Willibald Alexis

 

 

Ueber Balladenpoesie.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Alexis
Literatur: Ballade
Literatur: Hermes

 

Altspaniche Romanzen, besonders vom Cid und Kaiser Karls Paladinen, übersetzt von Friedrich Diez. Berlin, Reimer. 1821. 8.

Spanische Romanzen. Uebersetzt von Beauregard Pandin. Berlin, Duncker und Humblot. 1823. 8.

Des Knaben Wunderhorn u.s.w. Sammlung deutscher Volkslieder durch Büsching und von der Hagen u.s.w. Fr. Raßmann's Auswahl neuerer Romanzen und Balladen u.s.w. u.s.w.

 

[1] Einige Verehrer der Kunst wollen nur den Genuß, welchen jene in ihrer möglichen Vollendung gewährt, und verschmähen es, sowohl die Leistungen, welche ein geringerer Genius ihnen darbietet, als auch die Kunst in ihrer stufenweisen Ausbildung zu würdigen. Aber sind dies nicht Epikuräer, welche nur den Genuß aus der Kunst, und nicht die Kunst um ihrer selbst willen lieben? Bei der Musik, Malerei, Bildhauer- und Baukunst mag vielleicht der wahre Kunstsinn seine Befriedigung nur in den ausgebildetern Erscheinungen finden, weil es in diesen Künsten erlaubt ist, dem sogenannten Ideale der Schönheit und Trefflichkeit καλον κᾳγαϑον nachzugehen, obgleich auch hier noch Zweifel dagegen erhoben werden können: anders ist es aber auf jeden Fall mit der Poesie. Diese – die ewig jugendliche Mutter jeder Kunst – verschmäht die Darstellung keiner Erscheinung, weder in der sogenannten idealen Vollendung, noch in der derben Wirklichkeit. Die Poesie wird nur geboren. Deshalb existirt sie aber bereits in der Wiege, und es ist der Probestein eines poetischen Gemüthes, sie dort in der ersten Entwickelung schon zu erkennen. Ueberall in der Reihe der Körperwelt und des Gedankens schießen ihre Keime hervor. Wer daher den Werth der anerkannten Dichtungen gehörig würdigen will, kann dies nicht an[2]ders, als wenn er die ersten Anklänge in der Gattung kennen gelernt hat und die allmälige Ausbildung bis zu dem Grade verfolgen kann, welchen er eben bewundert. Der Freund der Dichtkunst möge nie sein Ohr vornehm gegen die ersten Klänge seiner Kunst verschließen, denn leicht möchten ihn sonst die innigsten Töne späterer Gesänge kalt lassen und er in trauriger Einseitigkeit die schönsten Accorde ihres Reichthums verkennen. Er möge nicht mit Michel Angelo in Oehlenschlägers Correggio verschmähen, was die Kunst in blinder Kindheit gepfuscht hat. Die Erfahrungen in diesem Gebiete lohnen nicht blos den todten Fleiß des Sammlers, sondern geben auch reiche Beute dem schaffenden Genius des Künstlers.

So sehr auch vor einigen zwanzig Jahren und früher die Balladenpoesie vom deutschen Publicum geehrt wurde, scheint man doch jetzt weder die Sammlungen älterer Balladen, noch die Erzeugnisse der neuern Dichter in dieser Gattung zu beachten. Freilich sind Epos und Tragödie großartigere und vollendetere Erscheinungen: daß wir aber beide nicht besitzen würden ohne die vorhergehende Ausbildung der kindlichen Balladenpoesie, hoffen wir in dieser Abhandlung darzuthun; und daß viele der alten Balladen an Lebendigkeit der Poesie, Kraft, Tiefe und vor allem an Einfalt der Darstellung den berühmtesten Dramen und Epopöen vorzuziehen seyen, liegt außer Zweifel. Freilich gehören die Balladen der Kindheit eines Volkes an: daß aber noch immer Balladen entstehen können, so lange nur eine Nation lebendig ist, und daß es, um tüchtige Balladen ins Leben zu rufen, nicht der Mittelsperson ausgezeichneter Genien bedürfe, davon scheint der Beweis in der Geschichte zu liegen. Will man überdies auf den Meister im Drama zurückgehen, so findet man, daß Shakspeare, dessen schaffendem Genius das Ideal jeder Vollendung vor Augen stand, mit inniger Liebe gerade an der Volkspoesie seines Englands hing; denn überall in seinen Dramen theilt er uns als Beläge Stellen aus alten englischen Balladen mit, welche die größte und lebendigste Kenntniß der englischen Volkspoesie verrathen.

Noch oft werden wir in der Folge auf den traurigen Erfahrungssatz zuruckkommen: daß bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Volksbildung es einem poetischen Erzeugnisse sehr schwer, wo nicht unmöglich falle, in Deutschland ganz populär zu werden. Anders ist es mit der Kritik. Diese ist wahrhaft ins Leben getreten, und Ansichten und Begriffe, welche von Meistern einst ausgesprochen wurden, hört man jetzt nicht allein in den Schulen wiedertönen, und liest sie noch in den neuern Schriften, sondern sie gehen von Mund zu Munde, ohne daß der, welcher sie ausspricht, Rechenschaft über ihre Entstehung zu geben weiß. So sind unter andern Lessing und A. W. v. Schlegel in der That populär gewor[3]den, ohne daß Mancher, welcher ihre tief geschätzten Ansichten mit Leichtigkeit ausspricht, ihre Schriften kennt.

Ref. schrieb die nachfolgende Abhandlung, zu welcher er seit Jahren die Materialien gesammelt und theilweise verarbeitet hatte, noch ehe er August Wilhelm von Schlegels besondern Aufsatz über Bürger gelesen, nieder. Wenn viele Behauptungen in seiner Ausarbeitung mit denen in der überaus scharfen und klaren Kritik Schlegels übereinstimmen, so kann er zwar mit Bestimmtheit sagen, daß er sie nicht aus jenem Aufsatze über Bürger entnommen hat, nicht aber, inwiefern sie durch Vermittelung ihrer Popularität auf ihn übergekommen sind. So viel kann er indeß behaupten, daß er aus eigener Prüfung von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, und da in unserer Zeit, um eine poetische Wahrheit populär zu machen, nicht genügt, sie einmal auszusprechen, so glaubt er zur Erweckung der Liebe für das Balladenstudium nur förderlich zu seyn, wenn er auch schon anderwärts Ausgesprochenes – besonders da es von den jüngsten Kritikern fast vergessen zu seyn scheint – hier im neuen Zusammenhange und mit Bezug auf mehrere Erscheinungen, stehen läßt.

 


 

Der Begriff des Wortes Ballade ist gerade der Mannichfaltigkeit der darunter gehörenden Dichtungen wegen so schwankend, daß wir zuerst die Entstehung der letztern selbst aufsuchen müssen.

Wenn wir von der alten Eintheilung der Poesie ausgehen und fragen: welche der drei Gattungen, die lyrische, epische oder dramatische, erscheint zuerst im Kindesalter eines Volkes? so versteht sich von selbst, daß die künstliche dramatische von diesem Wettstreit zurücktritt. Schwieriger aber ist die Entscheidung, ob die Lyrik oder das epische Element zuerst Sprache gewonnen. Gab der Mensch zuerst seinen Gefühlen bei Schmerz und Freude Sprache, oder pries er zuerst erzählend die Thaten der Vorwelt? Sehen wir auf die uns überlieferten Traditionen der meisten Völker, so dürfte es scheinen, daß überall das epische Element zuerst hervorgetreten und die geschichtliche Poesie zuerst cultivirt worden sey. Bei zwei Urvölkern sind die ältesten uns überlieferten Documente geschichtliche Epopöen: Homer bei den Griechen, die fünf Bücher Moses bei den Ebräern. Auch die ältesten Gedichte der Inder sind erzählende Gedichte von der Erschaffung der Welt und der ältesten mythischen Geschichte des Landes. Aber sind denn die in diesen ältesten Documenten enthaltenen Poesien auch überhaupt die ältesten des betreffenden Volkes? Gewiß nicht. Allein die technische Vollendung dieser Gedichte betrachtet, ergibt sich, daß sie nicht die ersten Poesien seyn können. Ueberall gingen diesen zusammengesetzten Dichtwerken [4] einfachere Dichtungen voraus, welche uns entweder nicht mit überliefert oder mit in diese größeren Werke aufgenommen sind. Welcher Art aber waren diese vorhergehenden Poesien? Erzählten sie rhythmisch das Geschehene, oder drückten sie im Gesange Schmerz und Freude über die Gegenwart aus?

Die Gegenwart ist einem Barbaren das Nachste; erst bei höherem Grade der Ausbildung denkt er an die Vergangenheit, und er muß schon weiter vorgeschritten seyn, wenn sein Gedanke sich auch mit der Zukunft beschäftigen soll. Somit läßt sich voraussehen, daß den Naturmenschen die augenblicklichen Gefühle zuerst zum rhythmischen Ausspruche derselben bewogen haben. – Ist das Aufschreien beim Schmerz, das Aufjauchzen bei angenehmen Empfindungen nicht instinctartig? Beiden verwandt aber ist die jedermann eingeborne Musik. Der musikalische Ausdruck beider Töne aber wird zum Gesange. – Wir gehen zu einem Beispiel über. Die ersten Beschäftigungen barbarischer Horden sind Jagd und Krieg. Wenn der Häuptling die Seinen in die Schlacht oder zum Jagen führt, so werden gewiß alle früher einen Schlachtgesang zur Aufmunterung ihrer selbst – vielleicht zuerst kaum mehr als inarticulirte Töne – anstimmen, als heimkehrend die Thaten ihres Anführers besingen. Bei dem Gesange, welcher die Freude über den Sieg ausdrückt, werden einzelne Worte des Siegers und des Besiegten gedenken, und allmälig werden, wenn die Sprache Bildung gewonnen hat, in den Gesang Anspielungen auf einzelne Umstände aus dem Kampfe mit verflochten werden. Je weiter entfernt die Zeit des Gesanges von der That liegt, um so deutlicher müssen die Anspielungen seyn, damit die nicht bei der That Gegenwärtigen vom Sachverhältniß unterrichtet werden. Da die Ueberlieferung von Mund zu Munde geht, so ist dies Einschieben der Erläuterungen nicht schwierig; je mehr aber von der Erzählung eingeschoben wird, um so mehr wird der lyrische Theil des Gesanges zurückgedrängt und der epische tritt in der Erzählung des Geschehenen hervor. Der rhythmische Erguß der Empfindungen wurde, wenn er in bestimmten Worten von Mund zu Munde sich fortpflanzte, zum Liede, und dieses, als Repräsentant der Lyrik, ist somit die erste Form, in welcher die Dichtung den Völkern sich kund gab. Bei allen Völkern wird das freie von Mund zu Munde gehende Lied früher erklungen seyn, als irgend jemand dessen schriftliche Aufzeichnung verstand. Als aber die Schrift bekannt wurde, fand man es nicht nöthig, das frei gesungene Lied niederzuschreiben, sondern man zeichnete die Gesänge auf, welche, beladen durch Erzählung der Namen und Thaten der Vorwelt, so schwer geworden waren, daß der Mensch sie nicht mehr, gleich dem freien Vogel, ohne Beschwerde und Nachdenken singen konnte.

[5] Die zu geringe Kunde über den ursprünglichen Zustand der jetzt ausgebildeten und derjenigen Völker, deren lebendige Cultur mit ihnen selbst untergegangen ist, macht es uns unmöglich, die Wirklichkeit jener Ansicht streng nachzuweisen. Volle Bestätigung derselben finden wir aber bei der Betrachtung aller Volker, welche unsere europäischen Entdecker in einem Culturzustande vorfanden, wo zwar noch kein Gedanke an eine schriftliche oder auch nur bildliche Niederlegung, wo dagegen die ersten Anklange der Poesie selbst nicht zu verkennen waren. Adalbert von Chamisso *), ist vielleicht der erste Weltumsegler, welcher neben den andern wissenschaftlichen Betrachtungen auch mit poetischem Geiste die Wogen des großen Oceanes durchschiffend, in jeder Insel, nächst dem Studium der Sprache jener kaum entdeckten Volksstämme, auch forschte, ob die Poesie und in welcher Gestalt sie den öden Strand betreten habe. Das Resultat seiner Forschungen war, daß keine auch noch so rohe Nation ganz ohne den Trost des Besuches jener Himmelsbotin geblieben war, wenn auch ihre Erscheinung, der des Volkes angemessen, nur dürftig seyn konnte. Des Seefahrers gehaltvolle Beschreibung enthält indessen mehr Andeutungen, als ausführliche Relationen über seinen Fund. Der mündlichen Unterhaltung mit dem gelehrten Freunde verdankt Ref. die meisten Data, welche er hier zur Bekräftigung seiner ausgesprochenen Ansicht vortragen will.

So weit Herr von Chamisso die große Südsee mit ihren wunderbaren Inseln kennen lernte und so vertraut er auch mit der Sprache ihrer Bewohner durch freundliche Aufnahme der gebildetsten und gelehrigsten unter ihnen wurde: so fand er doch in keinem der ihm vorgesungenen Lieder eine geschichtliche Erzählung der Vorzeit des Landes oder Volkes; und irgend Bedeutendes konnte nicht übersehen werden, da ein Hauptzweck der Reise mit darin bestand, etwas über den frühern Zustand dieser Volksstimme zu erfahren. Daß an ein förmliches Epos bei dem Bildungszustande dieser nackenden, übrigens auf den meisten Inselgruppen keinesweges rauhen Barbaren nicht zu denken war, versteht sich von selbst: wohl aber wäre es denkbar gewesen, in rohen Versen, in irgend einer rhythmischen Form einzelne ausgezeichnete Begebenheiten, siegreiche Treffen, Seestürme u. s. w. hererzählt zu finden. Doch auch von dieser ersten Form, in welcher das Epos erscheint, waren nur dürftige Spuren. Im Ganzen hörte man nur von Weibern und Männern gesungene Lieder. Um ein Feuer, um die ihnen gemachten Ge[6]schenke tanzten die Wilden und gaben ihre Freude in rhythmisch hervorgestoßenen Worten oder in Sätzen, welche sich einem Liede näherten, zu erkennen. So theilt uns Herr von Chamisso folgendes von Weibern beim Baden gesungene Lied mit, in welchem wir freilich ohne die begleitende Musik des Gesanges wenig Rhythmus finden:

:|: Untertauchen in die See sechs Mal.
Auftauchen aus der See sechs Mal, (wird sechs Mal wiederholt) sieben Mal!

Aber nicht alle Lieder waren ohne allen Anklang des Epischen. Viele von ihnen schienen zu oder bei bestimmten Ereignissen gedichtet: denn wenn der Uleate Kadu, welchen die Seefahrer auf ihr Schiff genommen und in ihm einen lehrbegierigen Schüler gefunden hatten, über Localität, Geschichte u. s. w. seines Vaterlandes Auskunft geben sollte, so recitirte er sich zuvor die Lieder, welche er von den Völkerschaften, unter denen er früher gelebt, erlernt hatte. Auch das folgende uns mitgetheilte Lied ist seinem Ursprunge zufolge nur lyrisch; dennoch ist es schon mit dem Epischen verwandt, wie die vorangeschickte Erklärung besagt: "Wongusagelig, der Chef von Ligiep, führte seine Böte und Mannen dem Lamary auf Aur zu, als die von Meduro und Arno den Krieg dahin gebracht. Der erste Theil des Liedes vergegenwärtigt seine Ausfahrt aus Ligiep, der zweite seine Einfahrt in Aur:"

Wongusagelig
:|: Gehet unter Segel.
Außen am Strande das Volk.
"Setzt das Segel um.
"Scheitern wir nicht an der Riff!"
Land aus der Ansicht verloren!
      Ebbe! Ebbe!
      Wongusagelig :I:

Und es erschallet der Machtruf:
"Die Schiffe zusammengehalten!
"Es schlägt die Welle wohl ein!
"Am Schiff vorn, steure! steure! steure!
                        steure! steure! steure!
"Reißet hinein uns die Fluth!"

Das Lied besteht lediglich aus den bei der Schifffahrt gewöhnlichen Ausrufungen, theils den befehlenden des Führers, theils denen, welche das Gefühl der Schiffer, vielleicht auch den Klang des Ruderschlages u. s. w. nachahmend ausdrücken. Hierzu kommt aber [7] die bestimmte historische Notiz, wann dieser Ausruf stattgefunden hat. Es war, als

Wongusagelig
Gehet unter Segel.

In dieser historischen Erwähnung liegt das Medium, welches die Lyrik des Liedes mit dem epischen Elemente der Erzählung in Verbindung setzt. Vielleicht geht, wenn weder Wongusagelig noch einer seiner Zeitgenossen mehr lebt, das ganze seiner Schifffahrt zu Ehren gesungene Lied mit dem Gedächtniß an diese Begebenheit, selbst bei dem Bildungszustande der Südsee-Insulaner, unter: denn schon vor dem Häuptling Wongusagelig mögen Andere ähnliche Seezüge unternommen und ähnliche Gesänge mögen sie gefeiert haben, aber beider Gedächtniß ist verschwunden. Sollte dagegen bei einem organisch sich entwickelnden Volke nicht der Enkel, wenn er das Lied beim Schiffen von den Aeltern singen hört, fragen: wer Wongusagelig war? was dies für eine Fahrt gewesen? Sollte er nicht, wenn er selbst die wohlbekannte Melodie nachsingt, mehr erläuternde Umstände hinzufügen und die vorerwähnte Notiz über den Seezug in das Lied selbst erzählend einschalten? So dürfte das Lied zur Erzählung werden.

Eine der interessantesten Bemerkungen, welche Herr von Chamisso mittheilt, ist gewiß folgende. Als die Seefahrer nach geraumer Zwischenzeit nach Radack zurückkehrten, sangen die Frauen ihnen während ihrer Abwesenheit gedichtete Lieder vor, in welchen die Namen der Reisenden der Erinnerung geweiht waren. Auch sang ihnen ihr Freund Kadu Lieder vor, deren eines in der Sprache von Ulea die Namen Samuel, Bormann und Louis verherrlichte. Wie sie späterhin bestimmt erfuhren, waren die drei Capitaine, Samuel Willams Boll, Thomas Bormann und Don Louis de Torres, die ersten Europäer gewesen, welche zu freundschaftlichem Verkehre die Insel Ulea, die nach der Zeit unbesucht geblieben war, betreten hatten. In dem Liede wurde die Insel Guajan, von wo die Europäer gekommen und wohin schon früher Uleaten geschifft oder verschlagen waren, als ein großes Land gepriesen, wo Rinder, Eisen und Reichthümer im Ueberfluß wären und wohin der König Toua selbst eine Reise gemacht, von welcher er drei Kanonenkugeln heimgebracht hätte. Alle diese Umstände bestätigten sich nachher.

So erfuhren die Reisenden nach genauerer Bekanntschaft mit den friedlichen und armen Bewohnern der radackschen Inseln, daß sie unzählige Sprüche in Liederform auswendig wußten, vermittelst deren sie das Gedächtniß ihnen merkwürdiger Momente und Namen aufbewahrten. Wenige dieser in die wohlklingendsten Me[8]lodien gebrachten Sprüche waren indessen inhaltreicher, als der folgende, welcher das Gedächtniß an Herrn von Chamisso selbst erhalten sollte.

Der die geschälte Kokos ißt,
                      Chamisso!
Der die geschälte Kokos trinkt,
                      Chamisso!

Man sieht, daß auch diese erste Form der Geschichte oder des Mediums der Auferhaltung des Gedächtnisses an die Begebenheiten der Vorwelt nur im Gesange erscheint. Der angeführte Spruch ist ein Bild, welches, oft vorkommend, keine besondere Handlung des Besungenen preiset. Er ist somit nicht episch, nicht erzählend, sondern vermittelst des Gesanges rein lyrisch.

Uebrigens kann man selbst nicht einmal annehmen, daß die hervorgehobenen Lieder, welche Namen, Erinnerungen und somit einen Uebergang zum Epischen enthalten, die allerfrühesten Ergüsse des poetischen Sinnes dieser Insulaner gewesen sind. Unser Gewährsmann behauptet, daß alle diese Sprüche, welche er bei den gesitteten und sanften Radackern gehört, nicht erst durch den Gesang oder den Tanz zu Liedern geworden waren, sondern an sich schon, wiewohl ohne Vermittelung von Reimen, Assonanzen oder Alliterationen, einen bestimmten Rhythmus gehabt hätten; obschon er nicht zu behaupten wagt, daß ein geregeltes Versmaas darin zu finden sey. Dagegen sangen benachbarte Insulaner, die auf einer niedrigern Stufe der Ausbildung standen, auch Lieder, welche aber diesen Namen zugleich mit dem Rhythmus nur durch den Gesang oder gar erst durch den wilden Tanz gewannen. Einige unterschieden sich kaum von wildem Geschrei.

Die Bewohner von Radad und den benachbarten Carolinen gehörten weder zu von Natur verderbten und sittenlosen Stämmen, noch waren sie zurückgeblieben in der ihnen möglichen Ausbildung; im Gegentheil trieben sie alle Künste, zu welchen die ärmliche Natur ihrer Koralleninseln ihnen die Mittel darbot. Sie waren sanft, gelehrig, achteten das Eigenthum, die Todten und waren gastfreundlich gegen die Fremden, auch ohne Rücksicht auf Gewinn. Ihre ausgebreitete Schifffahrt erregt Bewunderung, und die Mährchen von der Gottheit, freilich nur gebildet nach den dürftigen Begriffen der Herrlichkeit, welche die Spuren der Armuth der sie umgebenden Erscheinungen an sich tragen, sind dennoch zart und zuweilen sinnig. Dennoch leben diese glücklichen Völker nur dem Momente, die Aussicht in die Zukunft ist noch sehr dunkel, die Vergangenheit ist ihnen aber ganz entschwunden, und die angeführten Denksprüche retten nur Trümmer aus der Vorzeit. Der Genuß des Augenblicks con[9]centrirt sich im Gesange, und das Lied, die erste Form, in welche der freie Gesang gefesselt worden, ist die höchste Poesie auch der am meisten gebildeten Völker dieser Regionen. – So finden sich desgleichen auf allen malayischen Inseln und unter den jetzt fast cultivirten Sandwich-Insulanern die schönsten Poesien, nirgends aber ein historischer Kern.

Wie sehr hierdurch auch im Wege der Erfahrung unser aufgeführter Satz unterstützt wird, so werden doch viele, welche die Grundverschiedenheit der Menschenracen behaupten, das von den Insulanern der Südsee entnommene Beispiel nicht gelten lassen. Ihr Satz heißt: Was hinderte jene Stämme, sich eben so geistig zu entwickeln, als die edlere caucasische Race? Ihre dürftige Natur war die alleinige Ursach, welche sie in den vielen tausend Jahren keine höhere Stufe der Ausbildung erreichen ließ, als die, auf welcher unsere Entdecker sie auffanden. Deshalb darf von ihnen nie auf den Europäer geschlossen werden. – Ref. will die Grundverschiedenheit der Menschenracen einräumen, behauptet aber, daß die Poesie ein eben so allgemeines Himmelsgut sey, als die Religion. Ohne Spuren von Beiden ist kein Volksstamm, er sey in noch so rohem Zustande, gefunden worden. Wenn auch nach den verschiedenen Traditionen der Völker im Uranfange kein barbarischer, sondern ein glücklicher Zustand gewesen, so sprechen doch zugleich alle diese Traditionen von dem mehr oder minder schnellen Untergange dieses paradiesischen Lebens und von dem Eintritt des ehernen oder bleiernen Zeitalters, wo die rohe Kraft gewaltet hat. Erst in diesem beginnt die Geschichte und erst in diesem können wir nach der Wurzel unserer Poesie suchen. Wenn somit der Uranfang aller Poesie in dem Zustande der Uncultur der Völker zu finden ist und die meisten alten Lieder auf solche rohe Kraft deuten, weshalb sollte man nicht annehmen, daß bei allen Nationen der Keim der Poesie auf gleiche Weise emporgeschossen sey? Wird uns nicht auch von den meisten europäischen Nationen berichtet, daß sie im Zustande ihrer Rohheit Kriegslieder zur Befeuerung des Muthes gesungen haben? Dichtete nicht der verbannte Ovid den barbarischen Anwohnern des schwarzen Meeres zu ihrem großen Entzücken Kriegslieder? – Deutet nicht selbst die Erscheinung des Orpheus, Linus, Musäus auf das musikalisch-lyrische uranfängliche Auftreten der Poesie in Hellas? – Wohl rief man auch in den Kriegsgesängen die Geister der Vorfahren an, erinnerte sich dabei ihrer großen Thaten: immer aber war es zuerst Gesang, ein begeisterter Aufruf, ein Preislied, und erst weit später wurde, wie es die epische Natur verlangt, ruhig die Geschichte der Vorwelt erzählt.

Man wird mich nicht falsch verstanden haben, wenn ich im Lyrischen den Anfang der Poesie suchte. Die Lyrik ist vielleicht zu[10]gleich die höchste Poesie. Pindar's Oden und die Psalmen, welche Jehova's Allmacht preisen, sind nicht Dichtungen, welche im ersten Culturzustande eines Volkes ertönen können, obgleich sie rein lyrisch sind. Ehe sich der Sinn des Menschen zu solcher großartigen Begeisterung emporschwingen kann, sind viele Stufengrade geistiger Ausbildung nöthig. Die Begeisterung für die Gottheit, für das Edle, für die Größe der Nebenmenschen liegt weit entfernt von der ersten Betrachtung des Naturmenschen. Dieser jauchzt auf bei dem Glücke, welches ihm oder den zunächst um ihn Stehenden begegnet; Schmerz und Leid gewinnen Worte, die Worte gehen von Mund zu Munde, und aus den Worten wird das einfache Lied.

 


 

Aber die Lyrik konnte bei einem fortschreitenden Volke nicht lange die alleinige Repräsentantin der Poesie bleiben. In unserer eigenen Beweisführung gaben wir Belege, daß und wie in dem Gesange des Liedes das epische Element Eingang fand. Das Epos in seiner ursprünglichen Bedeutung ist die Erzählung der Vergangenheit. – Wie aber erschien zuerst das Epos? Trat ein Homer oder Herodot plötzlich unter der Menge auf und erzählte mit voller Ruhe, was die Heroen vollbrachten? Gewiß nicht. Eine so ruhige, plastische Darstellung kann nur in der Zeit einer größern Ausbildung, einer Zeit, welche über die erste Sturm- und Drangperiode des jugendlichen Volkes hinaus liegt, zu Tage gefördert werden. – Das epische Element trat, wie wir sahen, im Liede hervor, aber lange Zeit ging es Hand in Hand mit dem lyrischen. Das Lied besang die Begebenheiten lange zuvor, ehe sie erzählt wurden.

Daß die Poesie weit vor dem, was wir Prosa nennen, in den Völkern gelebt habe, ist ausgemacht. Wie aber tritt diese Prosa zuerst auf? – Ueberall als Geschichte, als Berichterstatterin über die Thaten der Vorwelt. Wie aber gab sich die Geschichte kund, ehe die Schrift erfunden war? – Sie ging von Mund zu Munde. Aber nicht in Erzählungen. Die wären bald ohne äußern Reiz auf die rohe Sinnlichkeit der Völker im Munde erstorben. Die Form mußte ihnen Reiz und zugleich – Festigkeit geben, weil die freie Erzählung, wenn sie fort und fort umherwandelt, bald zum Mährchen wird. Die erste Form der Geschichte war die Dichtung. Das Lied, in seinen immer bestimmter werdenden Typen, ging von Mund zu Munde, mit minderer Gefahr der Zusätze und Veränderungen, da Melodie, Reim oder Rhythmus die ursprünglichen Worte beizubehalten zwangen.

Das von Herrn von Chamisso mitgetheilte Beispiel ist vielleicht eins der merkwürdigsten Belege zur Geschichte der "Entstehung der [11] epischen Poesie." Wir, bei denen das Volkslied fast ganz erstorben ist, können uns die traditionelle Poesie nicht anders denken, als daß die That der Vorzeit, erst wenn sie nach Verlauf geraumer Zeit eine Beimischung des Wunderbaren gewonnen hat, in das erzählende Lied aufgenommen wird, nicht sowohl der Erhaltung ihres Andenkens, als des poetischen Zaubers wegen, in welchem sie dem Dichter erscheint, oder in welchem seine Phantasie den Hörern sie vortragen will. – Hier sahen wir die Ankunft der Europäer schon nach Monatsfrist traditionell werden. Es scheint daher der erste Anklang der epischen Poesie durch ein doppeltes Bedürfniß aus der Kindheit eines Volks hervorgelockt zu werden. Zuerst treibt das Bedürfniß der Erhaltung des Angedenkens, dann drängt der angeborne poetische Trieb.

Solche Lieder, wie der Gesang zur Erhaltung des Angedenkens an Herrn von Chamisso, sind weiter nichts, als versificirte oder auf andere Weise in Rhythmus gebrachte Sprüche:

Der die geschälte Kokos ißt,
                      Chamisso!
Der die geschälte Kokos trinkt,
                      Chamisso!

Aehnliche dürfte der Antiquar in der ersten Culturstufe eines jeden Volkes auffinden. Was werden die Runensprüche, was alle Zaubersprüche, welche vom weisen Meister dem Schüler als Geheimniß vertraut wurden, anders gewesen seyn, als – rhythmische Sätze – Verse, welche das Andenken der Vorzeit oder einer in derselben aufgefundenen Wahrheit erhalten sollten? – Diese erblichen Sprüche waren das Surrogat der Geschichtsbeschreibung. – Geschichte und Poesie waren uranfänglich eins; erst mit der Ausbreitung der Schrift trennten sich beide. Und doch sind sie noch immer so nahe verwandt, wenn man auf beider Wesen zurückblickt.

Je mehr jene Lieder sich der bildlichen Darstellung des Geschehenen, jene gesungenen Sprüche der Erzählung näherten, um so mehr trat das epische Element hervor. Wenn wir sagten, daß die Lyrik diesem vorangegangen sey, so müssen wir auch zugestehen, daß sie nicht lange allein dagestanden hat; bald reichte ihr das Epische die Hand, aber es dauerte nicht lange, so trat das letztere schon kräftig und vorherrschend auf. Das Lied, welches eine That erzählte oder einzelne Bilder der als bekannt vorausgesetzten That abrißweise aufführte, ward das, was wir Ballade nennen wollen, ohne uns über den Namen jetzt weitläufiger auszulassen. Auch die Ballade – die erste selbständige Gestaltung des Epischen – lebte lange vor der Schrift, sie lebte schon in der frühesten Kindheit des [12] Volkes und diente zur Erhaltung des Angedenkens an die Vorzeit. Von den angeführten Sprüchen sind uns wenig oder keine aufbehalten, auch die ursprünglichen Balladen dürften wir selten in ihrer Urgestalt sehen; erst vielleicht in der zehnten Umschmelzung erblicken wir sie in den geheiligten Epopöen. Es wäre thöricht, bei allen Völkern ganz denselben Gang anzunehmen und von der speciellen Ausbildung des einen Stammes auf die andern zu folgern. Bei den einen waltete immer das freie Lied vor, bei dem finstern Charakter der andern lebte die Geschichte nur in den Sprüchen der Priester, bei den dritten gewann die Erzählung bald eine bildliche Gestaltung, bei allen aber lebte die Geschichte in der Poesie, sobald sie sich nur hinausgeschwungen aus dem ersten Zustande thierischer Rohheit. Auf dieser Stufe sahen wir die Bewohner der Carolinen, und ihre der Erhaltung des geschichtlichen Andenkens gewidmeten Sprüche und Lieder waren noch nicht zu Balladen geworden. Bei wenigen Völkern dürfte die Ballade so den Mangel der Geschichte ersetzt haben, als bei den Spaniern, über deren Helden Lord Byron so trefflich sagt:

's ist die Romanze, so die That erzählt! –
Sieh'! dies ist des Heroen herrlich Loos:
Wenn Stein verwittert, das Gedächtniß fehlt,
Lebt all sein Ruhm im Lied des Bauern blos.
Stolz! neige dich zu deiner Herkunft Schoos:
Zu einem Sang verschrumpft des Helden Streben!
Erhält dich Denkmal, Buch und Pfeiler groß?
Der niedern Sage dankst du nur dein Leben,
Wenn dich Geschichte nicht und Schmeichler mehr erheben.

 


 

Was ist nun aber diese erste episch-lyrische Erscheinung, welche wir kurzweg Ballade nannten und deren Entstehung wir zu erörtern versuchten? – Wir wollen mit der lexicalischen Erklärung anfangen. Die verschiedenen Ausdrücke, welche sich für den Begriff finden, sind: Ballade, Romanze und Rondelet.

Ballade (sagt Ebers in seinem Wörterbuche der englischen Sprache sehr kurz ab), ballad ist ein Gassenlied, ein Lied, eine Art französischer Verse; to ballad heißt nach ihm Lieder machen oder singen und ballad singer, einer, der Gassenlieder singt, der auf der Straße singt.

Nach des Abbé Gattel Nouveau dictionnaire espagnol et françois etc. ist une ballade "composicion de poesia francesa, que se dividia en coplas con un mismo estribillo," (eine französische Versart, bestehend aus Couplets mit einem Refrain). Ein altes französisch-deutsches Lexicon erklärt: Bal[13]lade, eine Art alt-französischer Verse, etwa von drei Strophen, jede von acht oder zehn Versen, deren letzter Vers allezeit einerlei ist, und bleiben immer einerlei Reimsylben von zwei, drei ober vier Reimen.

Romanze ist (nach Ebers) a Spanish Ballad, a sort of Poesy in short Verses, containing some ancient story (eine Art Dichtung in kurzen Versen, irgend eine alte Geschichte erzählend), oder anderwärts ist nach ihm romance 1) eine erdichtete Liebes- oder Heldengeschichte, eine kriegerische Begebenheit aus den mittlern Zeiten; 2) eine Lüge, Erdichtung, und to romance erdichten, lügen.

Nach Gattel ist Romance "cierta composicion de versos!" oder la lengua Romana antigua, algo corrompida, sea en Frances, sea en Castellano.

Nach dem französischen Wörterbuche: die römische verdorbene Sprache in Frankreich, Spanien u. s. w., item ein spanisch klein Heldengedicht.

Von Rondelet (roundelay) sagt uns Ebers: "ist eine altfranzösische Versart"; und das französische Lexicon "eine spanische Reimart, so bei dem Tanz gesungen wird."

Es würde leicht seyn, noch viele dergleichen vage Erklärungen aufzufinden, sie würden aber zu nichts weiter führen, als zu dem Schlusse, daß es noch keine Stereotypenerklärung für das alte Volkslied gibt. Unten werden wir noch einmal bei der Sonderung der Balladen auf jene Erklärungen zurückkommen; hier entnehmen wir nur so viel aus den vagen Umschreibungen zur ersten Feststellung des Begriffes Ballade, ohne auf die Form zu sehen:

1) Die Ballade wird gesungen – auf der Gasse in unsern Zeiten – in der Vorzeit in Schlössern und Konigspalästen;

2) sie erzählt irgend eine alte Geschichte.

Hier haben wir die Hauptelemente. Die Ballade ist die Erzählung einer alten Geschichte. Sie berichtet die Begebenheiten der Vorzeit. Für unsere Zeit ist leider diese Definition richtig. Die Balladen, welche bei uns lebendig sind, erzählen nur alte Geschichten. Es war aber nicht immer so. Die heidnische Vorwelt des Nordens hatte, wie das christliche Mittelalter, ihre Barden und Sänger, welche auch die Thaten der Gegenwart, oder der jüngsten Vergangenheit in Liedern feierten. Ganz ist auch bei uns das erzählende Volkslied nicht ausgestorben. In England wenigstens lebt noch immer die Ballade, wenn auch mit weit geringerer Beimischung wahrer Poesie, im gemeinen Volke fort. Wie auch in unsern nächsten Umgebungen noch zuweilen ein Funke dieser Volkspoesie sich lebendig zeige, darauf werden wir weiter unten noch einmal zurückkommen.

Die Ballade ist aber immer noch nicht rein episch geworden, es ist keine rein objective Darstellung der Begebenheiten, die Lyrik lebt noch darin. Die Ballade ist noch Lied, sie muß noch können [14] gesungen werden. Nicht mit Unrecht sagt daher Percy in den Reliques of ancient English Poetry: er habe seine größtentheits aus Balladen bestehenden Mittheilungen aus der lyrischen Gattung erwählt; und auch Eschenburg ist nichts vorzuwerfen, wenn er in der Beispielsammlung die Balladen und Romanzen unter den lyrischen Poesien aufführt. Auch die der Erinnerung merkwürdiger Begebenheiten gewidmeten Balladen wurden nur gedichtet, um gesungen zu werden. Erst in den spätesten Zeiten schrieb man sie nieder, in der Absicht; sie dem Drucke zu vertrauen. Dies konnten aber nicht mehr die einfachen Volkslieder seyn, deren Bedeutung und Zweck es war, von Mund zu Munde forterbend, auch des Enkels schlichten Begriffen das anschaulich zu machen, was der Großvater mit eignen Augen erlebt hatte. Sobald der kunstgerechte Dichter jene Bedeutung der Ballade aus den Augen verlor, nach welcher sie nur das ausspricht, was in den Begriffen des Volkes lebt oder leben kann, und nur das vormalt, was das Volk gesehen hat, oder sehen kann, mußte auch das Wesen der Ballade verloren gehen, und Thor und Thür war der Unnatur geöffnet, welche aus dieser Dichtung durch Prunk in der Schilderung, Einverwebung philosophischer Wahrheiten u. s. w., wer weiß welche Gattung der Poesie, nur keine Ballade in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes hervorbrachte. – Noch in einer andern Beziehung als der des gesungenen Liedes, hat die Ballade lyrische Elemente in sich. Wir haben erwähnt, daß die Ballade auch die Gegenwart oder die jüngst vergangene Zeit herrühren könne. Es mögen die Balladen dieser Art vielleicht die frühsten gewesen seyn. An den Trümmern des eben zerstörten Schlosses, auf dem Schlachtfelde, wo noch nicht die Spuren der Zerstörung verwischt waren, stand ein Minstrel und sang den um ihn stehenden Landleuten von der vergangenen Herrlichkeit, von dem vorübergegangenen Schrecken. Allen seinen Hörern war die Begebenheit sowohl als dem Sänger selbst bekannt, er brauchte die Geschichte deshalb nicht in ihrem ganzen Zusammenhange zu erzählen, sondern nur Momente daraus den Sinnen der Zuhörer zurückzurufen, indem er einzelne Bilder lebendig hinmalte, oder seinen Gefühlen mit leisen Andeutungen auf andere wohlbekannte Momente Worte gab. Indem er malte, klagte und jauchzte, zwang er die Hörer zu gleicher Theilnahme. Diese der Ballade nicht abzusprechende ganz lyrische Seite stellt sie in nahe Verwandtschaft mit der ausgebildetsten Gattung der lyrischen Poesie, mit der Ode. Auch der Odendichter setzt voraus, daß der von ihm gepriesene Gegenstand dem Leser bekannt sey, und er hebt mit subjectiver Anschauung die einzelnen Eigenschaften desselben heraus.

Um mit wenigen Worten den historischen Standpunct der Ballade anzugeben, sagen wir: Die Ballade steht zwischen dem [15] freien Liede und dem Epos mitten inne. Sie ist mit beiden nahe verwandt, indem sie die Tochter des Liedes war und die Mutter des Epos ward. Nach diesem Verwandtschaftsverhältniß muß man die reichen Erscheinungen der Ballade eintheilen, und jeder Dichter sollte diese Grenzen, wenn er sich zutraut Balladen zu erschaffen, immer vor Augen haben.

Wie aus dem Liede die Ballade entstehen konnte, haben wir bisher zu zeigen versucht; die strengen Grenzen anzugeben, ist unmöglich. So wie historisch sich das epische Element mit dem ursprünglich lyrischen allmälig verband, so ist auch in der Erscheinung der Uebergang vom Liede zur Ballade nicht streng bezeichnet. Die Ballade galt in Deutschland, wo überhaupt der Name erst spät Eingang fand, noch immer als Lied, weil sie gesungen wurde, und Büsching und Hagen haben in ihrer Sammlung "Deutscher Volkslieder" auch Balladen ohne weitere Unterscheidung aufgenommen. Es wäre vielleicht auch nicht unersprießlich gewesen, wenn der Deutsche fortwährend nur den Namen des Liedes vor Augen gehabt hätte. Alsdann würden unsere ausgezeichneten Dichter, eingedenk, daß das Lied müsse gesungen worden, nicht auf den Abweg gerathen seyn, poetische Compositionen, wo der Reichthum an Begebenheiten, die Masse der Schilderungen, die Inhaltsschwere der Gedanken und Motive, und die Künstlichkeit der Verse schon beim Lesen das Verständniß erschweren, die Möglichkeit sie zu singen aber ganz ausschließen, – Balladen zu nennen. Wer könnte z  B. Schiller's Taucher, in dem angeführten Sinne eine Ballade nennen? Dagegen sind die Balladen und Romanzen der Engländer und Spanier, auch aus den spätern Zeiten, immer im Rhythmus des Liedes gedichtet, wenn auch andere Umstände vielleicht den Gesang ausschließen. Auf jeden Fall wird der Dichter, welcher die historische Bedeutung der Ballade, nach welcher sie nur als Lied auftreten kann, vor Augen hat, den Hauptanforderungen an eine wahre Ballade genügen, – er wird die Einfalt ehren.

Die Ballade ist aber auch die Mutter des Epos. – Mögen auch die, welche schmerzlich die geniale Wegleugnung des einen Sängers Homeros empfinden, immer beweisen, daß unsere Ilias, wie wir sie vor uns sehen, von einem Dichter herrühre und nicht von dreißig Homeriden, so werden sie doch nie beweisen, daß ein Geist die ganze große Dichtung erschaffen habe. Solcher Reichthum, solche Ausbildung trat nicht wie der Deus ex machina im Kindesalter einer Nation urplötzlich in einem Individuum hervor. So weiter wir der Entstehung der meisten berühmten Epopöen nachforschen, finden wir, daß ein genialer Geist nur mit den vorhandenen Elementen das große Gebäude aufgeführt hat. Anderwärts sehen wir große Massen epischen Stoffes, welche sich dem [16] Nationalepos genähert haben, aber, weil die Volkspoesie erstorben war, ehe die Massen sich verbinden konnten, im Werden stehen geblieben sind. – Lassen wir die Bücher Moses als Epos gelten, haben nicht die einzelnen Sagen der Genesis lange vor der schriftlichen Aufzeichnung im israelitischen Volke gelebt? – Zwar können wir nicht mit Bestimmtheit die einzelnen Volkslieder und Erzählungen aufweisen, aus welchen das große Nationalepos der Nibelungen entstanden ist: aber wer wollte das Vorhandenseyn des Stoffes, aus welchem der letzte Componist schöpfte, wegleugnen, wenn er den Wiederklang der nibelung'schen Mythen in den vielen Nationaldichtungen des Mittelalters wiederfindet? – Ist nicht vor ganz kurzem noch durch Wilhelm Müller, Valentin Schmidt und Andere dargethan, daß selbst Ariosto's rasender Roland nicht allein nach den Fabeln des Bojardo, sondern vermittelst desselben aus den Fabelballaden der verschiedensten improvisirenden Bänkelsänger und aus frühern Epikern, vielleicht nur mit ironischer Auffassung, zusammengesetzt sey? – Zu den nördlichen Germanen kam zu schnell südliche Bildung und der Einfluß fremder Cultur, so daß die isländischen Göttersagen sich zu keinem großen Epos mehr gestalten konnten, obgleich die meisten Balladen schon zusammengeschmolzen waren. – Auf ähnlichem Standpuncte mögen die ossian'schen Gesänge stehen geblieben seyn, an deren Echtheit der Referent insofern glaubt, daß sie nicht das Machwerk des Kritikers Macpherson, sondern ihrem Kerne nach wirklich aus dem Munde der Barden des schottischen Hochlandes hervorgegangen sind.

Der Schleier des mythischen Alterthums ruht über den Begebenheiten des trojanischen Krieges. Aber so gut die ersten Großthaten des hellenischen Volkes den Dichter des romantisch christlichen Mittelalters zur Besingung jenes Krieges begeistern konnten, um so mehr mußten die Trümmer einer mächtigen Stadt, die Gefilde Troja's, die Berge, die Bäche und Meeresgestade, an welchen Trojaner und Griechen nach der von Munde zu Munde gehenden Ueberlieferung sollten gefochten haben, die in glücklicher Freiheit lebenden Bewohner jener Gegenden zum Gesange anfeuern. Ref. kann nie ohne innere Bewegung, ohne lebendige Anschauung der vergangenen Herrlichkeit die zwei einfachen Schlußverse eines Liedes unsers alten Balde lefen:

Ubi steterunt Pergama,
Nunc fluctuant aristae
*).

[17] Wie viel lebendiger muß die Erinnerung, um wie viel inniger die Theilnahme der regsamen jonischen Griechen gewesen seyn, die jene ruhigen Aehrenfelder mit leiblichen Augen vor sich sahen, und die durch ihre Väter von der Herrlichkeit der Königsstadt, bei deren Zerstörung sie selbst vielleicht thatig gewesen waren, gehört hatten! Der glückliche Himmelsstrich, der freie Verkehr mit den Schatzgruben des Orients und den hellenischen Inselstaaten, und der daraus entspringende freie Sinn bei der Freiheit von Nahrungssorgen, mußte auch die Gemüther dieser bildsamen Stämme der Poesie zuwenden. Trotz der Klarheit des Himmels, der ruhigen Meereswogen und wie weit auch das freie Auge vom Berge Ida herab den classischen Boden betrachten mochte, eine solche Klarheit konnte der Geist auch des hochbegabtesten Sängers in jenem Bildungsstande nicht gewonnen haben, um den Reichthum aller mythischen und historischen Erscheinungen des ganzen trojanischen Krieges so zu übersehen, um sie zu einem großen Epos zu gestalten. Nur von Nichtdichtern geht die Erklärung der Poesie aus, nach welcher dem Poeten mit Einem Male, wie durch einen elektrischen Schlag, das ganze große Gemälde seiner Dichtung mit allen Nebenzügen vor Augen stehen soll. Es ist erwiesen, daß auch bei den genialsten Dichtern dies nicht der Fall gewesen, daß sie im Gegentheil von der poetischen Anschauung der einen Erscheinung gebaut, und erst auf der letzten Sprosse dieser geistigen Leiter einen ganz freien Ueberblick gewonnen haben. Je größer der Reichthum der vor dem Dichter liegenden Massen ist, um so schwieriger wird der Ueberblick; wie es ja auch auf dem höchsten europäischen Gebirge, den Alpen, am schwierigsten ist, den höchsten Punct zu finden, um den Ueberblick über die ganze Kette zu gewinnen. Die poetische An- und Unterordnung der historischen Massen, oft der Prüfstein des wahren Dichters, scheint nur dem Blicke des Uneingeweihten eine geringe Arbeit.

Auch der freieste Geist jener glücklichen, aber doch nur auf der ersten Stufe geistiger Ausbildung stehenden Jonier, konnte nicht die große Iliade erschaffen. Des Menschen, und besonders des Dichters Geist ist an der einzelnen Erscheinung gefesselt; erst sehr langsam arbeitet er sich empor, um den Ueberblick aller Erscheinungen zu gewinnen, und sie dann in sich zu ordnen und Betrachtungen anzustellen. Die Sage ging durch das Land und machte Berg und Thal und Klippe heilig, weil Thaten hier vollbracht waren. Der einzelne Rhapsode stand am Meergestade und, während die Wogen am Felsen brandeten, sah er Thetis aus dem Schaume erstehen und mit dem Sohne reden. Der andere sah Gewitterwolken den Gipfel des Ida umhüllen und sang von den Göttern des Olympes. Ein dritter wohnte am Scamander, und während der Fluß, vom Winde bewegt, zwischen dem geworfenen Binsengestade [18] daherrauschte, erblickte er die hingewürgten Troer von den Wellen getragen. So gingen die Rhapsodieen von Mund zu Mund, sowohl die, welche die natürlichen Thaten der Heroen wiedererzählten, als auch die gleich anfangs in den Schleier des Wunderbaren verhüllten; nur mit dem Unterschiede, daß jene mit der Zeit, welche die Geschichte durch die Entfernung immer wunderbarer werden ließ, auch selbst sich mehr der Mythe nähern mußten. In dem geselligen, handeltreibenden Jonien war die Mittheilung leicht, wie es ja noch ein Charakterzug der heutigen entarteten Griechen ist, daß die Nachrichten schneller wie Gedanken sich verbreiten und in dem schnellen Fortlaufe größer werden als die herabstürzende Lavine *). Die Rhapsodieen wurden bald ein Gemeingut aller ionischen, später auch der Griechen des Festlandes. Durch den beständigen Verkehr hatte die Sprache einen großen Reichthum, eine ungemeine Weichheit erhalten; es war daher natürlich, daß jeder, auf den die Rhapsodie durch Ueberlieferung kam, sie beim Vortrage in seine weiter ausgebildete Sprache übersetzte. Eben so muß man annehmen, daß der Kundige sie in Einklang mit den andern Gesängen zu bringen strebte, und sich daher Abänderungen erlaubte, welche leicht möglich waren, so lange das Gedicht noch nicht durch die Schrift eine feste Gestalt gewonnen hatte.

Nur auf solche ausgesprochne Sagen, auf solche allmälige Abrundung der Gesänge von den Heldenthaten einer glorreichen Vorzeit konnte in jener ersten Bildungsperiode ein solches großes Nationalepos, als die Iliade, welche in jedem ihrer einzelnen Theile gleiche Kraft, Leben und kindliche Einfalt verräth, gebaut werden. Wie die Iliade zusammengesetzt ist? welches die einzelnen Rapsodieen sind? und ob Lykurg, Pisistratos, oder aber die Alexandriner das Meiste zur Verschmelzung der einzelnen epischen Stoffe mögen gethan haben? ist für uns hier gleichgültig. Eben so wenig wollen wir in den einzelnen Versen des großen Epos die heraussuchen, welche einst dem Volksliede angehörten. Hundertfältig mögen die alten Rondelets umgeschmolzen seyn, ehe sie zu den tönenden Hexametern wurden, welche wir in der Iliade bewundern: aber das sowohl ihre Elemente, als die der fabelreichen Odyssee, Volksballaden gewesen sind, und daß keine Ilias ohne das Medium derselben hätte aus der Phantasie eines Dichters, gleich der geharnischten Pallas Athene, emporsteigen können, daran werden die spätern Generationen nicht mehr zweifeln, wenn sie neben Wolfs scharfsinnigen Beweisen das Wesen der wahren Volkspoesie erkannt haben.

Einige Freunde Homer's sehen die Wegleugnung der Existenz [19] des einen Schöpfers als eine Entwürdigung der großen Dichtung an. Ihnen würde die Iliade weniger werth seyn, wenn sie nicht aus einem Guß des Genius entstanden, sondern aus hundert Liedern der Bankelsänger zusammengeleimt wäre. Kann ihnen aber nicht das Daseyn der Iliade genügen, wenn sie auch nicht die einfältige Schönheit der Volkspoesie anerkennen wollen? – Was ist die Poesie anders, als der Ausspruch der Gedanken und Bilder, welche im Dichter leben? – In der Kindheit eines Volkes leben nur wenige, einfache Gedanken; Gedanken, die nur das Nächste berühren, und Bilder, wie sie die Natur des Himmelsstriches den Einwohnern darbietet. Aber alles ist Gemeingut. Die Charaktere mögen auch noch so scharf sich sondern, dieselben Motive treiben an, dieselben Zielpuncte stehen fest, beide auf Sinnlichkeit und Bedürfniß basirt, und dieselben Vorstellungen walten vor. Jeder Dichter in jener Zeit ist daher ein Volksdichter, denn er spricht in seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Bildern nur die aus, welche im ganzen Volke leben. Volkspoesie ist also diejenige, welche die Ansichten, Stimmungen und Vorstellungen ausdrückt, welche im Volke leben und die jeder aus dem Volke, wenn der Dichter ihm das Lied mittheilt, begreift, und wo er allenfalls in die Worte ausbricht: so hab' ich's auch gedacht, so hab' ich's auch gesehen! – Unter den ionischen Griechen lebten nicht allein die Bilder vom Untergange Trojas, nicht allein die Worte der Heroen fort, sondern die Sänger des Volks hatten den Bildern schon eine poetische Form gegeben und die Gedanken und überlieferten Worte zu Liedern umgeschaffen. Sollte nun der, welcher alle diese lebendigen Lieder im Geist überschaute und so zusammenfaßte, daß sie einen großen Gesang bildeten, in welchem der erfreute Hellene die Geschichte seiner heiligen Vorzeit lebendig erblickte, – sollte der ein geringerer Dichter seyn, als einer, der, aus der Phantasie geschöpft, eine selbstständige Epopöe gedichtet hat? Diese absolute Erfindungskraft ist überhaupt so zweifelhaft; gewiß aber ist, daß unter den vorhandenen epischen Gedichten diejenigen das dauerndste Interesse, das meiste Leben in sich haben, deren Ursprung man auf Volkspoesie zurückführen kann. Virgil nahm in der Aeneide zwar die dunkeln Mährchen der Vorwelt auf: dennoch war und wurde seine elegante Hofdichtung nirgend anders populär, als beim abgesonderten Gelehrtenstande. Tasso's befreites Jerusalem entstand ebenfalls zu lange Zeit nach den Kreuzzügen und war auch größtentheils aus zu willkürlich Erfundenem zusammengesetzt, als daß es an sich alle Classen des Volkes so hätte bewegen können, wie dies mit Ariosto's Composition, den noch immer lebenden bunten Mährchen, der Fall war. Wie bald waren Petrarca's gelehrte lateinische Epopöen vergessen, und sind es andere Motive, als anfänglich der religiöse Sinn der Zeit, [20] jetzt nur der englische Nationalstolz, welche Milton's verlornes Paradies noch immer laut preis en lassen? Troz aller innewohnenden Poesie konnte auch Milton niemals populär werden, da er die lustige und derbe Volkspoesie verachtete und nur aus der Fülle seiner innern Begeisterung und Gelehrsamkeit schöpfen wollte. Wie Viele unter uns mögen Klopstock's Messiade ganz gelesen haben, und was ist das Schicksal der vielen Heldengedichte, welche die neueste Zeit, gleich der Pallas geharnischt, Bände stark entstehen sieht?

Daß in unserer Zeit kein wahres Epos mehr entstehen könne, ist schon oft gesagt. Das heißt nicht, daß keine großen Genien mehr aufstehen sollten, oder daß die Poesie in irgend einer Art erstorben sey. Es bedarf nur einer leisen Erweckung, und der Genius hebt sich empor. Aber kein Genius kann ohne Beihülfe und gleiches Streben seiner Umwelt das zurückzaubern, was nur in frühern Generationen lebte und leben konnte. Aller Wille, alle Kraft reichen nicht hin, eine Periode der Vergangenheit wieder zu erschaffen. Nur für die Zukunft wirkt der Genius; und doch nur dann am einflußreichsten, wenn er auf dem Vorhandenen fortbaut. – Die Volkspoesie ist ausgestorben, wie der Begriff des Volkes selbst schwankt. Unsere Dichtungen sind nur für die Gebildeten, und selbst unter diesen sind der Abstufungen so viele, daß die Niedrigen das nicht verstehen, was für die Hochgebildeten gedichtet ward; und diese oft das nicht lesen mögen, was in den Sphären jener sich bewegt. – Wo keine poetischen Ueberlieferungen der Geschichte mehr bei den Individuen einer Nation leben, wo die große Masse in dumpfer Gleichgültigkeit es den Gelehrten überläßt, die Geschichte in ihre Annalen einzuregistriren, und den Dichtern, das Poetische daraus in Verse aufs Papier zu bringen, – da kann kein Nationalepos mehr erwachsen. Der Dichter dichtet aus sich und aus den schriftlichen Mittheilungen; der Historiker lernt nichts daraus, und dem Volke bleibt das Kunstwerk ganz fremd. So kann das neuere Epos nur für den Gebildeten Interesse, nie aber die berauschende Wirkung auf das Volk haben, welche Homer's Gesänge auf die Hellenen ausübten, die in ihnen die Geschichte ihres Vaterlandes, die höchste Poesie und zugleich sich selbst verehrten: denn aus ihrer Mitte waren die Gesänge hervorgegangen, und jeder betrachtete sie noch immer als sein Eigenthum. – Es ist eine andere Frage, ob nicht dereinst durch die Fortschritte der Bildung bei einer neu geschaffenen Nationalität auch eine neue Volkspoesie erstehen, und dann vielleicht wieder die Zeit des Epos eintreten werde. – Der große Befreiungskrieg war eine Begebenheit, welche den Begriff "Volk" wieder erweckte. Es zeigte sich in Norddeutschland so ziemlich Ein Geist, Eine Ansicht, und dasselbe Interesse vereinigte Gebildete und die niedern Volksclassen. Bei der gleichen Begeisterung [21] schien es auch, als könne eine Volkspoesie im oben angeführten Sinne wieder entstehen; schon hörte man Lieder von den Großthaten des Marschall Vorwärts, von den Fluchten der Franzosen, Spottgedichte auf Napoleon auf den Gassen von Harfnern singen, und in das lyrische Lied mischte sich das epische Element. Schon hegte Referent die kühne Hoffnung, daß dereinst vielleicht diese Lieder den Stoff zu einem großen nationalen Epos der Deutschen geben könnten: – aber die Zeit ist vorüber, Wenige denken mehr an ihre Großthaten; der Begriff des Volkes ist unter andern Spaltungen, als denen zwischen Gebildeten und Ungebildeten, verschwunden, andere Interessen regieren, und die Bänkelsänger sind mit ihren Liedern vom Feldmarschall Blücher und der Katzbach von den Straßen entwichen.

Aber nicht allen Völkern lächelte das Glück so, wie den Hellenen. Der Fall der heiligen Ilias, das erste große Unternehmen, welches ihre Stämme vereinigt hatte, und an welches die hellenische Geschichte und Poesie sich knüpft, hat bei keiner andern Nation ein Analogon. Wohl geschahen Heldenthaten im Heroenalter eines jeden Volkes: aber sie stehen vereinzelt da, oder gewannen doch nie für die Nachwelt eine dem trojanischen Kriege ähnliche Bedeutung. Gleichergestalt war die Oertlichkeit zur Verschmelzung der epischen Poesie nirgends so günstig, als in den ionischen Küstenländern. Der wenige Verkehr unter den barbarischen Ländern hinderte die Mittheilung, und es fehlte der Vereinigungspunct der Gedanken, da die Sage selbst den getrennten Stämmen keinen solchen historisch darbot. Wohl gab es daber bei allen Völkern Rhapsodieen, gleich denen der ionischen Griechen vom trojanischen Kriege, aber es fehlte der gemeinsame Mittelpunct, um welchen sich diese Rhapsodieen im Kreise hätten bewegen können, und es fehlte die gegenseitige Mittheilung, so daß die Lieder, statt Gemeingut der ganzen Nation zu werden, nur das Eigenthum der einzelnen Stämme verblieben. Wo also Sage und Poesie nicht lebendig im ganzen Volke waren, konnte auch kein Homer aufstehen und der gemeinsamen Dichtung Sprache und die Form des Epos geben. Wohl näherten sich die epischen Volkslieder verschiedener Nationen dem Zustande, wo die Gestaltung eines Nationalepos möglich wird, und wir besitzen angeführtermaßen Epopöen, welche aus den Elementen der Volkspoesie zusammengestellt sind: es gibt aber nur das eine Nationalepos – die Iliade.

Was die Sage uns von den frühern Großthaten der Griechen berichtet, besteht nur aus Abenteuern der Einzelnen, wie der Argonautenzug und die Abenteuer des Herkules, und ward durch kein Epos gefeiert. Auch die Vorzeit der Römer ist reich an Abenteuern: aber auch hier fehlte eine hervorleuchtende Begebenheit, ein Verei[22]nigungspunkt der Sagen, welche den verschiebenen Stämmen Italiens anzugehören scheinen, und merkwürdiger Weise sind diese Sagen uns nicht als Volkslieder im poetischen Gewande, sondern als Legenden von spätern Historikern überliefert worden. Reich an Berührung war das wiedererwachte Leben der christlichen Spanier, und alles vereinte sich, um auch durch die Poesie das Andenken ihrer Kämpfe und Abenteuer mit den Saracenen lebendig zu erhalten: aber es waren immer nur tausend einzelne Ritterthaten, kein großes Unternehmen trat aus ihnen hervor, und so konnten auch die Romanzen, welche die einzelnen Großthaten besangen, sich nicht zu einem großen Epos verschmelzen. Inwieweit die größere Erscheinung des Cid auch in der Romanzenpoesie die Abrundung der ihn besingenden Lieder zu einer Art Epos bewirkt habe, werden wir unten noch einmal berühren. Späterhin, als die Poesie aus dem Munde des Volkes in die Hände der ihr geweihten Priester, der Minstrels und Troubadours gerieth, und nunmehr durch die gegenseitigen Mittheilungen der ritterlichen Sängerschulen gewissermaßen eine europäische Ritternationalpoesie entstand, da fanden die einzelnen epischen Lieder auch bald Vereinigungspuncte, wie den König Artus, Karl den Großen; ja die phantasiereichen Dichter verschmähten es nicht, selbst den trojanischen Krieg zum Mittelpunct ihrer Lieder zu wählen, und der Reichthum der einzelnen Gesänge drängte sich zu größern epischen Massen zusammen, obgleich niemals ein Nationalepos entstehen konnte, da die schöne Poesie, welche schon in der Zeit ihrer Blüthe nicht mit vollem Rechte eine nationale genannt werden konnte, in den folgenden rohen Zeiten bald ganz unterging.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[5] *) Bemerkungen und Ansichten auf einer Entdeckungsreise in den Jahren 1815 – 1818 unter u. s. w. Otto von Kotzebue; vom Naturforscher der Expedition, Adalbert von Chamisso. Weimar, Gebrüder Hofmann.   zurück

[16] *) In einer altenglischen Ballade findet sich dasselbe Bild:
                  Wast lye those walls, that were so good,
                  And corn now grows where Troye towne stood.
                                              The wandering prince of Troy
.   zurück

[18] *) Siehe Lieber's Tagebuch seines Aufenthaltes in Griechenland. Leipzig, Brockhaus.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Hermes oder Kritisches Jahrbuch der Literatur.
Bd. 21, 1824, Erstes Stück, S. 1-114.

Gezeichnet: Willibald Alexis.

Unser Auszug: S. 1-22.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Hermes, oder Kritisches Jahrbuch der Literatur   online
URL: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/90202/1/
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008697248
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#H

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: Alexis

Beutin, Wolfgang / Stein, Peter (Hrsg.): Willibald Alexis (1798 - 1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz. Bielefeld 2000.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Carpent, Thierry: Willibald Alexis, intellectuel du "juste milieu". Histoire, droit et politique dans l'Allemagne du XIXe siècle. Bern 2002.

Christians, Heiko: Der Traum vom Epos. Romankritik und politische Poetik in Deutschland (1750 - 2000). Freiburg i.Br. 2004.

Göttsche, Dirk: Zeitreflexion und Erinnerungsdiskurs in Willibald Alexis' Werk der 1820er/1830er-Jahre. Eine Fallstudie zur Zeitpoetik des Frührealismus In: Die Kalibrierung literarischer Zeit. Strukturwandel am Ende der Goethezeit. Hrsg. von Stephan Brössel u. Stefan Tetzlaff. Marburg 2022, S. 55-69.

Keppler-Tasaki, Stefan: Literarische Anglophilie und deutscher Nationalstaat: Walter Scott bei Willibald Alexis, Hermann von Pückler-Muskau und Gustav Freytag. In: Britisch-deutscher Literaturtransfer 1756-1832. Hrsg. von Lore Knapp u. Eike Kronshage. Berlin 2016, S. 217-236.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

 

 

Literatur: Ballade

Bartl, Andrea u.a. (Hrsg.): Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Würzburg 2017.

Berner, Hannah: Inszenierte Volkstümlichkeit in Balladen von 1800 bis 1850. Heidelberg 2020.

Buffard-Moret, Brigitte / Demaules, Mireille (Hrsg.): La Ballade, histoire et avatars d'une forme poétique. Paris 2020.

Bushell, Sally (Hrsg.): The Cambridge Companion to 'Lyrical Ballads'. Cambridge 2020.

Cohen, Michael C. (Hrsg.): The Ballad. A Special Issue on Historical Poetics and Genre. In: Nineteenth-Century Literature 71.2 (2016), S. 147-255.

Daub, Adrian: What the Ballad Knows. The Ballad Genre, Memory Culture, and German Nationalism. New York 2022.

Henville, Letitia (Hrsg.): Ballads [Special Issue]. In: Victorian Poetry 54 (2016), S. 411-524.

Labarthe, Judith u.a. (Hrsg.): La ballade (XVIIIe - XXe siècle). Littérature savante, littérature populaire et musique. Nantes 2008.

Laufhütte, Hartmut: Die deutsche Kunstballade.. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg 1979.

Newman, Steve: Ballad Collection, Lyric, and the Canon. The Call of the Popular from the Restoration to the New Criticism Philadelphia 2007.

Schwarz-Scherer, Marianne: Lyrisches Erzählen. Eine Gattungsgeschichte der DDR-Ballade. Berlin 2021.

 

 

Literatur: Hermes

Brockhaus, Heinrich Eduard: Friedrich Arnold Brockhaus. Sein Leben und Wirken nach Briefen und anderen Aufzeichnungen geschildert von seinem Enkel Heinrich Eduard Brockhaus. Bd. 2. Leipzig 1876.
URL: https://www.google.de/books/edition/Friedrich_Arnold_Brockhaus/xdRoAAAAcAAJ
URL: https://archive.org/details/friedricharnold02brocgoog

Obenaus, Sibylle: Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1973), Sp. 1-122.

Roth, Udo: Den Götterboten der Kürze wegen. Der "Hermes" im Verlag von Friedrich Arnold Brockhaus. In: Immermann-Jahrbuch 14-16 (2013-2015), S. 15-37.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer