Johann Wolfgang Goethe

 

 

Noten und Abhandlungen
zu besserem Verständnis
des West-östlichen Divans

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Goethe
Literatur: Orient

 

Dichtarten.

 

Allegorie, Ballade, Cantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopee, Erzählung, Fabel, Heroide, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze, Satyre.

Wenn man vorgemeldete Dichtarten, die wir alphabetisch zusammengestellt, und noch mehrere dergleichen methodisch zu ordnen versuchen wollte, so würde man auf große, nicht leicht zu beseitigende Schwierigkeiten stoßen. Betrachtet man obige Rubriken genauer, so findet man daß sie bald nach äußeren Kennzeichen, bald nach [380] dem Inhalt, wenige aber einer wesentlichen Form nach benamst sind. Man bemerkt schnell daß einige sich neben einander stellen, andere sich andern unterordnen lassen. Zu Vergnügen und Genuß möchte jede wohl für sich bestehen und wirken, wenn man aber, zu didaktischen oder historischen Zwecken, einer rationelleren Anordnung bedürfte, so ist es wohl der Mühe werth sich nach einer solchen umzusehen. Wir bringen daher Folgendes der Prüfung dar.

 

 

[381] Naturformen der Dichtung.

 

Es giebt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drey Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beysammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerthesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drey verbunden und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. Solange der Chor die Hauptperson spielt, zeigt sich Lyrik oben an, wie der Chor mehr Zuschauer wird treten die andern hervor, und zuletzt wo die Handlung sich persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor [382] unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch und den fünften Act, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.

Das Homerische Heldengedicht ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund aufthun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Antwort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Drama's, sind nicht zulässig.

Höre man aber nun den modernen Improvisator auf öffentlichem Markte, der einen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu seyn, erst erzählen, dann, um Interesse zu erregen, als handelnde Person sprechen, zuletzt enthusiastisch auflodern und die Gemüther hinreißen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig; und deßhalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte. Man wird sich aber eini[383]germaßen dadurch helfen daß man die drey Hauptelemente in einem Kreis gegen einander überstellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beyspiele die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreyen erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist.

Auf diesem Wege gelangt man zu schönen Ansichten, sowohl der Dichtarten, als des Charakters der Nationen und ihres Geschmacks in einer Zeitfolge. Und obgleich diese Verfahrungsart mehr zu eigner Belehrung, Unterhaltung und Maßregel, als zum Unterricht anderer geeignet seyn mag, so wäre doch vielleicht ein Schema aufzustellen, welches zugleich die äußeren zufälligen Formen und diese inneren nothwendigen Uranfänge in faßlicher Ordnung darbrächte. Der Versuch jedoch wird immer so schwierig seyn als in der Naturkunde das Bestreben den Bezug auszufinden der äußeren Kennzeichen von Mineralien und Pflanzen zu ihren inneren Bestandtheilen, um eine naturgemäße Ordnung dem Geiste darzustellen.

 

 

[384] Nachtrag.

 

Höchst merkwürdig ist daß die Persische Poesie kein Drama hat. Hätte ein dramatischer Dichter aufstehen können, ihre ganze Literatur müßte ein anderes Ansehn gewonnen haben. Die Nation ist zur Ruhe geneigt, sie läßt sich gern etwas vorerzählen, daher die Unzahl Mährchen und die gränzenlosen Gedichte. So ist auch sonst das orientalische Leben an sich selbst nicht gesprächig; der Despotismus befördert keine Wechselreden und wir finden daß eine jede Einwendung gegen Willen und Befehl des Herrschers allenfalls nur in Citaten des Korans und bekannter Dichterstellen hervortritt, welches aber zugleich einen geistreichen Zustand, Breite, Tiefe und Consequenz der Bildung voraussetzt. Daß jedoch der Orientale die Gesprächsform so wenig als ein anderes Volk entbehren mag, [385] sieht man an der Hochschätzung der Fabeln des Bidpai, der Wiederholung, Nachahmung und Fortsetzung derselben. Die Vögelgespräche des Ferideddin Attar geben hievon gleichfalls das schönste Beyspiel.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

West-oestlicher Divan. von Goethe.
Stuttgard: Cotta 1819, S. 379-385.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11091420
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001959600000000
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t4cp0jg9f

 

 

Kommentierte Ausgaben

 

 

 

Literatur: Goethe

Axer, Eva: "Lebendiges Ur-Ey" und "gegenständliche Dichtung". Goethes gattungstheoretische Äußerungen zur Ballade im Kontext seiner naturwissenschaftlichen Schriften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86 (2012), S. 64-86.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Dill, Christa: Wörterbuch zu Goethes West-östlichem Divan. Tübingen 1987.

Feddern, Stefan: Elemente der antiken Erzähltheorie. Berlin u. Boston 2021.

Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information u. Synthese. München 1973 (= UTB, 133).
Kap. 3.3.3.1. Weltanschaungstypen, psychische Haltungen und Goethes "Naturformen".

Hempfer, Klaus W.: Überlegungen zur historischen Begründung einer systematischen Lyriktheorie. In: Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2008 (= Text und Kontext, 27), S. 33-60.
Vgl. S. 41-43.

Jackson, Virginia: Art. Lyric. In: The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hrsg. von Roland Greene u.a. 4. Aufl. Princeton u.a. 2012, S. 826-834.

Kaufmann, Sebastian: "Schöpft des Dichters reine Hand ...". Studien zu Goethes poetologischer Lyrik. Heidelberg 2011 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 291).

Kleymann, Rabea: Formlose Form. Epistemik und Poetik des Aggregats beim späten Goethe. Paderborn 2021.

Michler, Werner: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750 – 1950. Göttingen 2015.

Nicholls, Angus: Between Natural and Human Science: Scientific Method in Goethe's "Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan". In: Publications of the English Goethe Society 80 (2011), S. 1-18.

Primavesi, Oliver: Aere perennius? Die antike Transformation der Lyrik und die neuzeitliche Gattungstrinität. In: Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags. Hrsg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2008 (= Text und Kontext, 27), S. 15-32.

Richter, Thomas: Die Dialoge über Literatur im Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Stuttgart u. Weimar 2000.

Rodriguez, Antonio (Hrsg.): Dictionnaire du lyrique. Poésie, arts, médias. Paris 2024.

Uhlig, Stefan H.: Rhetoric, Poetics, and Literary Historiography. The Formation of a Discipline at the Turn of the Nineteenth Century. Philadelphia 2024.

Wilson, W. Daniel u.a.: Goethe’s West-östlicher Divan and Its Uses [Special Issue]. In: Publications of the English Goethe Society 89.2/3 (2020), S. 111-275.

Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003.
Vgl. S. 27-29.

Zymner, Rüdiger: 'Naturformen', 'Regeln der Seele'? Poetogene Dispositionen und literaturwissenschaftliche Gattungstheorie. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Hrsg. von Uta Klein u.a. Paderborn 2006 (= Poetogenesis, 3), S. 293-317.

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010.

 

 

Literatur: Orient

Adorisio, Chiara / Bosco, Lorella (Hrsg.): Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Tübingen 2019.

Berman, Nina: German Literature on the Middle East. Discourses and Practices, 1000 - 1989. Ann Arbor, Mich. 2011.

Bernsen, Michael u.a. (Hrsg.): Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientalismus. Tübingen 2006.

Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld 2007.

Bremerich, Stephanie u.a. (Hrsg.): Orientalismus heute. Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft. Berlin 2021.

Czapla, Ralf G. (Hrsg.): "Weltpoesie allein ist Weltversöhnung". Friedrich Rückert und der Orientalismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Baden-Baden 2021.

Elmarsafy, Ziad (Hrsg.): Debating Orientalism. Basingstoke 2013.

Goer, Charis u.a. (Hrsg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Paderborn u.a. 2008.

Hanifzadeh, Massoud: Goethe als Literat zwischen Orient und Okzident im West-östlichen Divan. Baden-Baden 2023.

Hartley, Julia C.: Iran and French Orientalism. Persia in the Literary Culture of nineteenth-century France. London u.a. 2024.

Larcher, Pierre: Orientalisme savant, orientalisme littéraire. Sept essais sur leur connexion. Arles 2017.

Macfie, Alexander L.: Orientalism. A Reader. Edingburgh 2009.

Moussa, Sarga / Murat, Michel (Hrsg.): Poésie et orientalisme. Paris 2015.

Nash, Geoffrey P. (Hrsg.): Orientalism and Literature. Cambridge u.a. 2019.

Schöller, Marco (Hrsg.): Nach Osten! Orientalismus in der deutschsprachigen Dichtung: 1844-1848. Mit Nachträgen für die Jahre 1836-1843. Köln 2023.

Sweet, David LeHardy: Avant-Garde Orientalism. The Eastern “Other” in Twentieth-Century Travel Narrative and Poetry. New York 2017.

Theilhaber, Amir: Friedrich Rosen. Orientalist Scholarship and International Politics. Berlin 2020.

Trüper, Henning: Orientalism, Philology, and the Illegibility of the Modern World. London 2020.

Watt, James: British Orientalisms, 1759–1835. Cambridge u.a. 2019.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer