Text
Editionsbericht
Literatur: Goethe
Literatur: Gelegenheitslyrik
Jena, Donnerstag den 18. September 1823.
Gestern morgen, vor Goethe's Abreise nach Weimar, war ich so glücklich wieder ein Stündchen bey ihm zu seyn. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch, was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutschland müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.
Er leitete das Gespräch ein indem er mich fragte, ob ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich antwortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. "Nehmen Sie sich in Acht, sagte er darauf, vor einer großen Arbeit. Das ist's eben, woran unsere Besten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran gelitten und weiß was es mir geschadet hat. – Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! – Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen können, es würden keine hundert Bände reichen."
"Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen seyn. Hat man aber ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen und man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Gan[52]zes in sich zu ordnen und abzurunden, und welche Kräfte und welche ruhige ungestörte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehörig auszusprechen. Hat man sich nun im Ganzen vergriffen, so ist alle Mühe verloren; ist man ferner, bey einem so umfangreichen Gegenstande, in einzelnen Theilen nicht völlig Herr seines Stoffes, so wird das Ganze stellenweise mangelhaft werden und man wird gescholten; und aus allem entspringt für den Dichter, statt Belohnung und Freude für so viele Mühe und Aufopferung, nichts als Unbehagen und Lähmung der Kräfte. Faßt dagegen der Dichter täglich die Gegenwart auf, und behandelt er immer gleich in frischer Stimmung was sich ihm darbietet, so macht er sicher immer etwas Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, so ist nichts daran verloren."
"Da ist der August Hagen in Königsberg, ein herrliches Talent; haben Sie
seine Olfried und Lisena gelesen? Da sind Stellen darin, wie sie nicht besser
seyn können; die Zustände an der Ostsee und was sonst in dortige Localität
hineinschlägt, alles meisterhaft. Aber es sind nur schöne Stellen, als Ganzes
will es niemanden behagen. Und welche Mühe und welche Kräfte hat er daran
verwendet! ja er hat sich fast daran erschöpft. Jetzt hat er ein Trauerspiel
gemacht!" Dabey lächelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich nahm
das Wort und sagte, daß, wenn ich nicht irre, er Hagen in Kunst und
Alterthum gerathen, nur kleine
[53] Gegenstände zu behandeln. "Freilich habe
ich das, erwiederte Goethe; aber thut man denn, was wir Alten sagen? Jeder
glaubt, er müsse es doch selber am besten wissen, und dabey geht mancher
verloren und mancher hat lange daran zu irren. Es ist aber jetzt keine Zeit
mehr zum Irren, dazu sind wir Alten gewesen, und was hätte uns alle unser
Suchen und Irren geholfen, wenn Ihr jüngeren Leute wieder dieselbigen Wege
laufen wolltet. Da kämen wir ja nie weiter! Uns Alten rechnet man den Irrthum
zu Gute, weil wir die Wege nicht gebahnt fanden; wer aber später in die Welt
eintritt, von dem verlangt man mehr, der soll nicht abermals irren und suchen,
sondern er soll den Rath der Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortschreiten.
Es soll nicht genügen, daß man Schritte thue, die einst zum Ziele führen, sondern
jeder Schritt soll Ziel seyn und als Schritt gelten."
"Tragen Sie diese Worte bey sich herum und sehen Sie zu, was Sie davon mit sich vereinigen können. Es ist mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe Sie durch mein Zureden vielleicht schnell über eine Periode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemäß ist. Machen Sie vor der Hand, wie gesagt, immer nur kleine Gegenstände, immer alles frisch weg was sich Ihnen täglich darbietet, so werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leisten und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunächst in die Taschen[54]bücher, in die Zeitschriften; aber fügen Sie sich nie fremden Anforderungen, sondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn."
"Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an
Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte
seyn, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben.
Allgemein und poetisch wird ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter
behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die
Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der
Luft gegriffen, halte ich nichts."
"Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem Interesse fehle; denn
eben darin bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich genug sey, einem
gewöhnlichen Gegenstande eine interessante Seite abzugewinnen. Die
Wirklichkeit soll die Motive hergeben, die auszusprechenden Puncte,
den eigentlichen Kern; aber ein schönes belebtes Ganzes daraus zu
bilden ist Sache des Dichters. Sie kennen den Fürnstein, den sogenannten
Naturdichter, er hat ein Gedicht gemacht über den Hopfenbau, es läßt sich
nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben,
besonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird;
denn er hat von Jugend auf unter solchen Leuten gelebt, er kennt den
Gegenstand durch und durch, er wird
[55] Herr seines Stoffes seyn. Und das
ist eben der Vortheil bey kleinen Sachen, daß man nur solche Gegenstände
zu wählen braucht und wählen wird, die man kennet, von denen man Herr ist.
Bey einem großen dichterischen Werk geht das aber nicht, da läßt sich
nicht ausweichen, alles was zur Verknüpfung des Ganzen gehört und in
den Plan hinein mit verflochten ist, muß dargestellt werden und zwar
mit getroffener Wahrheit. Bey der Jugend aber ist die Kenntniß der
Dinge noch einseitig; ein großes Werk aber erfordert Vielseitigkeit,
und daran scheitert man."
Ich sagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein großes Gedicht über die Jahreszeiten zu machen und die Beschäftigungen und Belustigungen aller Stände hinein zu verflechten. "Hier ist derselbige Fall, sagte Goethe darauf, es kann Ihnen Vieles daran gelingen, aber Manches, was Sie vielleicht noch nicht gehörig durchforscht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es gelingt Ihnen vielleicht der Fischer, aber der Jäger vielleicht nicht. Geräth aber am Ganzen etwas nicht, so ist es als Ganzes mangelhaft, so gut einzelne Partien auch seyn mögen, und Sie haben nichts Vollendetes geleistet. Stellen Sie aber bloß die einzelnen Partien für sich, selbstständig dar, denen Sie gewachsen sind, so machen Sie sicher etwas Gutes."
"Besonders warne ich vor eigenen großen Erfindungen; denn da will man
eine Ansicht der Dinge geben
[56] und die ist in der Jugend selten reif.
Ferner: Charactere und Ansichten lösen sich als Seiten des Dichters von
ihm ab und berauben ihn für fernere Productionen der Fülle. Und endlich:
welche Zeit geht nicht an der Erfindung und inneren Anordnung und
Verknüpfung verloren, worauf uns niemand etwas zu gute thut, vorausgesetzt
daß wir überall mit unserer Arbeit zu Stande kommen."
"Bey einem gegebenen Stoff hingegen ist alles anders und leichter. Da
werden Facta und Charactere überliefert und der Dichter hat nur die
Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabey seine eigene Fülle, denn er
braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzuthun; auch ist der Verlust von
Zeit und Kräften bey weitem geringer, denn er hat nur die Mühe der Ausführung.
Ja ich rathe sogar zu schon bearbeiteten Gegenständen. Wie oft ist nicht
die Iphigenie gemacht, und doch sind alle verschieden; denn jeder sieht
und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise."
"Aber lassen Sie vor der Hand alles Große zur Seite. Sie haben lange genug gestrebt, es ist Zeit, daß Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben ist die Bearbeitung kleiner Gegenstände das beste Mittel."
Wir waren bey diesem Gespräch in seiner Stube auf und ab gegangen; ich konnte immer nur zustimmen, denn ich fühlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem ganzen Wesen. Bey jedem Schritt ward es mir leich[57]ter und glücklicher, denn ich will nur gestehen, daß verschiedene größere Pläne, womit ich bis jetzt nicht recht ins Klare kommen konnte, mir keine geringe Last gewesen sind. Jetzt habe ich sie von mir geworfen und sie mögen nun ruhen, bis ich einmal einen Gegenstand und eine Partie nach der andern mit Heiterkeit wieder aufnehme und hinzeichne, so wie ich nach und nach durch Erforschung der Welt von den einzelnen Theilen des Stoffes Meister werde.
Ich fühle mich nun durch Goethe's Worte um ein paar Jahre klüger und fortgerückt und weiß in meiner tiefsten Seele das Glück zu erkennen, was es sagen will, wenn man einmal mit einem rechten Meister zusammentrifft. Der Vortheil ist gar nicht zu berechnen.
Was werde ich nun diesen Winter nicht noch bey ihm lernen, und was werde ich nicht durch den bloßen Umgang mit ihm gewinnen, auch in Stunden, wenn er eben nicht grade etwas Bedeutendes spricht! – Seine Person, seine bloße Nähe scheint mir bildend zu seyn, selbst wenn er kein Wort sagte.
Erstdruck und Druckvorlage
Johann Peter Eckermann:
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823 – 1832.
Erster Theil. Leipzig: Brockhaus 1836, S. 51-57.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10068560
URL: https://archive.org/details/gesprchemitgoei02goetgoog
URL: https://books.google.fr/books?id=qn0HAAAAQAAJ
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
Kommentierte Ausgaben
Literatur: Goethe
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Greiner, Bernhard: Das projektive Bild des 'späten Goethe'.
Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe.
In: Altersstile im 19. Jahrhundert.
Hrsg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle.
Würzburg 2014, 21-36.
Michler, Werner: Kulturen der Gattung.
Poetik im Kontext, 1750 – 1950.
Göttingen 2015.
Neuhaus, Volker: Andre verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf dem Papiere.
Goethes Leben in seiner Lyrik.
Köln 2007.
Pinna, Giovanna: Idealität und Individuum.
Zum Lyrikbegriff Schillers und Wilhelm von Humboldts.
In: Die Realität der Idealisten.
Friedrich Schiller – Wilhelm von Humboldt – Alexander von Humboldt.
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Die Dialoge über Literatur im Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer