euripides, wie Blüthen vom Baume los, und ließ sie als lyrische Blätter frei herumfliegen. Eben so löste sich aus dem alten Tempelbau die Statue los und trat frei und stolz in die Mitte der heiligen Hallen, wie der Mensch [245] in die Mitte der Schöpfung, aus deren Schooß er sich endlich losgerungen. Dies war der ursprungliche, natürliche Gang aller menschlichen, mithin auch der poetischen Entwicklung. Die neuere Poesie nimmt aber den umgekehrten Gang. Sie ist wesentlich eine Restauration und Reorganisation aus völlig aufgelösten anarchischen Elementen. Jene älteste Poesie, immer mehr sich zertheilend, zersetzend löste sich im römischen Zeitalter endlich völlig auf und gieng in fauligte Gährung über, bis nur dürre Knochen zurückblieben und auch diese zuletzt in Staub zerfielen. Da begann im christlichen Mittelalter der erste große Reorganisationsproceß, und eine neue Poesie schlug ihr großes Blüthenauge gegen den Himmel auf. Aber auch diese Blüthe welkte wieder, trug nur eine herbe Frucht in der didaktischen, spießbürgerlichen und satyrischen Zeit kurz vor und nach der Reformation, schrumpfte vollends elend zusammen und fiel in den Koth jener großen Heerstraße, welche die Nachbarn im dreißigjährigen Kriege durch Deutschland zogen. Zum zweitenmal aber reorganisirte sich die Welt, und in dieser Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun, daß die neue Poesie aus einer allgemeinen Auflösung sich reorganisiren mußte, so versteht es sich von selbst, daß sie nicht wie die Urpoesie des Geschlechts von einem Ganzen ausgehend sich ins Einzelne verbreiten konnte, sondern umgekehrt vom Einzelnen in concentrischer Richtung wieder ein Ganzes suchen mußte. In einzelnen Menschen mußte wieder ein poetisches [246] Gefühl zu dämmern anfangen, wie im fauligen Schlamme das neue Leben in Infusorien zu dämmern beginnt, und die ersten Dichterschulen mußten sich in der Empfindung, in einem dunklen Ahnen, in einem gewissen poetischen Mesmerismus zusammenfinden, bevor sie den höhern Sinn für alles Schöne entfalten konnten, wie die organisirende Natur die Oberfläche des Lebermeers, worin die Keime künftiger Schöpfungen noch chaotisch durcheinander gähren, zuerst mit der Pristhleyschen grünen Materie, mit breiweichen Wasserpflanzen und Schaaren von reizbaren und phosphorescirenden Wasserthieren bedeckt, bevor die höhern Organismen vielgestaltig an das Licht reifen. So sehn wir jene lyrischen Dichter von Opitz bis Voß, wasserreich und doch lebendig sich fühlend, und nicht wenig leuchtend in der alten Hexennacht, die neue Entwicklung der Poesie beginnen. Ihnen folgen dann bald höhere, freiere, edlere Gestalten, und ein neues Paradies tritt sonnenhell aus der Nacht und über dem kalten prosaischen Gewässer hervor. Was in der Lyra zuerst sich nur gefühlt, wird frei im Drama, und ordnet sich harmonisch zum Ganzen im Epos. Es liegt etwas Rührendes in den ersten leisen Anfängen der jetzt so mächtig gewordnen Poesie, wie etwa in der gleichzeitigen und eben so raschen Entwicklung der bürgerlichen Freiheit in Nordamerika; und herzerhebend ist der Gedanke, daß wir in einer Zeit des Blühens und Frühlings, nicht des Welkens leben, daß wir aufwärts, nicht nieder steigen. Mö[247]gen wir uns über die Richtung nicht täuschen, in der wir begriffen sind. Der Winter liegt hinter uns, nicht vor uns. Sendet er uns noch Aprilschauer und Maifröste, sie halten den großen Gang der Natur nicht auf. Welken die Wurzelblätter und fallen ab, die noch nicht aufgeschoßne Krone wird desto schöner sich entfalten.

Gehn wir nun von der Lyrik aus, so müssen wir derselben, zufolgte des eben Gesagten, eine allgemeine Bedeutung für die Entwicklung unsrer Poesie überhaupt zuerkennen, und sie auch darnach, nicht blos nach ihrem besondern, gleichsam specifischen Werth und Gewicht beurtheilen. Wollten wir nur das letztere berücksichtigen, so würden wir die meisten ältern Lyriker als unbeholfene Anfänger beseitigen und sie den meisten neuern unbedingt nachstellen müssen. Sehn wir aber auf jene allgemeine Bedeutung, so erhalten auch die schlechtern Lyriker der ersten Periode einen Vorrang vor den meisten weit bessern der gegenwärtigen Zeit, und das Publikum ist gerecht genug, dies anzuerkennen. Es achtet noch immer einen Opitz, Flemming, Haller, sogar Gleim, Kleist, Hölty, obgleich die neueste Lyrik sie sehr weit an ästhetischem Gehalt übertrifft. Man denkt doch immer, jene Leute haben das angefangen, was diese nun leicht und glücklich fortsetzen.

Die lyrische Poesie hat nicht nur das neue goldne Zeitalter begonnen, sondern auch fortwährend darin einen vorzüglichen Rang behauptet. Ja die größten [248] unsrer neuern und neuesten Dichter waren zugleich Lyriker, vor allen Schiller und Göthe. Man darf behaupten, daß wir Deutsche mehr als irgend ein andres Volk von Natur schon lyrisch gestimmt sind. Man spricht immer vom deutschen Herzen. Unsre Lyrik bestätigt das Daseyn dieser überwiegenden Gemüthskraft. Schon die ältesten Denkmale der germanischen Vorzeit erwähnen unsrer Bardengesänge, im Mittelalter blühte ganz Deutschland in einem einzigen großen lyrischen Frühling, und jetzt bringt wieder jedes Jahr viele tausend Lieder. Eigentlich ist der Faden der lyrischen Poesie in Deutschland nie ganz abgerissen, wenn auch allerdings verdünnt worden. Wir waren immer Gefühlsmenschen, und Lyrik ist die erste und einfachste Sprache des Gefühls. Unsre lyrischen Gedichte sind gleichsam Zinsen eines unermeßlichen Capitals von Gutmüthigkeit und Herzlichkeit, das uns unter allen Umständen treu geblieben ist.

Lyrik ist die Poesie der Jugend, und die deutsche Jugend hat von jeher mehr als irgend eine andre geschwärmt. Das Gefühl fließt über, und es ist diesen jungen Dichtern wahrscheinlich mehr darum zu thun, zu singen, als gehört zu werden. Wie die Vögel im Frühjahr, zwitschern sie auf allen Zweigen und scheinen gar nicht zu wissen, daß ihrer so viele tausende sind und daß sie doch immer nur das alte Lied singen. Es drängt sie einmal, ihre Stimme hören zu lassen, und die meisten verstummen wieder, [249] wenn der Frühling des Lebens vorüber ist. Daher die ungeheure Masse von lyrischen Dichtern und die Ähnlichkeit ihrer Lieder. Warum sollten sie auch die unschuldige Freude nicht haben, blühen doch auch viele tausend Blumen nebeneinander. Wenn sie nur nicht alle auf Unsterblichkeit Anspruch machen, so kann niemand etwas dagegen haben. Im Mittelalter war es auch schon so. Auch damals sangen unzählige Dichter und über dieselben Gegenstände. Wir können die Minnesänger nicht einzeln betrachten, es war ein ganzes Volk.

Es ist noch dieselbe Gemüthskraft, die damals zum Gesange trieb, wie jetzt, nur scheint sie damals mehr der Natur vertraut und gesunder gewesen zu seyn, jetzt ist sie mehr in Reflexionen verkümmert, und oft krankhaft. Die Begeisterung wird, statt aus der Natur, oft aus Büchern geholt, sie ist oft gelehrt, erkünstelt, überfeinert. Doch im Allgemeinen schlägt immer wieder die gesunde Natur vor.

Die lyrische Poesie drückt allgemeine Stimmungen des Gefühls aus, oder Gefühle bei besondern Gelegenheiten, die sich jedoch mehr oder weniger immer auf einen herrschenden Grundton im Gemüth zurückführen lassen. Es giebt im Allgemeinen nur vier solche vorherrschende Stimmungen des Gefühls, denen auch die Hauptarten der lyrischen Gedichte entsprechen. Sie richten sich nach den Temperamenten. Die sanguinische Stimmung bringt die heitern, fröhlichen Lieder, die cholerische die trotzigen, krie[250]gerischen, die melancholische die sentimentalen, sehnsüchtigen, klagenden, die phlegmatische die zufriednen, idyllischen Lieder hervor. Der Gegenstand der erstern ist vorzüglich Liebe, Lust und Wein, der zweiten Vaterland, Ehre, Freiheit, Krieg, der dritten die klagende Liebe, Tugend, Religion, der letzten die Landschaft, das Stillleben, die Familie. Der Form nach entspricht der ersten vorzüglich das gesellige Lied, der zweiten die Ode und Dithyrambe, der dritten die Elegie und der Hymnus, der vierten die poetische Erzählung, die mahlerische Schilderung.

Die sanguinischen Lieder der Lust und des frohen Genusses sind ausserordentlich zahlreich, aber sie fallen gleich den Lustspielen allzuoft ins Süßliche, Sentimentale, oder ins Gemeine, wenn ich so sagen darf, Gefräßige, oder ins Spielende bis zur Albernheit. Der eine Dichter, besonders aus der Schule Gleim's, Mathisson's, Tiedge's etc. erinnert sich mitten in der Lust an irgend eine langweilige Tugend, die ihn schulmeisterlich zur Mäßigung nöthigt, oder citirt den Anakreon und Horaz und kokettirt mit einer in den Armen der Liebe oder beim Weinglas sehr pedantischen Classicität. Der andre, besonders aus der Schule von Voß, Bürger etc. will den Volkston halten, und lobpreist die derbe Hausmannskost. Ein dritter endlich, besonders aus der Schule von Göthe, will zart seyn und raffinirt und moralisch dazu, und tändelt nur wie ein Castrat. Doch besitzen wir sehr vortreffliche einzelne Lieder [251] der Lust und des Frohsinns, die zu bekannt sind, als daß ich sie hier erwähnen sollte. Unter den neuesten Dichtern dieser Gattung haben sich Wilhelm Müller und Friedrich Rückert ehrenvoll ausgezeichnet. Der letztere besitzt ein unermeßliches Talent für den Versbau und besonders für die Harmonik desselben. Durch Alliterationen, Assonanzen und Reime weiß er das gesammte Material der Sprache in Accorde zu fassen und in der künstlichsten Verschlingung jedem Wort eine musikalische Bedeutung zu geben. Doch sagt diese Künstlichkeit der einfachen Empfindung nicht immer zu, und eben so wenig die orientalische Fülle seiner Bilder. Er spricht mehr die spielende Phantasie, als die Empfindung an, und darum ist ihm auch die sanguinische Weise vor allen die natürlichste.

Die Liebeslieder der frohen sanguinischen Art gelingen uns Deutschen im Allgemeinen weit weniger, als den Italienern. Im Leiden und Klagen sind wir stärker, als im Besitz und Genuß. Schamhaft und genügsam wissen wir der Geliebten von fern zu huldigen, mit dem Geringsten beglückt zu scherzen, uns über die Sprödigkeit anmuthig zu trösten, aber den Besitz wissen wir nicht poetisch genug zu würzen, er macht uns gleich prosaisch. Die verschmähte und die hoffende Liebe begeistert uns, die beglückte kühlt uns ab. Erst schämen wir uns, das poetisch zu usurpiren, was nicht unser ist, dann schämen wir uns wieder, unsre Freude darüber laut werden zu lassen, [252] wenn es unser ist. Die Weinlieder sind in Deutschland gewiß besser, als irgendwo anders, wie wir denn auch trotz der Prahlereien einiger Fremden, noch immer die besten Trinker sind und bleiben. Aber auch in die Weinlieder hat sich ein falscher Ton namentlich durch die verschiedenen Zwecke der beim Weine sich versammelnden Gesellschaften eingeschlichen. Sie sind zu etwas verlängerten Toasten geworden. Der Freimaurer trinkt der Menschheit, der Soldat dem Kriege, der Liberale dem Vaterland und der Freiheit, der Student seinen kleinen Privilegien zu. Gemischte Gesellschaften aber haben eine gewisse Sorte von Liedern, die sie eigentlich nur beim Wasser singen sollten. Da heißt es, daß man beisammen sitze, daß man lustig trinke, daß man Bier oder Wein oder Punsch vor sich habe, daß dieselben schmecken und lustig machen, und dergleichen mehr, was sich für jeden von selbst versteht, der vor dem Glase sitzt, und lustig genug ist, überhaupt ein Lied anzustimmen.

Von dieser Art sind denn auch die Lieder, die im Allgemeinen eine freudige Stimmung ausdrücken, oder zu derselben auffordern sollen. Mit genauer Noth bezeichnen sie die leere Stelle, in welche der Dichter die Poesie hineingewünscht hat. Sie gleichen Überschriften auf Noten: Allegro, Andante etc. aber die Noten fehlen. Man ruft nach der Freude: komme doch, erscheine, steige herunter, Tochter des Himmels, sey unser Gast! oder man verkündigt sich: sie [253] ist da, die liebe Freude, nun sitzen wir fröhlich beisammen etc.

Die cholerischen Lieder setzen eine hohe leidenschaftliche Flamme voraus, und werden selten gedichtet, wo diese Flamme nicht wirklich in des Dichters Busen lodert. Sie passen nur für exaltirte Zustände, und da man sich im gewöhnlichen Leben damit nicht sonderlich beliebt macht, so werden sie auch weniger erkünstelt. Ihr Gegenstand ist stürmische Begeisterung für Ehre, Freiheit, Vaterland und zorniges Entflammen gegen den Feind, das Laster, die Schwäche. Selten ist dieß Feuer der Leidenschaft rein persönlich, weil persönliche Leidenschaft selten poetisch ist. Meistentheils ist es eine gesellige, nationelle Begeisterung, die in diesen Liedern flammt. Unter jenen seltenen Feuerseelen, für deren persönliche Leidenschaft wir uns wegen ihrer Reinheit und Tiefe interessiren, steht unter uns Deutschen Hölderlin oben an. Der göttliche Wahnsinn dieses Dichters ist in seiner Art das Herrlichste, was die Poesie kennt.

Die jüngstvergangene Zeit der patriotischen Begeisterung hat eine große Menge Vaterlands-, Freiheits- und Kriegslieder hervorgerufen. Schon früher hatte Schiller den Grundton dazu angegeben. Körner, Arndt, Schenkendorf haben zu ihrer Zeit sehr zeitgemäß gesungen und wahre Begeisterung erweckt. Die schönsten Lieder aber waren die von Ludwig Follen, schmetternde Trompetenklänge, freudig, herrlich, voll wilder und unbändiger Schlachtenlust.

[254] Die melancholischen Lieder drücken gewöhnlich allgemeine Stimmungen der Sehnsucht des Leidens und der Trauer aus, oder auch die Empfindungen bei besondern ernsten und traurigen Anlässen. Die wahre Melancholie entspringt in der Seele ohne allen äussern Anlaß und sucht sich selbst ihren Gegenstand. Die Jugend hat ihre melancholische Periode, und da die Jugend am meisten lyrisch ist, so sind auch die meisten lyrischen Gedichte von der melancholischen Art. Die sentimentale Naturbetrachtung und die Klagen der Liebe bilden den Hauptinhalt dieser Gedichte. Sie sind natürlich und rührend, wenn die Empfindung wahr ist, und die Gränzen nicht überschreitet. Es giebt aber auch eine Menge Lieder, worin theils eine gekünstelte Empfindsamkeit, theils eine übermäßige, feige, weibische Weinerlichkeit herrscht. So finden wir bei Matthisson, Tiedge, Kosegarten viel zu viel Reflexion, gelehrte Citate, absichtliche Zierlichkeit und viel zu genaues Ausmalen. Man sieht, daß die Dichter selbst weniger empfunden, als gedacht haben, und sie wecken daher auch weniger Empfindungen, als sinnliche Vorstellungen und Gedanken. Diese Dichter wollen aber dennoch voll tiefer Empfindung erscheinen, und übertreiben daher den Ausdruck derselben. Sie tauchen die Feder in den ewig rinnenden Thränenzuber der elegischen Wehmuth und nehmen einen gewissen winselnden Klageton an, den wir höchstens bei einer unglücklichen Louise Brachmann natürlich finden.

[255] Zu der melancholischen Gattung müssen auch die religiösen Lieder gerechnet werden. Wir sind daran sehr reich, und viele dieser Lieder sind höchst vortrefflich, doch sind die von Novalis die innigsten. Leider aber finden wir gerade die schönsten frommen Lieder nur zerstreut in den Sammlungen weltlicher Gedichte. Die Kirche nimmt keine Notiz davon. Hier herrschen noch die alten Gesangbücher, die in einem barbarischen Zeitalter von höchst unpoetischen Theologen abgefaßt worden, oder schlechte Versificationen der Psalmen. Die wenigen guten Ausnahmen machen diesen Mißbrauch nur noch augenscheinlicher. So entzieht sich denn die protestantische Kirche selbst die Mittel, wodurch sie die Seelen gewinnen könnte. Die Philosophie bot sich ihr an, sie hat sie befehdet; die Poesie bot sich ihr an, sie hat sie gleichgültig zurückgewiesen.

Die Lieder von der phlegmatischen Gattung bilden eine niederländische Schule in der Lyrik. Stillleben ist ihr Wesen und ihr Gegenstand. Zufriedenheit ist die Stimmung, aus der sie hervorgehen, die idyllische Natur, die Familie, das nüchterne Glück ihr Gegenstand, Voß, Kosegarten, der Feldprediger Schmidt mit seinen Musen und Grazien in der Mark waren die Tonangeber. Auch hier ist man nicht bei der Natur stehn geblieben, sondern hat die Alten citirt, besonders den Theokrit und Horaz. Nichts war wohl so lächerlich, als diese gelehrte Bauernhaftigkeit und bäurische Gelahrtheit.

[256] Im vorigen Jahrhundert gab es auch eine große Menge didaktische, besonders moralische Gedichte, die jedoch in dem jetzigen sehr abgekommen sind. Sie waren niemals von poetischem Werth, wenn sie nicht wie die Lehrgedichte Schillers zugleich eine edle und große Leidenschaft und Begeisterung beurkundeten. Eben so haben jetzt die Fabeln abgenommen.

Im neuern Jahrhundert sind dagegen die Romanzen häufiger geworden. Wir sind aus der Theorie in die Erfahrung, aus dem philosophischen Gebiet ins historische übergegangen, und so suchen wir auch in der Poesie lieber die Beispiele, als die Belehrungen. Unsre größten Dichter haben Romanzen gedichtet, und die Zahl der geringern Romanzendichtern ist nicht zu berechnen. Gewisse sehr beliebte Sagenstoffe sind zehn und zwanzigmal behandelt worden. Einer unsrer verdientesten Romanzendichter ist Gustav Schwab. Andre Dichter haben übrigens auch die Romanzen, wie alles, ins Gemeine hinabgezogen. Alle Thorheiten unsrer modernen Romane, fade Galanterie, matte Grausamkeit und schwächliche Resignation haben den alten Rittern und Damen in neuen Romanzen aufgebürdet werden müssen, und wir hören dabei nur das alterthümliche Versmaaß, wie das Echo von alten Burgtrümmern wiederhallen.

Die Volkslieder in besondern Mundarten, wie die von Hebel, sind nur als poetische Curiosa zu betrachten. Sie unterscheiden sich von echten alten Volks[257]liedern dadurch, daß sie nicht aus dem Volk hervorgegangen, sondern demselben angedichtet worden sind. Wie sehr der Dichter sich bemüht, ein Bauer zu scheinen, er bleibt doch immer nur ein Bauer aus der Theatergarderobe. Ich kann die Begeisterung für Hebel's und ähnliche Gedichte nicht theilen, sie widern mich vielmehr grade so an, wie die Schweizerinnen und Tyrolerinnen auf Redouten. Es ist eine alberne Affectation sogenannter Naivetät darin, die sich in der Wirklichkeit ganz anders verhält. Merkt man nun gar, daß der Dichter seinen Bauern wieder den längst versauerten Milchbrei politischer Kindlichkeit einpappelt und sie gleich einem Dorfschulmeister bei der Ankunft hoher Herrschaften zum Vivat einexercirt, so geht die Illusion gänzlich verloren und man sieht statt der Natur nur ein theatralisches Machwerk, wie die Götheschen Festzüge und gewisse Wiener Vorspiele.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur.
Zweiter Theil. Stuttgart: Franckh 1828.

Unser Auszug: S. 243-257.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).
Korrigiert nach Verzeichnis der Duckfehler (S. 303).

PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001964D00020000
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.a0012687893
URL: https://www.google.de/books/edition/Die_deutsche_Literatur/z8MLAAAAIAAJ

 

 

Werkverzeichnis: Menzel


Verzeichnis

Söhn, Gerhart: Wolfgang Menzel. Leben – Werk – Wirkung.
Bibliographie.
Düsseldorf: Ed. GS 2006.



Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur.
Erster Theil. Stuttgart: Franckh 1828.
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001964D00010000
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL: https://archive.org/details/bub_gb__pk5AAAAMAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/chi.095943730
URL: https://www.google.de/books/edition/Die_deutsche_Literatur/z8MLAAAAIAAJ

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur.
Zweiter Theil. Stuttgart: Franckh 1828.
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001964D00020000
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.a0012687893
URL: https://www.google.de/books/edition/Die_deutsche_Literatur/z8MLAAAAIAAJ


Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur.
Zwei Bände in einem Band.
Mit einem Nachwort von Eva Becker.
Hildesheim: Gerstenberg 1981 (= Texte zum literarischen Leben um 1800, 11).
Reprint der Ausgabe Stuttgart: Franckh 1828.

 

 

 

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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer