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Das Wesen der lyrischen Poesie ist die Darstellung der poetischen Natur des Dichters selbst, seiner freien
Weltansicht, und seines Gefühls. Von dieser Poesie kann man mit Recht sagen, daß sie im Keime so weit
verbreitet ist, als die menschliche Natur. Denn wo wäre der Mensch, der nie in seinem Leben
einen lyrischen Augenblick gehabt hätte? Eben deßwegen erscheint auch die lyrische Poesie als die
natürlichste; jede andere poetische Form spielt mehr oder weniger in den Ton der Lyra hinüber; und
[351] weil der Ausdruck des Subjectiven der lyrischen Poesie wesentlich ist, so fordert sie
vorzüglich zum Gesange auf; denn der musikalische Ausdruck übertrifft jeden andern an
subjectiver Kraft. Das Bedürfniß des Gesanges veranlaßt dann wieder die lyrischen Strophen.
Aber eben die allgemeine Natürlichkeit der lyrischen Poesie veranlaßt, daß man so leicht jede
schöne Sprache des Gefühls für lyrische Poesie hält. Besonders glaubt gewöhnlich der
Jüngling, der in Versen die Sprache des Herzens zu reden versucht, daß es doch wohl Poesie
seyn müsse, was er aus vollem Herzen singt. Kein Vorurtheil kann der lyrischen Poesie mehr
schaden. Wenn die bestimmte Welt-Ansicht, die dem Ausdrucke des Gefühls zum Grunde liegt, nicht
schon an sich poetisch ist, so bleibt jener Ausdruck, sei er auch noch so wahr und stark,
und noch so gut versificirt, immer prosaisch. Das
Geheim[352]niß der lyrischen Poesie ist die mittelbare Objectivität eben der Darstellung,
in welcher unmittelbar nur der Dichter selbst erscheint. Ein lyrisches Gedicht, das mit Recht so
heißt, öffnet uns eine neue Aussicht in die Natur und in das poetische Verhältniß des
menschlichen Geistes zur Welt. Die lyrische Poesie geht daher, so bald sie sich über
die engsten Beschränkungen des Augenblicks erweitert, von selbst in die didaktische über;
und je höher sie sich zur Region der Ode erhebt, desto didaktischer wird ihr Flug. In
jeder vollkommen lyrischen Composition muß ein universeller Gedanke herrschen, der aber als
individuell erscheint. Den Mangel eines solchen Gedankens können die schönsten Bilder und
Beschreibungen nicht vergüten. Aber sobald der lyrische Gedankenschwung in strenge Betrachtung
übergeht, hebt er sich selbst auf. Die lyrische Ordnung der Gedanken und Bilder ist eben deßwegen
eine logische
Unord[353]nung. Frei muß der lyrische Strom der Gedanken und Gefühle bald brausen, bald
spiegelnd sich ergießen. Auch der Schatten eines Systems muß im lyrischen Gedichte
verschwinden, weil sonst das poetische Interessse sogleich zum theoretischen wird. Aber
Fragmente einer wahren Lebensphilosophie dringen durch keine Art von Darstellung so tief
in das Innere der Seele, als durch die lyrische.
Ein lyrisches Gedicht im populären Styl heißt ein Lied. Im Liede verläugnet der
universelle Gedanke ganz und gar seinen philosophischen Ursprung. Er erscheint nur als
der natürlichste Ausdruck des Gefühls. Vorzügliche Simplicität ziemet dem Liede in allen seinen
Zügen. Nichts, was Gelehrsamkeit heißt, oder auch nur auf Gelehrsamkeit deutet, sollte
in der Liederpoesie zur Sprache kommen. So populär, wie die Gedanken, müssen im
ächten Liede
[354] auch Worte, Bilder und Beschreibungen seyn. – Die Liederpoesie verlangt deßwegen
auch die leichtesten Sylbenmaße nach dem eigenthümlichen Charakter einer jeden Sprache.
Unter den verschiedenen Gattungen von Liedern verdienen die natürlichsten die erste Stelle.
Dieß sind die Volkslieder im eigentlichen Sinne, und die ihnen ähnlichen Lieder in der
Sprache des einfachen Naturgefühls, z.B. in der Manier von Bürger und Voß. Die epigrammatischen
Lieder, z.B. in der Manier Hagedorn's, Lessing's, und der meisten französischen
Liederdichter, nähern sich schon der eleganten Umgangsprose. Eine andre Gattung von
Liedern geht in die Ode über, z.B. Bürgers Lied an die Hoffnung. Diesen kommen die
Oden entgegen, die in das Lied übergehen, z.B. mehrere von Horaz.
Zu dem Liede verhält sich die Ode, wie wahre Naturpoesie zur wahren
[355] Idealpoesie überhaupt. Die Ode erhebt sich über alle Formen des gemeinen Lebens.
Was nur irgend von kunstreicher und doch ungezwungener Versification in einer
Sprache möglich ist, kann in das Sylbenmaß einer Ode aufgenommen werden. Eine Ode
ist durchaus kein populäres Gedicht. In ihr darf der herrschende Gedanke seinen
philosophischen Ursprung auf das bestimmteste verrathen, wenn er anders das
steife Kleid des Syllogismus völlig abstreift. Je philosophischer aber der Charakter einer
Ode ist, desto weniger darf das Skelett eines Systems durchscheinen. Kühne, in das
Innerste der Natur und des Geistes eingreifende Gedanken geben der Ode den
höchsten lyrischen Schwung, wenn diese Gedanken wie Anschauungen ihre Wahrheit
unmittelbar in sich selbst tragen. Gleichwohl wird die Ode durch Anspielungen
auf Kenntnisse, deren Inbegriff Gelehrsamkeit heißt, keineswegs entstellt. Besonders
ziemt der Ode die
[356] Energie, damit sie den Weg der gemeinen Umständlichkeit ganz verlasse. Deßwegen
verfehlen die umständlichen, durch prächtige Phrasen das Gemeine erhebenden und in
weitläuftig ausgesponnenen Beschreibungen langsam sich fortwälzenden Oden einiger
Italiener und Spanier fast eben so sehr, als die declamatorischen, von moralischen
Sentenzen und Bildern ohne poetische Anschauung strotzenden Oden der Franzosen, den
wahren Odencharakter. Soll die Ode als Gelegenheitsgedicht ausgeführt werden, so muß
der zufällige Stofff nur, wie z.B. in Pindars Preisgesängen, in die höhere und universelle
Dichtung hineingetragen werden. Lyrische Werke, die im Odenstyl eine Person oder
ein besonderes Factum besingen, wie z.B. Cramers Ode auf Luther, und so manche andre
Schein-Ode auf Den, und auf Die, sind nur Lobreden oder Gelegenheitsreden in poetischem
Costum. Die Litteratur aller Nationen wäre vielleicht
[357] nicht so arm an Oden, die diesen Namen verdienen, wenn man nicht überall zu dem
Besingen einzelner Personen und Begebenheiten die Form der Ode mißbrauchte. Bis
jetzt sind nur drei Gattungen von wahren Oden bekannt geworden, die Pindarische,
die Horazische, und die Klopstockische. Die Pindarische Ode ergießt sich
in der kühnsten Mischung von Bildern, Sentenzen und Mythen, die wie Meteore
vorüberschweben und nur durch die innere Einheit der poetischen Anschauung im
üppigsten Rhythmus vereinigt sind. Die Horazische Ode verbirgt die prosaische Tendenz,
in der sie sich der prosaischen Lebensphilosophie nähert, durch eine solche Energie der
Diction, eine so glückliche Behauptung der poetischen Geistesfreiheit, und einen
solchen Reichthum an vortrefflichen Gedanken, daß man vergißt, wie viel mehr Antheil der
kritische Verstand an ihrer Bildung hat, als die schaffende Phantasie. Die
[358] Klopstockische Ode vereinigt den höchsten lyrischen Styl der moralischen und
religiösen Innigkeit mit der Horazischen Energie der Diction. Eine Abart der Horazischen
Ode ist die Ramlerische, die den Mangel des philosophischen Geistes und einer freieren
Weltansicht durch eine wirklich poetische Ausführung ziemlich prosaischer Gedanken, und
durch den feinsten kritischen Takt in der Nachahmung der Horazischen Bestimmtheit, und
Leichtigkeit wenigstens scheinbar ersetzt, und nur durch das pedantische Uebermaß von
mythologischer Gelehrsamkeit ihrem eigenen Interesse schadet.
Weder Oden noch Lieder, sind die romantischen Gesänge, die mit der provenzalischen
Poesie entstanden, aus dieser in die italienische, und aus der italienischen Poesie wieder
in die spanische und portugiesische übergingen. Dahin gehören vorzüglich, als die cultivirtesten,
die Canzone und das lyrische
[359] Sonett. Die Canzone ist nicht populär, wie das Lied, und auch nicht erhaben im
Geist der Ode. Es fehlt ihr der Charakter der höheren Geistesfreiheit. Ihre poetische Sprache gleitet,
wie in langen Wellenzügen, malerisch und sonor, aber ohne Energie hin. Eine weiche
und üppige Wortfülle wurde ihr besonders in Italien eigen. Petrarch's reizende Canzone können als
Muster dienen. Eine zufällige Ausstattung der Canzone ist die Anrede des Dichters an das Gedicht zum
Beschlusse. Mit der Schwärmerei der romantischen Liebe harmonirt die Umständlichkeit der
Canzone vortrefflich. Auch einige Trauer-Canzonen, die sich der Elegie nähern, sind von
hohem Werthe.
Mit dem Worte Sonett bezeichnete man anfangs nur die bekannte kunstreiche Reimform,
in die man übrigens alle Arten von Poesie, so gut es sich einrichten ließ, zu übertragen
ver[360]suchte. Aber das lyrische Sonett war immer das herrschende. Es hemmt durch seine
engeren Schranken den Ausbruch der Geschwätzigkeit, zu der die Canzone verführt. Es verlangt,
weil es in seinem ganzen Umfange so leicht zu übersehen ist, die höchste Cultur der
Sprache und des Styls. Da die vierzehn verschränkten Reimzeilen des Sonetts in zwei Abtheilungen
zerfallen, die durch innere Harmonie ein schönes Ganzes bilden, so muß der herrschende Gedanke
im Sonette sich dieser Form anschmiegen, und auf eine Art ausgeführt seyn, die sich der
epigrammatischen nähert, aber mehr im Geiste des weicheren griechischen, als des modernen
schneidenden Epigramms. Ein vortreffliches Sonett ist vielleicht das zarteste Meisterwerk
der Dichtkunst. Aber keine Art von poetischen Formen kann bequemer gemißbraucht werden,
triviale Gedanken ungefähr so auszuschmücken, wie man Kieselsteine brilliantirt. Auch
Madriga[361]le, Triolette und ähnliche Werkchen, deren Reiz auf der zarten
Verschmelzung eines poetischen Gedankens mit einer bestimmten metrischen Form beruht, sind
gewöhnlich lyrische Gedichte.
Eine eigene Gattung von Gedichten, die zum Theil eigene Angelegenheiten des Dichters erzählen,
zum Theil aber, und gewöhnlich fast ganz, in die lyrische Reihe gehören, sind die Elegien.
Sie entstanden in Griechenland eben so zufällig, als die Sonette in der Provence. Die
metrische Form der Abwechselung der Hexameter mit Pentametern ist die einzige Ursache, warum man auch
jetzt noch die Kriegslieder des Tyrtäus Elegien nennt. Aber man fühlte schon in Griechenland, daß
sich diese metrische Form vorzüglich zum Ausdrucke der weichen Gefühle eignete. So entstanden die
Elegien der Wollust, und die Elegien der Trauer, die dann wieder mit den Elegien der
schwärmerischen
[362] Liebe zusammen fielen. Eine Elegie in diesem Sinne ist ein poetisches Situationsgemälde,
in welchem entweder Wollust, oder edlere Zärtlichkeit, bald glückliche Schwärmerei, bald
Sehnsucht und Trauer, mit einer interessanten Umständlichkeit die herrschenden Empfindungen sind.
Elegien der Wollust in der Manier des Ovid und Properz finden sich jetzt gewöhnlich unter andern Titeln.
Den Deutschen sind sie von neuem durch Göthe's glückliche Nachahmung des Properz bekannt
geworden. Zu den Elegien der Trauer sollte man aber nicht lyrische Gedichte zählen, in denen
sich eine Leidenschaft ohne den weichen Ton der Elegie ergießt, wie z.B. in Bürger's
sogenannter Elegie an Molly.
Unmittelbar an die Elegie schließt sich die sogenannte Heroide, auch eine von den
Gattungen von Gedichten, in denen das Zufällige mit dem
Wesent[363]lichen so gemischt ist, daß sie beim ersten Anblicke in ein eignes Fach zu
gehören scheinen. Mit der dramatischen Poesie hat die Heroide nicht mehr gemein, als
etwa ein lyrisches Gedicht in fremdem Namen. Von der poetischen Epistel, die man gewöhnlich
so nennt, nämlich der didaktischen, unterscheidet sie sich durchaus. An eine bestimmte Person
kann auch eine Ode, und ein Lied, und überhaupt jedes lyrische Gedicht gerichtet seyn.
Der poetische Charakter der Heroide ist fast ganz der Charakter der Elegie. Sprache und
Styl sind in beiden Gattungen einander völlig gleich. Nur fällt die Heroide fast immer
frostig aus, weil es selten gelingt, fremde Empfindungen mit elegischer Umständlichkeit
natürlich und interesssant auszumalen. Deßwegen scheinen Dichter vom ersten Range
sich nicht einmal auf den Versuch eingelassen zu haben. Pope's Heloise an Abeillard
würde vermuthlich weniger gelungen
[364] seyn, wenn Pope, der sonst mehr Verstand, als Gefühl, in Verse brachte, sich nicht
zur guten Stunde fremdes Gefühl, in Ermangelung des eigenen, hätte vergegenwärtigen können.
Erstdruck und Druckvorlage
Fr. Bouterwek's Aesthetik.
Zweiter Theil: Theorie der schönen Künste.
Leipzig: Martini 1806, S. 350-364.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573466
URL: https://archive.org/details/bub_gb_hZdKAAAAcAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=hZdKAAAAcAAJ
Weitere Auflagen (1815 – 1825)
Kommentierte Ausgabe
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
Struck, Gustav W. F.: Friedrich Bouterwek.
Sein Leben, seine Schriften und seine philosophischen Lehren.
Rostock: Hinstorff 1919.
S. 299-310: Beiträge zu einer Bouterwek-Bibliographie.
[PDF]
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In: Internationales Germanistenlexikon, 1800 – 1950.
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Bouterwek, Friedrich: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts.
12 Bde. Göttingen: Röwer 1801 – 1819.
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Friedrich_Ludewig_Bouterweck
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/000906638
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Erster Theil.
Leipzig: Martini 1806.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573465
URL: https://archive.org/details/bub_gb_eJdKAAAAcAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=eJdKAAAAcAAJ
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Zweiter Theil.
Leipzig: Martini 1806.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573466
URL: https://archive.org/details/bub_gb_hZdKAAAAcAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=hZdKAAAAcAAJ
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Erster Theil.
Zweite, in den Principien berichtigte und völlig umgearbeitete Ausgabe.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1815.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573467
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t7wm5nm76
URL: https://archive.org/details/bub_gb_hq8UAAAAQAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=hq8UAAAAQAAJ
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Zweiter Theil.
Zweite, in den Principien berichtigte und völlig umgearbeitete Ausgabe.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1815.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10575586
PURL: https://hdl.handle.net/2027/pst.000022944368
URL: https://archive.org/details/bub_gb_VsNKAAAAcAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=VsNKAAAAcAAJ
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Erster Theil.
Dritte, von neuem verbesserte Auflage.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1824.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573467
PURL: https://hdl.handle.net/2027/pst.000022944351
URL: https://archive.org/details/bub_gb_MMNKAAAAcAAJ
URL/ https://books.google.fr/books?id=MMNKAAAAcAAJ
Bouterwek, Friedrich: Aesthetik.
Zweiter Theil.
Dritte, von neuem verbesserte Auflage.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1825.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10575586
PURL: https://hdl.handle.net/2027/pst.000022944368
URL: https://archive.org/details/bub_gb_VsNKAAAAcAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=VsNKAAAAcAAJ
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer