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Editionsbericht
Literatur
[3] Bei der Untersuchung der sämmtlichen epischen Dichtungsarten fanden wir,
daß alle diese die Mittheilung einer Begebenheit, also die Bekanntmachung
dessen, was sich schon zugetragen, zum nächsten Zwecke haben. So wie also bei
denselben die Darstellung der Vergangenheit das gemeinschaftliche Merkmal ist,
so wird auch durch die verschiedenen Gattungen der lyrischen Poesie ein
allgemeiner Grundzug durchherrschen, welchen aufzufinden, wir jetzt versuchen
wollen.
Wenn wir die Bedeutung des Wortes "lyrische Dichtkunst" bis zu seinem Ursprunge
verfolgen, so finden wir, daß man darunter Gedichte verstand, welche zur Lyra
*) gesungen wurden. Allein dieser Begriff
umfaßte die ganze Sphäre damaliger
Poesie, denn auch Homer sang die Thaten der Helden vor Ilion zur siebenbesaiteten
Leier. Und doch ist es nicht ganz unnütz, bis zum ersten Entstehen des lyrischen
Gedichtes hinabzusteigen, wenn man den Charakter desselben entscheidend bestimmen
will.
Die Dichter, welche ihre Werke zur Leier sangen, fühlten, daß ihre Worte allein
den Grad der Empfindung nicht hervorzubringen vermochten, welcher in ihrem
Innern wogte. Sie nahmen daher ihre Zuflucht zu der Gewalt der Töne, die
unwiderstehlich zu dem Herzen dringen. Doch muß nothwendig bemerket werden,
daß jener alte Dichtergesang nur das bezeichnete,
[4] was wir heut zu Tage unter Recitativ verstehen; ja, daß er vielleicht nichts
anders war, als Declamation, unterstützt von Musik, welche die Empfindungen,
die die Worte ausdrücken sollten, durch malende Töne verstärkte. Die Mittheilung
der Empfindungen durch das Mittel der Töne war also, und ist noch das Wesentliche
der lyrischen Poesie.
Da aber dem Menschen nicht allein Töne, wie anderen Geschöpfen, sondern auch
die Gabe verliehen worden, die ihm zu Gebote stehenden Laute zur menschlichen
Sprache zu erheben: so ward ihm zugleich mit diesem Geschenke das Werkzeug zu
Theil, seine Gedanken, Wünsche, Empfindungen Anderen erkennbar zu machen. Ist
ihm das Letztere, die Mittheilung der Empfindungen nämlich, auf vollkommene Weise
gelungen, so ist die Blüthe der menschlichen Sprache, die lyrische Poesie
vorhanden; dann ist die Sprache selbst Gesang, denn es folgt in harmonischen
Zwischenräumen Ton auf Ton, und mit ihm Bild auf Bild, Empfindung auf Empfindung.
Wenn die Musik überhaupt durch den Wohllaut der Töne Bilder und Empfindungen erregt:
warum sollte die kräftige Sprache der Begeisterung, der angenehmste Ausdruck der
Gefühle nicht Gesang genannt werden können?
Aber nicht jedes Gefühl ist würdig, auf die menschlich vollkommenste Weise
ausgedrückt, nicht jede Empfindung geeignet, durch sprechende Töne erreget
zu werden. Jenes Gefühl, jene Empfindung, welche der Mittheilung sowohl würdig,
als dazu geeignet ist, heißt poetisch, und ist allein Gegenstand der lyrischen
Dichtkunst.
Aus dem Vorausgeschickten wird sich nun der Begriff der lyrischen Poesie umfassend
dahin bestimmen lassen, daß man sagt, sie sei der vollendete Ausdruck poetischer
Empfindungen im höchsten Wohlklang der menschlichen Sprache
*)
[5] Wie mannigfaltig aber die Gefühle sind, welche des Menschen Brust durchkreuzen, so verschieden werden auch die einzelnen Gattungen der lyrischen Poesie sein; ja einige Völker selbst werden nach Maßgabe ihrer vorherrschenden Empfindungsweise, sich mehr zu der einen, als zu der anderen Gattung hinneigen.
Wenn auch jede der einzelnen lyrischen Dichtungsarten besondere Eigenschaften hat, so ergeben sich aus dem aufgestellten Begriffe der lyrischen Poesie überhaupt doch folgende, jedem lyrischen Gedichte gemeinschaftliche Erfordernisse:
1) Muß die Empfindung, deren Mittheilung bezweckt werden soll, in der oben
angeführten Bedeutung poetisch sein. Die Gesinnungen des Dichters seien des Gottes
werth, der ihn begeistert und aus ihm spricht. Gemeine, niedrige Wünsche sind
kein Gegenstand der lyrischen, so wie überhaupt einer Poesie, wohl aber heilige
Gefühle, die z. B. aus der Betrachtung Gottes, der Natur, edler Thaten
u. s. w. entspringen.
2) Muß die beabsichtete Wirkung in steter Steigerung bis zum Ende fortwähren;
oder mit andern Worten: Jedes lyrische Gedicht muß die Eigenschaft der Energie
besitzen. Um dieses zu bewirken, ist
3) Einheit des Gefühles erforderlich, welches durch das Gedicht durchherrschen soll,
woraus sich, da Gefühle und Empfindungen von der Gegenwart eingeschlossen werden,
4) das Erforderniß der Kürze ergibt. Die lyrische Poesie ist eine
lodernde Flamme, welche mächtig emporsteigt, aber auch bald verschwinden muß.
5) Wird rücksichtlich der Darstellung der Empfindung Würde erfordert.
Diese besteht in der höchsten Anmuth des Ausdrucks, in der immerwährenden
Anwendung des höheren Stiles. Gefühle bedürfen sinnlicher Bilder und Anschauungen,
um in Andern erregt werden zu können. Daher der
[6] Gebrauch von Tropen, Figuren und andern Zierden der Rede hier unerläßlich.
6) Damit aber alle diese Bedingungen erfüllt werden, ist von Seite des Dichters
Begeisterung nothwendig, ohne welche nie ein lyrisches Gedicht zu Tage gefördert
werden kann. Diese Begeisterung besteht in der Erhebung des Dichters über sich,
seine Neigungen, so wie überhaupt über die menschliche Beschränktheit. Er muß uns
im höheren Lichte erscheinen, von überirdischem Glanze umstrahlt, und seine Worte
müssen zu uns tönen, wie Orakelsprüche. Die Begeisterung entsteht bei poetischen
Gemüthern in glücklichen Augenblicken, welche sogleich ergriffen werden müssen.
Deßhalb erwarte man bei einem lyrischen Gedichte keinen geordneten Eingang: in
dem Sturme der Gefühle reißt der Sänger den Hörer mit sich, ohne ihn früher
vorzubereiten; man erwarte keine vollständige Erzählung einer Begebenheit:
sie ist nur da, um zum Mittel zu dienen, den Strom der Empfindung nach einem
bestimmten Ziele zu leiten. Überhaupt wird das Historische, welches im Epos
erzählt, im Drama gewirkt wird, in der lyrischen Poesie empfunden
*).
Deshalb fehlen auch oft Mittelglieder einer vollständigen Gedankenreihe,
welche Weise der Darstellung man einen lyrischen Sprung nennt.
7) Soll jedes lyrische Gedicht, da es im weiteren Sinne Gesang ist, auch des rhythmischen Wohllautes sich erfreuen; daher die metrische Form bei den verschiedenen Gattungen wohl verschieden, bei allen aber wesentlich ist.
Die lyrische Poesie ist ohne Beziehung auf bestimmte Formen in jedem Dichterwerke vorhanden, wo Empfindungen geschildert und mitgetheilt werden sollen. Daher so häufige lyri[7]sche Stellen im Drama, in der Epopöe, u. s. w. Doch kann hier nur von jenen Gattungen, welche die Erregung von Gefühlen zu ihrem ausschließenden Hauptzwecke haben, die Rede sein.
Die Empfindungen äußern sich stets in der Gegenwart, aber die Ursachen der Erregung können, außer in augenblicklichen Impulsen, auch in Erinnerungen und in der Reflexion über die Vergangenheit aufgesucht werden. Hieraus ergibt sich die Haupteintheilung der lyrischen Dichtkunst:
I. in rein lyrische Poesie, welche durch die Gegenwart erregte Gefühle mittheilen
soll; und
II. in elegische Poesie, welche Empfindungen, in der Vergangenheit entstanden,
und durch die Erinnerung geweckt, oder durch die Reflexion über das Geschehene
hervorgerufen, in angemessener Rede auszudrücken strebt.
Unter diese beiden Haupt-Classen lassen sich nicht nur sämmtliche lyrische Gattungen, welche man bisher unter diesem Namen begriffen, sondern auch manche andre Dichtungsarten bringen, über deren Classificirung man früher schwankte, und die man deßhalb mit dem Namen "gemischte Dichtungen" bezeichnete.
Der Einfluß der lyrischen Poesie auf Sitten und Charakter der Völker ist so wahr,
als bedeutend. Der Zustand der lyrischen Dichtkunst kann als Maßstab der Bildung
eines Volkes. angenommen werden, und ein Volk, das keine National-Gesänge hat,
hat schwerlich einen Charakter
*).
Die ersten Blüthen der lyrischen Poesie
finden wir in Griechenland, in welchem überhaupt höhere Geistesbildung frühe
keimte und wirksam gedieh. Hesiod's Sprüche der Weisheit, Homer's Gesänge
tönten aus den Zeiten roher Barbarei; ihnen folgten Sappho, Alkaeus und die
Lyra des göttlichen Pindar. Später hatte diese Dichtungsart bei den Römern Eingang,
und fand an Horaz einen Heros, dessen Gesänge durch alle Zeiten fruchtbringend
ertönen werden. Aber auch Deutsche ließen die Lyra
kräf[8]tig und würdig erklingen, und nicht gering ist die Zahl der herrlichen Sänger,
welche wir stolz die Unsern nennen.
Herder unterscheidet drei Perioden, in welchen die verschiedenen Arten der lyrischen
Dichtkunst bei den Griechen entstanden sind. Die erste Periode ist nach ihm die
episch-elegische, welche in einfachen Weisen, die epischen Hymnen, die eigentliche
Elegie und das Lehrgedicht im weiteren Sinne umfaßte. Diese Periode enthält größten
Theils jene Dichtungsarten, die wir mit dem gemeinschaftlichen Namen: elegische
Poesie benennen. Sie war nur eine Vorbereitung zur eigentlich lyrischen Gattung,
welche in der zweiten Periode entstand. Herder nennt diese rein lyrische Poesie
die lesbische Kunst, weil sie auf Lesbos erblüht war,
wo Terpander lebte, und
welchem Arion, Alkaeos und Sappho folgten. In diese Periode gehören also die Oden,
die Wechselgesänge, der Chor, die Lieder und die dichterischen Wettkämpfe der
Griechen. Hieraus entwickelte sich in der Folge die dritte Periode, welche das
Drama umschließt, eine Dichtungsart, die wohl der lyrischen Poesie ihr Dasein
verdanken mag, aber wegen der Eigenthümlichkeit ihres Zweckes eine besondere Classe bildet.
Wir wollen in der Behandlung der lyrischen Dichtungsarten die historische Ordnung ihrer Entstehung beobachten, und daher von der elegischen, und dann von der rein lyrischen Poesie handeln.
[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]
[3] *) Lyra hieß das älteste besaitete Instrument der Ägypter und Griechen.
Merkur soll ihr Erfinder gewesen sein. Aus der dreisaitigen ägyptischen
entstand die siebensaitige der Griechen, bei welchen die Zahl der Chorden
manchmal bis auf eilf stieg.
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[4] *) Vgl. J. G. v. Herder's Abhandlung:
Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst.
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[6] *) S. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. 2. B.
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[7] *) Herder a. a. O.
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Erstdruck und Druckvorlage
Philipp Mayer: Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten.
Ein Handbuch zur Bildung des Stils und des Geschmackes.
Nach den besten Hilfsquellen bearbeitet.
Bd. 2. Wien: Gerold 1824, S. 3-8.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://books.google.fr/books?id=zHhXAAAAcAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/pst.000002408682
Literatur
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
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Jackson, Virginia: Art. Lyric.
In: The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics.
Hrsg. von Roland Greene u.a.
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Pott, Sandra: Poetiken.
Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke.
Berlin u.a. 2004.
Richter, Sandra: A History of Poetics.
German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960.
With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter.
Berlin u.a. 2010.
Rodriguez, Antonio (Hrsg.): Dictionnaire du lyrique.
Poésie, arts, médias.
Paris 2024.
Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis
in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860.
Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).
Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert.
Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
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Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer