Conversations-Lexicon oder Hand-Wörterbuch
für die gebildeten Stände

 

 

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[Lyrik, lyrische Poesie]

 

Lyrik, lyrische Poesie ist diejenige Gattung der Poesie (oder Dichtungsart), durch welche der Dichter sein inneres Leben im Zustande des bewegten Gefühls unmittelbar darstellt. Dadurch daß in derselben das Gefühl das Herrschende ist, ist sie von der dramatischen Poesie, in welcher die Anschauung zu einem von dem Innern des Dichters verschiedenen Leben selbstständig ausgebildet ist, und von der epischen verschieden, welche in ihren vollendetsten Werken, einen umfassenden Kreis von Handlungen in einer anschaulichen Begebenheit als von dem Dichter angeschaut, darstellt, und beides, Gefühl und Anschauung, im vollen Gleichgewicht enthält. Verglichen mit Epos und Drama ist das lyrische Gedicht das beschränkteste, denn das Gefühl ist beschränkt auf den Moment der Gegenwart, aber um desto tiefer, voller und mächtiger spricht es das Gemüth an. Was der lyrische Dichter giebt, giebt er als sein eigenes Inneres, weshalb man auch die lyrische Poesie die subjective, im Gegensatz der übrigen Dichtungsarten, genannt hat. Auch heißt daher im weitern Sinne jede Darstellung lyrisch, welche nicht sowol die Gegenstände des Gefühls, wie sie erscheinen, als vielmehr den subjectiven Zustand, oder wenigstens die Gegenstände durch den Eindruck schildert, welchen sie auf das Gemüth hervorbringen. Indem aber die lyrische Dichtkunst das Gefühl am unmittelbarsten durch die Sprache ausdruckt, nähert sie sich der Tonkunst, welche das Gefühl durch Töne und ihre Verbindung am reinsten darstellt; daher auch die griechische Lyrik von λυρα , womit man Gedichte bezeichnete, die zur Lyra gesungen werden konnten. Obgleich nun in der lyrischen Dichtkunst sich alles in Gefühle auflöset, und zum Gefühle wird, so ist doch selbst ein lebhaftes Gefühl dem lyrischen Dichter nicht hinreichend, und nicht jeder Ausdruck desselben ein lyrisches Gedicht, wie so viele meinen, welche sich deshalb für die lyrische Poesie am meisten geeignet glauben. Ueberhaupt hat man den auf das Wesen der lyrischen Poesie gegründeten Satz: die lyrische Poesie soll das innere Leben und Gefühl des Dichters (d.i. das harmonische, poetische Gefühl) darstellen, von jeher in die falsche Behauptung umgekehrt, der lyrische Dichter (wofür sich jeder hält, der mit einiger Leichtigkeit im Gebrauch der poetischen Sprache ein lebhaftes Gefühl verbindet, oder irgend einmal ein lebhaftes Gefühl hat) solle sein subjectives Leben oder sein Gefühl darstellen. Es fragt sich also, in wiefern ist das Gefühl poetisch zu nennen? Ein solches muß, zufolge der Natur des Kunstwerks, in sich selbst harmonisch, und nicht nur würdig seyn in der Sprache aufbewahrt [870] zu werden, sondern sich auch durch eigenthümlichen und schönen Lauf der Rede, und in einer reichen Mannichfaltigkeit von Gedanken und Bildern selbstständig aussprechen. Durch ersteres wird gefordert, daß ein bestimmtes Gefühl das herrschende sey, gleichsam der Grundton, aus welchem sich die Empfindungsreihe entwickelt, und daß es nichts Widerstreitendes in sich enthalte, was mit der zum Grunde liegenden Stimmung unvereinbar wäre, daß mithin auch das Gefühl des Gegenstandes, welcher es veranlaßt hat, würdig, demselben sowol der Art, als dem Grade nach entsprechend, (nicht matt oder überspannt) sey, eine Reihe von Anschauungen hervorruft, welche dazu dienen, die innere Stimmung zu schildern, und daß das Gefühl den durch die Sprache dargestellten Gedanken ganz durchdringe. Dieses Gefühl in allen anschaulichen Beziehungen des Gedankens auszudrücken, dasselbe in der Bewegung der Worte (Rhythmus), und ihrem entsprechenden Klange gleichsam äußerlich zu machen und entsprechend darzustellen, so daß es nicht bloß das Gefühl des Einzelnen ist, sondern als das Gefühl des vollendeten Menschen erscheint, ist nur dem Genius möglich, und man kann in dieser Beziehung das lyrische Gedicht die in der Sprache festgehaltene Stimmung des geniellen Dichters, als solchen nennen; daher auch nichts so sehr, als eine Reihe, oder eine Sammlung lyrischer Gedichte das innere Leben eines Dichters schildert. Aus der Natur des Gefühls ergiebt sich der beschränktere Umfang des lyrischen Gedichtes, so wie der Wechsel und die größte Mannichfaltigkeit des Styls und Rhythmus, welche sich in den tausendfältigen lyrischen Versarten, in der kühnern Gedankenverbindung und in der Eigenthümlichkeit lyrischer Bilder an den Tag legt. So mannichfaltig sich nun das Gefühl poetisch äußern kann, so mannichfaltig ist das lyrische Gedicht; zunächst aber offenbart sich das Gefühl und am reinsten in der Gegenwart; wenn es als Vergangenes durch die Reflexion modificirt erscheint. Hiernach könnte man die Lyrik in die reinlyrische Poesie, wozu der Hymnus (bei uns größtentheils eine religiöse Ode), die Ode und das Lied gehören, an welche sich mehrere poetische Formen der Italiener und Spanier anschließen, und in die elegische eintheilen, an welche sich das Epigramm im Sinne der Griechen, und mehrere sogenannte didactische Gedichte anschließen. Siehe hierüber die besondern Artikel.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Conversations-Lexicon
oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände über die in der gesellschaftlichen Unterhaltung und bei der Lectüre vorkommenden Gegenstände, Namen und Begriffe in Beziehung auf Völker- und Menschengeschichte; Politik und Diplomatik; Mythologie und Archäologie; Erd-, Natur-, Gewerb- und Handlungs-Kunde; die schönen Künste und Wissenschaften: mit Einschluß der in die Umgangssprache übergegangenen ausländischen Wörter und mit besonderer Rücksicht auf die älteren und neuesten merkwürdigen Zeitereignisse.
Zweite, ganz umgearbeitete Auflage. Fünfter Band: Von J bis L.
Leipzig und Altenburg: Brockhaus 1815, S. 869-870.

Gezeichnet: T.

PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11003694
URL: https://books.google.fr/books?id=iJxTAAAAcAAJ

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Enzyklopädien-Repertorium

 

 

 

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