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Editionsbericht
Literatur
Das Wesen aller Kunst als Darstellung des Absoluten im Besonderen ist reine
Begrenzung von der einen und ungetheilte Absolutheit von der andern Seite.
Schon in der Naturpoesie müssen die Elemente sich scheiden, und die
vollendet eintretende Kunst ist erst mit der strengen Scheidung gesetzt.
Am strengsten begrenzt in allen Formen ist auch hier wieder die antike Poesie,
ineinanderfließender, mischender die moderne: daher durch diese eine
Menge Mittelgattungen entstanden sind.
Wenn wir in der Abhandlung der verschiedenen Dichtungen der natürlichen oder historischen Ordnung folgen wollten, so würden wir von dem Epos als der Identität ausgehen und von da zur lyrischen und dramatischen Poesie fortgehen müssen. Allein da wir uns hier ganz nach der wissenschaftlichen Ordnung zu richten haben, und da nach der bereits vorgezeichneten Stufenfolge der Potenzen die der Besonderheit oder Differenz die erste, die der Identität die zweite, und das, worin Einheit und Differenz, Allgemeines und Besonderes selbst eins sind, die dritte ist, so werden wir auch hier dieser Stufenfolge getreu bleiben und machen demnach den Anfang mit der lyrischen Kunst.
Daß die lyrische Poesie unter den drei Dichtarten der realen
Form entspricht, erhellt schon daraus, daß ihre Bezeichnung auf die Analogie
mit der Musik hinweist. Allein noch bestimmter ist dieß auf folgende Weise
darzuthun.
In derjenigen Form, welche der Einbildung des Unendlichen in
[640] das Endliche entspricht, muß eben deßwegen das Endliche,
die Differenz, die Besonderheit das Herrschende seyn. Aber eben dieß
ist der Fall in der lyrischen Poesie. Sie geht unmittelbarer als irgend eine
andere Dichtart von dem Subjekt und demnach von der Besonderheit aus, es sey
nun, daß sie den Zustand eines Subjekts z.B. des Dichters ausdrücke,
oder von einer Subjektivität die Veranlassung einer objektiven Darstellung
nehme. Sie kann eben deßwegen und in dieser Beziehung wieder die
subjektive Dichtart heißen, Subjektivität nämlich im Sinn der
Besonderheit genommen.
In jeder andern Art des Gedichts ist seiner inneren Identität unerachtet
doch ein Wechsel der Zustände möglich, in der lyrischen herrscht, wie
in jedem Musikstück, nur Ein Ton, Eine Grundempfindung, und wie in der Musik
eben wegen der Herrschaft der Besonderheit alle Töne, welche sich mit dem
herrschenden verbinden, auch wieder nur Differenzen seyn können, so
spricht sich auch in der Lyrik jede Regung wieder als Differenz aus. Die lyrische
Poesie ist am meisten dem Rhythmus untergeordnet, ganz abhängig, ja fortgerissen
von ihm. Sie meidet die gleichförmigen Rhythmen, während das Epos sich auch
in dieser Rücksicht in der höchsten Identität bewegt.
Das lyrische Gedicht ist überhaupt Darstellung des Unendlichen oder Allgemeinen im Besondern. So geht jede pindarische Ode von einem besonderen Gegenstand und einer besonderen Begebenheit aus, schweift aber von dieser ins Allgemeine ab, z.B. in den späteren mythologischen Kreis, und indem sie aus diesem wieder zum Besondern zurückkehrt, bringt sie eine Art der Identität beider, eine wirkliche Darstellung des Allgemeinen im Besondern hervor.
Da die lyrische Poesie die subjektivste Dichtart, so ist nothwendig auch die Freiheit in ihr das Herrschende. Keine Dichtart ist weniger einem Zwang unterworfen. Die kühnsten Absprünge von der gewohnten Gedankenfolge sind ihr erlaubt, indem alles nur darauf ankommt, daß ein Zusammenhang im Gemüth des Dichters oder Hörers sey, nicht objektiv oder außer ihm. In dem Epos waltet vollkommenste Stetigkeit, im lyrischen Gedicht ist diese aufgehoben, wie in der Musik, wo lauter [641] Differenzen, und zwischen dem einen Ton und dem folgenden eine wahre Stetigkeit unmöglich ist, dagegen in Farben alle Differenzen wieder in Eine Masse, wie aus Einem Guß, zusammenfließen.
Das An-Sich aller lyrischen Poesie ist Darstellung des Unendlichen im
Endlichen, aber da sie nur in der Succession sich bewegt, so entsteht dadurch
gleichsam als inneres Lebens- und Bewegungsprincip der Gegensatz des
Unendlichen und Endlichen. In dem Epos ist Unendliches und Endliches absolut
eins, deßwegen in diesem keine Anregung des Unendlichen, nicht als ob
es nicht da wäre, sondern weil es in einer gemeinschaftlichen Einheit mit
dem Endlichen ruht. Im lyrischen Gedicht ist der Gegensatz erklärt. Daher
die vorzüglichsten Gegenstände des lyrischen Gedichts moralisch,
kriegerisch, leidenschaftlich überhaupt.
Leidenschaft überhaupt ist der Charakter des Endlichen oder der Besonderheit
im Gegensatz mit der Allgemeinheit. Am reinsten und ursprünglichsten stellt
uns diesen Charakter der lyrischen Kunst, sowohl ihrem Ursprung, als ihrer Beschaffenheit
nach, wieder die antike Poesie dar. Die Entstehung und erste Entfaltung der
lyrischen Poesie in Griechenland ist gleichzeitig mit dem Aufblühen der Freiheit
und Entstehung des Republikanismus. Zuerst verband sich die Poesie mit den Gesetzen
und diente zur Ueberlieferung derselben. Bald wurde sie als lyrische Kunst für
Ruhm, Freiheit und schöne Geselligkeit begeistert. Sie wurde die Seele des
öffentlichen Lebens, die Verherrlicherin der Feste. Die zuvor ganz nach
außen gerichtete, in einer objektiven Identität, dem Epos, verlorene Kraft
wandte sich nach innen, fing an sich zu beschränken; mit diesem erwachenden
Bewußtseyn und der eintretenden Differenziirung entstanden die ersten lyrischen
Töne, die sich bald zu der höchsten Mannichfaltigkeit entwickelten.
Das Rhythmische der griechischen Staaten, die ganz auf sich selbst und ihr Daseyn
und Wirken gerichtete Besonnenheit der Griechen entzündete die edleren
Leidenschaften, die der lyrischen Muse würdig waren. Zu gleicher Zeit mit
der Lyrik belebte die Musik die Feste und das öffentliche Leben. Im Homer
sind sogar noch Opfer und Gottesdienste ohne Musik. Zu
[642] der Identität
des homerischen Epos gehört auch das heroische Princip, das Princip des
Königthums und der Herrschaft.
Die lyrische Poesie begann mit Kallinos und Archelaos nach schon gänzlich vollendeter Ausbildung des Epos; und in Vergleichung mit dem Epos ist daher die lyrische Kunst bis zu ihrer letzten Vollendung im Pindaros ganz republikanische Poesie 1.
Fast alle lyrischen Gesänge der Alten, von deren Existenz wir entweder nur durch historische Ueberlieferung wissen, oder die uns in Bruchstücken, oder selbst ganz übrig geblieben sind, beziehen sich auf das öffentliche und allgemeine Leben, und die selbst mehr aufs Einzelne sich beziehenden lyrischen Gedichte der Alten drücken Geselligkeit aus, wie sie nur in einem freien und großen Staate seyn und werden konnte. Alles deutet darauf, daß die im Epos noch geschlossene Knospe gebrochen ist und die freiere Bildung des Lebens sich entfaltet.
Auch in der Besonderheit der lyrischen Dichtkunst also sind die Griechen objektiv, real, expansiv.
Die ersten lyrischen Rhythmen waren, wie bemerkt, diejenigen, in welchen die Gesetze freier Staaten gesungen wurden; noch bei Solon. Die Kriegslieder des Tyrtaios "spornte" eine ganz objektive Leidenschaft. Alkaios war das Haupt der Verschworenen gegen die Tyrannen, nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Gesängen sie bekämpfend. Von mehreren lyrischen Dichtern dieser Zeit wird erzählt, daß sie auf Rath der Götter herbeigerufen worden, bürgerliche Uneinigkeiten beizulegen. Andere waren geehrt an Höfen der Herrscher und Tyrannen der damaligen Zeit. Arion z.B. von Periander. Die Zeit der Unschuld war auch dadurch vorbei, daß die Sänger nicht mehr genügsam waren wie die homerischen; daß sie Lohn, Gewinn, Ansehen für das Talent forderten. Pindaros, dessen Leyer bei den öffentlichen Wettspielen ertönte, war auch in dieser – objektiven – Beziehung der griechischen Lyrik die Blüthe. Er anticipirte in sich die Bildung des Perikleischen Zeitalters; der rohere Republikanismus ist schon zur [643] Herrschaft der Gebildeten zurückgeführt; er vereinigt mit dem Feuer des lyrischen Dichters die Würde eines pythagoreischen Philosophen, wie auch die Sage bekannt ist, daß er die Lehre des Pythagoras geliebt habe. (Das Plastische, gleichsam Dramatische der pindarischen Oden.)
Diese Objektivität der griechischen Lyrik ist es aber doch wieder nur innerhalb des allgemeinen Charakters der Gattung, welcher der der Innerlichkeit, der besonderen und gegenwärtigen Wirklichkeit ist. Das Epos erzählt die Vergangenheit. Das lyrische Gedicht besingt die Gegenwart, und geht bis zur Verewigung der einzelnsten und vergänglichsten Blüthe derselben herunter, des Genusses, der Schönheit, der Liebe zu einzelnen Jünglingen, wie in dem Gedicht des Alkman und der Sappho, und auch hier wieder bis zur Einzelheit schöner Augen, Haare, einzelner Glieder, wie in den Gedichten des Anakreon.
Dionys von Halikarnaß bestimmt als das Ausgezeichnetste des Epos, daß
der Dichter nicht erscheine. Die lyrische Kunst dagegen ist die eigentliche
Sphäre der Selbstbeschauung und des Selbstbewußtseyns, wie die Musik, wo
keine Gestalt, sondern nur ein Gemüth, kein Gegenstand, sondern nur eine
Stimmung sich ausdrückt.
Der Charakter der Differenz, der Scheidung und Sonderung, welcher in der Lyrik
an und für sich selbst liegt, drückt sich in der lyrischen Kunst der Griechen
nicht minder bestimmt als alle andern aus. Vollkommene Ausbildung aller rhythmischen
Gattungen, so daß dem Drama nichts übrig blieb. Scharfe Absonderung aller
Arten, sowohl was die äußeren Verschiedenheiten des Rhythmus, als die
innere Diversität des Stoffes, der Sprache u.s.w. betrifft, scharfe Absonderung
endlich in den verschiedenen Stylen der lyrischen Kunst, dem jonischen, dorischen u.d.a.
Wir finden auch in Ansehung der lyrischen Kunst wieder den allgemeinen Gegensatz des Antiken und Modernen auf gleiche Weise zurückkehren.
Wie die höchste Blüthe der lyrischen Kunst der Griechen in das Entstehen der Republik, der höchsten Blüthe des öffentlichen Lebens fällt, so der erste Beginn der modernen Lyrik im 14. Jahrhundert in die Zeit der öffentlichen Unruhen und der allgemein geschehenden [644] Auflösung des republikanischen Verbands und der Staaten in Italien. Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verschwand, mußte es sich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen großgesinnten Fürsten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erst später ein, und kamen dem romantischen Epos zu gut, welches sich in Ariosto ausbildete. Dante und Petrarca, die ersten Urheber der lyrischen Poesie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der gesellschaftlichen Auflösung, und ihre Gesänge, wenn sie sich auf diese äußern Gegenstände beziehen, sprechen laut das Unglück dieser Zeit aus.
Die Dichtkunst der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugenden,
die der Krieg und das gemeinsame öffentliche Leben erzeugt und nährt.
Von allen Verhältnissen der Empfindung war daher die Freundschaft der Männer
das Herrschende und die Weiberliebe ein durchaus Untergeordnetes. Die moderne Lyrik
war in ihrem Ursprung der Liebe mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff
der Neueren damit verbunden sind. Die erste Begeisterung des Dante war die
Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geschichte dieser Liebe
in Sonetten, Canzonen und prosaischen, mit Gedichten untermischten Werken,
vorzüglich der Vita nuova verewigt. Die größeren Schicksale
seines späteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück und das
Verbrechen der Zeit, spornten seinen göttlichen Geist erst zur Hervorbringung
seines höheren Werks, der Divina Comedia, obgleich der Grund und Anfang
dieses Gedichts wieder Beatrice ist.
Das ganze Leben des Petrarca war jener geistigen Liebe geweiht, die sich in
der Anbetung genügt. Dieser harmonischen, von der Blüthe der Bildung und
der edelsten Tugenden seiner Zeit erfüllten Seele bedurfte es, um in ihr
die italienische Poesie zu dem höchsten Grad lyrischer Schönheit, Reinheit
und Vortrefflichkeit auszubilden. Man würde sich sehr irren, in Petrarca einen
in Liebe zerfließenden und zerschmelzenden Dichter zu suchen, da seine Formen
eben so streng, präcis, bestimmt sind als die des Dante in ihrer Art.
Auch Boccaccio gesellt sich zu diesem Verein; denn auch die Muse seiner
Poesie ist die Liebe.
[645] Der Geist der modernen Zeit, der im Allgemeinen schon früher dargestellt
worden ist, bringt die Beschränkung der modernen Lyrik in Ansehung der
Gegenstände mit sich. Bild und Begleitung eines öffentlichen und
allgemeinen Lebens – eines Lebens in einem organischen Ganzen – konnte die
Lyrik in den modernen Staaten nicht mehr werden. Es blieben für sie
keine andern Gegenstände als entweder die ganz subjektiven, einzelne
momentane Empfindungen, worein sich die lyrische Poesie auch in den schönsten
Ergüssen der spätern Welt verloren hat, und aus denen nur sehr mittelbar
ein ganzes Leben hervorleuchtet, oder dauernde auf Gegenstände sich
beziehende Gefühle, wie in den Gedichten des Petrarca, wo das Ganze wieder
eine Art von romantischer oder dramatischer Einheit wird.
Die Sonetten des Petrarca sind nicht nur im Einzelnen, sondern im Ganzen wieder Kunstwerke. (Das Sonett einer bloß architektonischen Schönheit fähig.)
Unverkennbar ist aber, daß Wissenschaft, Kunst, Poesie von dem geistlichen Stande ausgegangen, woraus das Unheroische, sowie daß die Liebesgeschichten mehr auf Weiber als auf unverheirathete Mädchen sich beziehen.
Sonst theilt sich die lyrische Poesie in Gedichte moralischen, didaktischen, politischen Inhalts, immer mit Uebergewicht der Reflexion, der Subjektivität, da ihr die Objektivität im Leben fehlt. Die einzige Art lyrischer Gedichte, welche auf ein öffentliches Leben sich beziehen, sind die religiösen, da nur in der Kirche noch öffentliches Leben war. – Wir kommen nun zum Epos.
[Fußnote, S. 642]
1 S. Friedr. Schlegel, Geschichte der Poesie der Griechen und Römer,
S. 218.
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Erstdruck und Druckvorlage
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämmtliche Werke.
Erste Abtheilung. Fünfter Band.
Stuttgart u. Augsburg: Cotta 1859, S. 639-645.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10046894
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL: https://archive.org/details/friedrichwilhel43schegoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.32044052835725
URL: https://books.google.de/books?id=-3URAAAAYAAJ
Schelling hielt in Jena im WS 1802/03 und in Würzburg im WS 1804/05 Vorlesungen über die
"Philosophie der Kunst". Das eigenhändige Vorlesungsmanuskript Schellings wurden 1859 aus dem Nachlass
von seinem Sohn veröffentlicht (s.o.).
–
Zur Vorbereitung der Jenaer Vorlesungen stand Schelling das Manuskript
von August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesung über
"Die Kunstlehre" (1801/02) zur Verfügung; zum Austausch Schelling-Schlegel vgl.
Ernst Behler: Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson
(Philosophisches Jahrbuch 83, 1976, S. 133-183; hier S. 137-139).
Kommentierte und kritische Ausgaben
Literatur
Allerkamp, Andrea / Schmidt, Sarah (Hrsg.): Handbuch Literatur & Philosophie.
Berlin u. Boston 2021.
Behler, Ernst: Die Geschichte des Bewusstseins.
Zur Vorgeschichte eines Hegelschen Themas.
In: Hegel-Studien 7 (1972), S. 169-216.
Behler, Ernst: Schellings Ästhetik in der Überlieferung von Henry Crabb Robinson.
In: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), S. 133-183.
Robinsons Nachschrift der Vorlesungen über die "Philosophie der Kunst" (WS 1802/03) enthält
nicht das Kapitel über die "Construktion der einzelnen Dichtarten".
Binkelmann, Christoph: Aus der Werkstatt eines Philosophen.
Schellings Vorlesungen über "Philosophie der Kunst".
In: Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle.
Probleme und Aufgaben der philosophischen Edition.
Hrsg. von von Jörn Bohr.
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