Lyrisches Gedicht
Gemischte lyrische Dichtung
Editionsbericht
Literatur
Das lyrische Gedicht ist ein mit Absicht und Zweck zu einem Total-Eindruck verbundenes ästhetisches Ganzes,
in welchem sich das ästhetische Ideal als ein Inneres, als Gefühl darstellt, und es theilt sich in Hymnus
und geistliches Lied, Ode, Lied, Elegie, Sonett, Canzone, Madrigal, Rondeau, Triolet,
Sestine, Stanze, Heroide, Epistel.
Es gelten dafür im Allgemeinen die Anforderungen, welche in Hinsicht des Stoffes
(§. 199 u. f.), der Anordnung (§. 239 u. f.) und der Darstellung
(§. 295 u. f.) sind aufgestellt worden.
Der Hymnus ist lyrischer Ausbruch der durch die allgemeine und höchste Beziehung
der Menschheit zum Uebersinnlichen entflammten Begeisterung. Diese Beziehung ist für die
Menschheit die wichtigste und höchste, allein auch die für den endlichen Geist unergründlichste;
der Endliche ringt hier mit dem Unendlichen, der Sinnliche mit dem Uebersinnlichen;
er will es unter Form bringen. Dieses Ringen wird nothwendig die tiefsten Gefühle der
Rührung, und zwar einer feierlichen, ernsten oder heitern aufregen, die sich in den
kühnsten Bildern, in dem höchsten Schwunge der Sprache, und in einer angemessenen Sprachform
(durch Metrum und Gleichklang) ausprägen wird.
Das ästhetische Gefühl, das durch den Hymnus bestimmt werden soll, kann nur das Gefühl des Erhabenen
(§. 103 u. f.) seyn, und also werden auch nur das Erhabene, Majestätische, Herrlichgroße,
Feierliche (§. 115 u. f.) als Motive gebraucht werden können, und allenfalls das Elegische
(§. 78.) als Contrast.
Das Gefühl wird schon in voller Regung seyn müssen, bevor es ausströmt, daher der Hymnus mitten im Gefühle anhebt. In dieser höchsten Spannung kann das Gefühl, in diesem Ringen mit dem Unendlichen das ästhetische Vorstellungsvermögen nicht lange verharren, und also wird der Hymnus nicht von zu langer Dauer seyn können.
Dem Hymnus kann unmittelbar das Uebersinnliche selbst, oder ein
sichtbares Bild desselben, wie z.B. die Natur (insofern das Göttliche in ihr
ausgeprägt ist), zum Grunde liegen. Das höchste Aufjauchzen des Gefühls im
letztern Falle hieß bei den Alten Dithyrambus, in welchem die größte Trunkenheit
des durch das Göttliche in der Natur berauschten Gemüths sich darstellt.
Anmerkung 1. Diese Trunkenheit war den Alten, welche die Gottheit nur in der Natur erkannten,
natürlicher als den Neuern, – wenigstens den Christen.
Anmerkung 2. Da die Alten das Uebersinnliche nur im Sinnlichen erkannten, so
ergriffen sie dieses, das sich ihnen schon unter Gestalt darbot, und ihre Darstellung
war daher mehr plastisch. Der Christ ergreift das Uebersinliche unmittelbar und das
Sinnliche geistig, und daher wird in seiner Darstellung das Ringen,
das Uebersinnliche unter Form zu bringen, mehr hervortreten, sein Hymnus wird
durchaus lyrisch seyn und mystisch (§. 133. Anmerk. 2.).
Liegt das Uebersinnliche unmittelbar zum Grunde, so wird der Gang des
Gedichtes feierlicher und majestätisch seyn: es werden also weniger
lyrische Sprünge stattfinden und auch die äußere Sprachform wird gehaltener seyn;
liegt aber ein Abbild zum Grunde, so wird sich das sinnlich-geistige
Anschauungsvermögen, die Einbildungskraft, unmittelbarer und also auch
stärker berührt fühlen, die geistige Sinnlichkeit wird stärker aufgeregt seyn und dieß
wird sich auch im innern Gange darstellen durch kühne lyrische Sprünge, und in
der äußern Sprachform durch größere Ungebundenheit.
[183] Anmerkung 1. Bestimmte Gränzen lassen sich hier nicht aufstellen, denn die
mehr oder minder lebhafte Aufregung des Gemüths würde sie immer verrücken:
doch ist z.B. die lyrische Unordnung in Klopstock's Frühlingsfeier aus dem
Gesagten leicht erklärbar, denn hier ergreift er das Uebersinnliche, die Größe und
Güte der Gottheit, in einem sichtbaren Abbilde, in der Erscheinung der Natur.
Anmerkung 2. Die Krieges- und Siegesgesänge der Alten, die auch in Heldenthaten das
Göttliche erkannten, hießen Päane.
Die Alten gebrauchten zum Hymnus den Hexameter; unter den Neuern
können nur die Deutschen ihn gebrauchen, und die übrigen lyrischen Silbenmaße der Alten;
oder auch mit den Franzosen den Alexandriner; oder mit den Engländern und
Italienern den Jambus und Trochäus in Strophen und Stanzen.
Der Dithyrambus muß sich seiner Natur nach in einem freiern Rhythmus bewegen.
Geschichte und Literatur des Hymnus.
Das geistliche Lied gehört zur Gattung des Hymnus der erstern Art;
nach seiner besondern Bestimmung aber,
zu der Gottesverehrung einer sehr gemischten Menge, ist sein Schwung weniger erhaben,
der Ausdruck nähert sich oft der Prosa, und viele Gesänge der Art gehören zur lyrisch-didactischen Gattung.
Geschichte und Literatur des geistlichen Liedes.
Die Ode ist lyrischer Ausbruch der durch die allgemeine und höchste irdische Beziehung
der Menschheit entflammten Begeisterung, und ihr Stoff sind die Gegenstände, welche die
Menschheit im allgemeinen betreffen, also Aeußerungen, Offenbarungen der Menschheit in Thaten,
Reflexionen u.s.w., wichtige Ereignisse u.s.w., die sich im Gefühl darstellen.
Nicht sowohl das Gefühl des Erhabenen, als das des Großen, wird hier bestimmt
und also auch das Große, das Edle, das Prächtige als Motive gebraucht
werden können; daher wird auch der Schwung der Ode, zwar nach dem Höchsten strebend, doch weniger kühn seyn als im
Hymnus, indem wenigstens das Ringen, die Vorstellungen unter Form zu bringen, hier wegfällt.
Die Ode wird, je nachdem Thatsachen, oder Reflexionen, oder Erscheinungen der Menschheit die
lyrische Begeisterung entflammten, sich auch eintheilen lassen in:
heroische, didactische (philosophische), plastische (wie Ramler's Ode: An ein Geschütz)
und dramatische, wo sie aus einer bestimmten dramatischen Situation (wie in Göthe's
Prometheus) hervorgeht.
Anmerkung. Die didactische Ode ist keineswegs Lehrgedicht: der Dichter
steht nicht auf dem Standpunkte der Reflexion, sondern des durch Reflexion
entflammten Gefühls. – In der plastischen Ode wird die Darstellung dem Hymnus,
dem ein Abbild des Uebersinnlichen zum Grunde liegt (§. 364.), dadurch ähnlicher, daß
der Dichter mehr bei dem
[185] Gegenstande verweilt und diesem die Seiten abzugewinnen sucht, die den beabsichteten
Total-Eindruck am vorzüglichsten zu bestimmen vermögen.
Die Ode wird nicht bloß ernster, sondern auch heiterer Art seyn können,
obgleich sie sich immmer mehr bei ihrer höchsten Beziehung zum Ernsten hinneigen wird.
Eine gewisse Feierlichkeit ist ihr eigen. In ihr sind die mannigfaltigen lyrischen Versarten und
Formen anwendbar, deren Charakter man aber genau untersuchen muß, um sie gehörig anzuwenden.
Sie wird, wie der Hymnus, nicht von langer Dauer seyn dürfen und die Sprache wird den
höchsten poetischen Charakter annehmen, jedoch mit kraftvoller Gedrängtheit.
Anmerkung. Nicht die äußere Form macht ein Gedicht zur Ode,
daher z.B. viele Horazische sogenannte Oden mehr zum Liede oder zur Elegie
gehören, weil sie nur die besondern heitern oder ernsten Beziehungen der Menschheit zum Inhalt haben:
so auch: der Rheinwein von Klopstock.
Geschichte und Literatur der Ode.
Das Lied ist lyrischer Ausbruch der durch die besondere heitere Beziehung der
Menschheit zum Leben entflammten Begeisterung, und sein Stoff sind die Gegenstände,
welche das heitere Leben betreffen, als: heiterer Lebensgenuß, Freundschaft, Liebe u. ähnl.,
die sich im Gefühle darstellen.
Das Gefühl des Schönen im engern Sinne mit seinen Modificationen (§. 43 u. f.) wird durch das
[186] Lied bestimmt, und das Schöne mit seinen Modificationen, und das verwandte Scherzhafte,
so wie das Edle und Naive werden als Motive gebraucht werden können.
Da hier die höhere Beziehung der Menschheit nicht stattfindet, so wird auch die Sprache nicht
den höchsten poetischen Character annehmen, und auch im Versmaße wird sich dieß
ausprägen: es wird weniger auffallende Abwechselung darin eintreten, sondern mehr Gleichförmigkeit stattfinden,
es wird ein bestimmter Rhythmus herrschen, der eine immer wiederkehrende Melodie hervorbringt und
in den accentuirenden Sprachen durch den Gleichklang noch mehr hervorgehoben wird.
– Beim Liede treten die begeisternden Gegenstände fast gänzlich in den Hintergrund,
es ist in seinem Character rein lyrisch.
Anmerkung 1. Daher wird sich auch das Lied mit der lyrischen Kunst, der Musik, verbinden:
es wird zum Gesange: aber das Melodische muß im Gedichte selbst und nicht bloß in der
Musik liegen.
Anmerkung 2. Oft wird sich das Lied im Schwunge und in der äußern Form der Ode nähern;
immer wird es dann aber dem heitern Lebensgenusse eine höhere und allgemeinere Beziehung geben,
wie in dem Liede: der Rheinwein von Klopstock, oder in Voß' Gedicht: An Brückner.
Es kann als Ausbruch eines Einzelnen, oder Mehrerer (als Rundgesang) erscheinen, ja selbst einen
dramatischen Charakter annehmen, so daß das Gefühl
unter mehrere Individuen verschiedenartig vertheilt ist.
– Der Gesang bei Gelagen heißt Skolion; das Hochzeitlied Epithalamium;
das Klagelied Nänie.
Geschichte und Literatur des Liedes.
Die Elegie ist Ausbruch der durch die besondern ernsten Beziehungen der Menschheit zum Leben entflammten
Begeisterung. Das ernste Gefühl neigt sich hier zur Wehmuth, zu einer süßen oder marternden Sehnsucht,
welche vorzüglich durch die Vergänglichkeit alles Irdischen erweckt werden kann,
so wie durch unerfüllte Wünsche des Herzens, durch vereiteltes Lebensglück u. dergl.,
und Wehmuth ist daher der Character der Elegie.
Anmerkung. Man muß das Elegische von der Elegieunterscheiden.
Auch in der Ode kann das Elegische, als Motiv, gebraucht werden, ohne daß sie deswegen schon Elegie wird.
Das ästhetische Gefühl, das hier bestimmt wird, ist das Elegische (§. 78.),
das selbst bis zum Tragischen (§. 79.) gesteigert werden kann; also werden auch die tragischen Motive,
nur nicht die höchsten, hier eintreten. Die Sprache wird, wie im Liede, nicht den höchsten poetischen
Character annehmen, sondern mehr in einem milden, gleichen Fluße fortwallen,
so wie auch das Versmaß diesen Character behaupten wird. Die Alten wählten den abwechselnden Hexameter
und Pentameter; die deutschen Dichter bilden dieß Silbenmaß nach, oder sie gebrauchen
den gereimten vier- und fünffüßigen Jambus oder Trochäus in Strophen oder frei.
In der Elegie tritt die Individualität des Dichters vor allen hervor, und daher muß sein Gefühl
immer ein rein-menschliches Interesse (§. 203.) haben; auch hat er
bloß das Verhältniß des Gegenstandes zu sich im Auge und wird also bei dem Gegenstande selbst weniger
ver[188]weilen, als der Odendichter. Doch wird der Dichter nicht immer sein eigenes Gefühl darstellen,
sondern auch wohl eine lyrische Situation durchführen, wo er sich dann dem epischen Dichter nähert.
– Bei der sanftern Strömung eines Gefühls, das sich so gern ergießen mag,
wird die Elegie auch von größerm Umfange seyn können und mehrere Abschweifungen, insofern sie
nur dem Hauptgefühle angemessen sind, verstatten. – Die Klippe für den elegischen
Dichter sind unmännliche Klagen und geheuchelte Rührung. –
Reflexionen sind der Elegie ganz fremd wie dem Liede.
Geschichte und Literatur der Elegie
Das Sonett führt ein einzelnes Gefühl, durch Empfindung, Thatsache oder Reflexion entflammt,
gleichsam in einem einzelnen Anklange in der Form aus, daß das Ganze aus vierzehn Zeilen
besteht, welche sich zu vier Strophen bilden, von denen die beiden ersten (Quartetten)
aus vier, und die beiden letzten (Terzetten) aus drei Zeilen bestehen; in den
beiden letzten zwei oder auch drei Reime,
durchaus männliche oder weibliche,
oder männliche und weibliche
abwechselnd. Jede Strophe soll einen vollständigen Sinn einschließen. Das Versmaß ist der vier-
oder fünffüßige Jambus oder Trochäus. Das Zarte und Sinnige stellt sich in dieser Form
am günstigsten dar, und der Character wird sich oft zum Elegischen hinneigen. Die bestimmte,
leicht auffaßbare Form macht die höchste Eleganz des Ausdrucks bei Gedrängtheit, Natürlichkeit und
Geschmeidigkeit, Correctheit des Reims und
[189] melodischen Rhythmus, kurz lyrische Vollendung zur unnachlässigen Bedingung.
Geschichte und Literatur des Sonetts.
Die Canzone ist ein romantisches Empfindungsgemählde, in dessen Ausmahlung
sich Gefühl und Einbildungskraft gefallen, daher sie aber auch leicht
geschwätzig wird. Sie stellt sich, diesem Inhalte angemessen, in langen, aus kunstreich
und gefällig in einander verflochtenen gereimten Zeilen gebildeten, Strophen dar: das Versmaß ist der
verschiedenfüßige Jambus oder Trochäus.
Geschichte und Literatur der Canzone.
Das Madrigal ist ein zarter Aushauch der Lebenslust in sechs, bis eilf
und dreizehn Zeilen von drei- oder vierfüßigen Jamben oder Trochäen,
gereimt oder zum Theil auch nicht, und die Mischung ohne weitere Regel.
Geschichte und Literatur des Madrigals.
Das Rondeau, meist munter und scherzhaft, hat mit dem Sonett den Inhalt gemein, drückt
aber auch oft wie dieses das Gefühl der Sehnsucht aus. Es besteht in strenger Form aus drei
Strophen, von denen die erste und letzte ganz gleich gebaute aus fünf,
die mittelste aus drei Zeilen bestehen, in denen eigentlich nur
zwei Reime, der eine achtmal, der andere fünfmal wiederkehren;
die Anfangsworte werden als Refrain am Ende jeder Zeile wiederholt.
Das Versmaß ist der drei- oder vierfüßige Jambus oder Trochäus.
[190] Anmerkung. In der Nachahmung hat man sich mehrere Freiheiten erlaubt.
Geschichte und Literatur des Rondeau.
Das Triolet führt einen Hauptgedanken lyrisch durch, dessen Wiederholung sinnreich und überraschend seyn muß,
und neigt sich zum Elegischen. Es stellt sich dar in 8, 9 bis 12 Zeilen, worin die
erste Zeile dreimal vorkommt, am Anfange, in der Mitte und am Ende.
Es erfordert, wie alle diese Spiele, Natürlichkeit, Leichtigkeit, Lieblichkeit des
Ausdrucks und des Reims und melodischen Rhythmus.
Geschichte und Literatur des Triolet.
Die Sestinen bestehen aus sechs sechszeiligen fünffüßigen wirklich gereimten Jamben,
in welchen die sechs Endwörter der ersten Strophe zu Ende der Verse der andern
Strophen in bestimmter Folge wiederkehren müssen, so daß das letzte Wort der ersten
Strophe das Endwort der ersten Zeile der folgenden Strophe wird,
wodurch denn alle sechs Wörter zu Ende der ersten Zeile einer Strophe zu stehen kommen.
Das Ganze schließt eine dreizeilige Strophe, worin drei jener sechs Wörter am Ende
und drei in der Mitte der drei Verse sich befinden. Wenn nicht das Gefühl
diese Wörter wählt und ordnet, so wird das Ganze eine mühsame und kalte Spielerei.
Geschichte und Literatur der Sestine.
Die Stanze hat mit dem Sonett den gleichen, am vorzüglichsten einen sanften, Inhalt, den
sie aber in etwas größerer Ausdehnung darstellt, und zwar in
acht[191]zeiligen fünffüßigen jambischen oder trochäischen Strophen, dessen
sechs erste Zeilen mit zwei Reimen wechseln, und die beiden letzten,
welche zur Ründung des Ganzen am besten einen Hauptgedanken enthalten, dann sich reimen,
wodurch das Ganze sich auch für das Ohr vollendet.
Anmerkung. Die Stanze ist als Ottava Rima das heroische Silbenmaß der
Italiener, Spanier und Portugiesen.
Die Heroide ist schriftlicher Ausbruch der durch die allgemeinen und höchsten
Beziehungen der Menschheit entflammten Begeisterung (§. 329.). Das Gefühl, welches durch die höchsten
Beziehungen der Menschheit entflammt ist, wird ein überschwänkliches und von mehr
ernstem Character seyn. Es kann ihm das Uebersinliche zum Grunde liegen und
die Heroide nähert sich dann dem Hymnus, oder das irdische Rein-Menschliche, das
sie mit der Ode gemein hat; dagegen sie dadurch, daß der Darsteller bloß
das Verhältniß des anregenden Gegenstandes zu seinem und dem Gefühle des Abwesenden,
für welchen er darstellt, im Auge hat, der Elegie sich mehr nähert, von welcher sie sich aber dann wieder dadurch
wesentlich unterscheidet, daß sie das Gefühl des Erhabenen und Großen zu
bestimmen strebt und darnach die Motive wählt, besonders die Tragischen und das
Edle. – Die Heroide ist mehr Ausbruch eines sich über seine Leiden erhebenden oder mit seinem
Gefühle ringenden, als eines in seinen Gefühlen wollüstig schwärmenden Gemüths. Das Starke
und Heftige muß vorherrschen.
[192] Anmerkung. Mit Unrecht hat man die Heroide ganz zur Elegie ziehen wollen: der
zu elegische Ton ist fehlerhaft, wie bei Wieland, Schiebeler und Eschenburg.
Da sich hier die Individualität des (angenommenen) Darstellers vorzüglich ausspricht,
so muß diese Individualität schon an sich Interesse erregen, und daher werden Personen,
welche durch ihre, die Menschheit in ihren höhern Beziehungen interessirenden Schicksale
ausgezeichnet sind, am angemessensten in der Heroide ihre Gefühle ausströmen:
Helden (Heroen, Heroinen, woher der Namen), Herrscher, oder andere durch furchtbare
Schicksale oder durch menschliche Leidenschaften berühmte Personen;
und ihre Schicksale und Leidenschaften werden der schickliche anregende Stoff seyn.
– Der Dichter tritt aber hier ganz zurück und läßt eine fremde Individualität im
Gefühle sich aussprechen, deren Character er also auch ganz getreu bleiben muß,
wodurch die Heroide etwas dramatisches erhält. – Monolog kann man sie
aber nicht nennen.
Anmerkung. Der Dichter wird wohl thun, seine Personen aus der Geschichte zu wählen, die
Berühmtheit aber der Personen kann nicht als unterscheidender Character der Heroide aufgestellt werden:
sie ist nur Folge nicht Grund.
Bei aller Stärke des Gefühls setzt doch die schriftliche Ergießung eine gewisse Besonnenheit voraus,
die sich in der äußern Form ausprägen wird: es wird darin mehr Haltung eintreten, und daher ein
bestimmteres Silbenmaß, wie der Hexameter oder auch abwechselnd der Hexameter und
Pentameter bei den Alten, und der sechsfüßige gereimte Jambus mit der
bestimm[193]ten Cäsur in der Mitte, der Alexandriner bei den Neuern.
Geschichte und Literatur der Heroide.
Die Epistel ist schriftlicher Ausbruch der durch die besondern ernsten oder heitern Beziehungen
der Menschheit zum Leben (Cultur- oder Naturleben) entflammten Begeisterung (§. 329.).
Das Gefühl, welches durch das Leben angeregt wird, kann nicht überschwänklich seyn, und das
Schöne, Edle, Scherzhafte, Naive werden vorzüglich die ästhetischen Motive seyn,
um den Total-Eindruck zu bewirken; dann aber kann auch das Komische und das
Satyrische hinzutreten.
Die Sprache wird nicht den höchsten poetischen Character haben, und auch im Versmaße wird,
als schriftliche Darstellung, mehr Haltung stattfinden, also nicht die ungestüme Abwechselung der
Ode, nicht das Feierliche der Heroide. Im Deutschen wird der vier-, fünf- und
sechsfüßige Jambus, mit Anapästen und Spondeen vermischt, oder auch der
Trochäus, abwechselnd gebraucht, gereimt oder reimlos (doch in der lyrischen Epistel im
engern Sinne wohl besser gereimt), am anwendbarsten seyn. Natürlichkeit und
Grazie, Eleganz (ohne Flachheit) sind Haupterfordernisse der Darstellung im Innern und
Aeußern, so wie in Hinsicht des Stoffes, daß die dem Gefühle zum Grunde liegenden Gegenstände
von allgemein-menschlichem Interesse sind, und daß sich ein Hauptgedanke oder vielmehr Hauptgefühl
durch's Ganze ausspreche.
[194] Anmerkung. Die epistolarische Form wird auch wohl bei epischen und didactischen
(Horaz: Brief an die Pisonen) gebraucht: allein dieß berechtigt nicht, die Epistel
als Gedichtart, wie dieß häufig geschieht, zur didactischen Gattung zu rechnen.
Jeder gewöhnliche Brief, wenn er nicht unmittelbar Geschäfte betrifft, ist in sich
lyrisch.
Geschichte und Literatur der Epistel.
In der gemischten lyrischen Dichtung ist das Gefühl bildend und vorherrschend;
es kann also nicht von bedeutendem Umfange und verwickelten Verhältnissen seyn,
und wird daher nur eine einzelne Situation [248] lyrisch durchführen,
welches ein unterscheidender Character dieser Dichtung ist, die sich eintheilt in
lyrisch-episches, lyrisch-didactisches und in lyrisch-dramatisches Gedicht (§. 336.).
Das lyrisch-epische Gedicht stellt die Idee der Menschheit in deren mannigfaltigen Beziehungen als
eine in der Vergangenheit vollendete ideale Thatsache lyrisch dar, und dieß kann geschehen in den
allgemeinen und höchsten Beziehungen, welche Gedichtart keinen besondern Namen hat,
sondern mit der reinen Lyrik zusammenschmilzt (und wohin sehr viele Hymnen und Oden
gehören, denen Thatsachen zum Grunde liegen (z.B. Ramler's Ode auf ein Geschütz); oder in den
besondern ernsten oder heitern Beziehungen zum Leben, und das Gedicht theilt sich
nach seinem Character in: Ossianische Dichtung und Romanze.
Die Ossiansche Dichtung (nach dem alten Barden der Hebriden Ossian genannt) ist
elegisch-episch. Sie erzählt die Thatsachen mit dem Gefühl der Wehmuth,
der Sehnsucht, und ihr Inhalt ist der Untergang des Großen und Edeln und Schönen.
Das Elegische ist beabsichtigter Total-Eindruck, nur mehr im Character der
Heroide, mit der die Ossiansche Dichtung auch Stoff und Personen
(beide vorzüglich aus dem Heldenthum) theilt. Das Düsterherrliche (§. 114.) ist
hier vorherrschendes Motiv. – Diese Dichtung ist ganz romantisch.
Die Sprachdarstellung wird den epischen Character zwar nicht ganz verleugnen,
allein doch mehr lyrisch seyn: nur im Metrum wird sich der gehaltnere
epische Character ausprägen. Im Deutschen möchte der Hexameter dieser Dichtung am angemessensten
seyn; die romantische Prosa, in welcher wir sie zuerst kennen lernten, weit weniger.
Die lyrische Ausmahlung wird ihr vorzüglich eigen seyn, denn die Wehmuth
und Sehnsucht verweilt gern bei dem sie anregenden Gegenstand.
Geschichte und Literatur der Ossian'schen Dichtung.
Die Romanze ist das epische Lied der Form nach: ihr Inhalt ist eine
lyrisch durchgeführte Situation des Lebens, und diese kann
ernst bis zum Tragischen oder heiter bis zum Komischen seyn, daher
alle ästhetische Motive, je nach dem beabsichtigten Total-Eindruck, darin
anwendbar sind. – Einzelne gemüthvolle Situationen des Heldenlebens,
besonders des christlichen oder romantisch nordischen, werden für das ernste,
einzelne heitere Situationen des Lebens überhaupt für das heitere Stoff seyn.
Anmerkung 1. Giebt auch das griechische und römische Heldenleben
dergleichen Situationen, so ist doch die lyrisch-epische Darstellung dem
Character des Antiken fremd.
Anmerkung 2. Die Situation ist der Romanze wesentlich, denn nicht im
bloßen Tone kann der Character einer Dichtart liegen. Nennt man einen
lyrischen Ausbruch des Gefühls Romanze, so muß diesem doch eine Situation zum Grunde
liegen, wo die Romanze dann gleichsam ein Monolog ist.
Der Character der Sprachdarstellung wird naïv seyn, oder was man wohl Volkston nennt,
und verträgt nicht den hohen lyrischen Schwung, denn die Situation muß
an sich höchst interessant, aber auch höchst einfach seyn und immer dem
Leben unmittelbar angehören. – Die lyrischen Formen der Strophen und
Stanzen mit dem Gleichklang werden hier ihre Anwendung finden.
Die Romanze ist ganz romantisch.
Ueber den Namen s. §. 91. Anmerk. 2.
Anmerkung. Man hat den Unterschied gemacht, daß man die heitern Inhalts
Romanze und die ernsten oder tragischen Inhalts Ballade genannt hat;
allein vielleicht behält man besser den Namen Ballade dem
phantastisch-lyrisch-epischen Gedichte bevor.
Geschichte und Literatur der Romanze.
Das lyrisch-didactische Gedicht stellt Gedanken, Reflexionen lyrisch dar,
aber nicht wie die Ode, in welcher sich mehr das durch Gedanken und Reflexionen entflammte
Gemüth unmittelbar darstellt, als daß die Gedanken, Reflexionen selbst dargestellt werden.
Im lyrisch-didactischen Gedicht tritt die Reflexion als solche unverholen hervor,
nur daß sie, durch das Gefühl gebildet, in der Darstellung überwiegend das Gemüth in
Anspruch nimmt (wie in Schiller's Glocke, in welcher sich eine Menge unmittelbar
das Gemüth ergreifender Reflexionen an die Vorbereitung und Ausführung des
Gußes einer Glocke reihen).
Die Sprachdarstellung wird aller Modificationen fähig seyn, selbst
des höchsten Schwunges, wo sich dann das Gedicht ganz der Ode nähert (wie Schiller's:
die Größe der Welt). Das Metrum ist hier unentberlich, und auch der Gleichklang
wird günstig seyn. Diese Gedichtart ist ganz romantisch.
Geschichte und Literatur der lyrischen Didactik.
Das lyrisch-dramatische Gedicht führt eine einzelne in der Gegenwart sich
bildende und vollendende Situation lyrisch durch, und heißt
dann Melodrama (Monodrama – Duodrama u.s.w.).
Diese Situation muß unmittelbar dem Gefühle entspringen, und also wird das
Innere in einer ununterbrochenen heftigen Regung seyn müssen,
daher das Ganze nicht von großem Umfange und großer Verwicklung seyn kann,
obgleich es, wie jedes pragmatische Ganze, Anfang, Verwicklung und
Entwicklung haben wird. – Es hat übrigens mit dem dramatischen Gedicht
Form und Regeln gemein.
Da hier das Gemüth in steter heftiger Regung erscheint, so wird der Inhalt wo nicht
tragisch, so doch ernst seyn und der beabsichtigte Total-Eindruck das
Erhabene. Daher darf das Gefühl nicht (wie in Ariadne von Brandes)
unbefriedigt und unversöhnt bleiben. – Am günstigsten wird der Stoff aus der alten
Mythenzeit hergenommen, so daß auch das Wunderbare hier freien Spielraum hat;
jedoch wird eine jede einzelne
[252] Situation, in welcher das Tragische vorherrschend ist,
Stoff seyn können.
Die Sprachdarstellung wird aller dramatischen Modificationen fähig seyn
und also auch eines abwechselnden Metrum, welchem jedoch Jambus und
Trochäus zum Grunde liegen wird. Das lyrische Element,
der Gleichklang, wird hier mit Vortheil hervortreten.
Bedeutung des Namens Melodrame in der französischen Literatur.
Geschichte und Literatur des Melodrama.
Bei der gemischten lyrischen Dichtung kann aber auch das lyrische
Element, der Ton, besonders hervortreten als Musik, so daß sich die Poesie
unmittelbar mit ihr (jedoch nicht nothwendig) verbindet, wo sie denn
aber mehr erhöhte Declamation seyn wird; oder daß die Musik sie nur begleitet,
und gleichsam den Inhalt darstellt, indem sie die Worte umschwebt, oder auch das
Gefühl selbst fortführt und den Uebergang von einer Stimmung zur andern vermittelt.
Poesie und Musik können sich unmittelbar verbinden in der Romanze,
begleitend wird die Musik bloß bei der Ossianschen,
bei der lyrisch-didactischen Dichtung, und besonders bei dem Melodrama seyn
(das daher auch seinen Namen entlehnt hat).
Erstdruck und Druckvorlage
Georg Reinbeck: Die Poetik in ihrem Zusammenhange mit der Aesthetik.
Zum Gebrauche für die obern Klassen der Gymnasien und Lyceen.
Essen u. Duisburg: Bädeker 1817
(= Handbuch der Sprachwissenschaft, mit besonderer Hinsicht auf die deutsche Sprache.
Zum Gebrauche für die obern Klassen der Gymnasien und Lyceen.
Zweiten Bandes zweite Abtheilung),
S. 180-194 u. 247-252.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10583094
URL: https://books.google.de/books?id=Z4xDAAAAcAAJ
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Reinbecks "Handbuch" umfasst die folgenden Bände
Literatur
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In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
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In: The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics.
Hrsg. von Roland Greene u.a.
4. Aufl. Princeton u.a. 2012, S. 826-834.
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Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts.
In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur.
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German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960.
With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter.
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Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken.
In: Grundfragen der Lyrikologie.
Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysedimensionen.
Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a.
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In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
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In: "O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard".
Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800.
Hrsg. von Christoph Jamme u.a. Stuttgart 1988
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Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer