Novalis

 

 

[Die Geschichte der Europäischen Menschheit]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

Aus Instinkt ist der Gelehrte Feind der Geistlichkeit nach alter Verfassung; der Gelehrte und der geistliche Stand müssen Vertilgungskriege führen, wenn sie getrennt sind, denn sie streiten um Eine Stelle. Diese Trennung that sich nach der Reformation [536] besonders in spätern Zeiten mehr hervor, und die Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geschichte der Europäischen Menschheit dem Zeitraume der triumphirenden Gelehrsamkeit näherte, und Wissen und Glauben in eine entschiednere Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. Überall litt der heilige Sinn unter den mannichfachen Verfolgungen seiner bisherigen Art, seiner zeitigen Personalität. Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie, und rechnete alles dazu, was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. [537] Noch mehr, der Religionshaß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey. Ein Enthusiasmus ward großmüthig dem armen Menschengeschlechte übrig gelassen, und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Actionär derselben unentbehrlich gemacht, der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie, und insbesondere für ihre Priester und Mystagogen. [538] Frankreich war so glücklich, der Schooß und Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammengeklebt war. So verschrieen die Poesie in dieser neuen Kirche war, so gab es doch einige Poeten darunter, die des Effects weigen noch des alten Schmücks und des alten Lichtes sich bedienten, aber dabey in Gefahr kamen das neue Weltsystem mit altem Feuer zu entzünden. Klügere Mitglieder wußten jedoch die schon warmgewordenen Zuhörer sogleich wieder mit kaltem Wasser zu begießen. Die Mitglieder waren rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschliche Seele und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines [539] mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden, sie freuten sich daß es sich eher gerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher, man reformirte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neueren vernünftigeren gemeineren Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; alle Gelehrsamkeit ward aufgeboten um die Zuflucht zur Geschichte abzuschneiden, indem man die Geschichte zu einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familiengemählde zu veredeln sich bemühte; Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feyerlich bewirthen [540] und bewundern sollte. Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue Europäische Zunft, die Philanthropen und Aufklärer. Schade daß die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen sie zu modernisiren, zum Trotz. Duckte sich ja irgendwo ein alter Aberglaube an eine höhere Welt und sonst auf, so wurde sogleich von allen Seiten Lärm geblasen, und wo möglich der gefährliche Funke durch Philosophie und Witz in der Asche erstickt. Dennoch war Toleranz das Losungswort der Gebildeten, und besonders in Frankreich gleichbedeutend mit Philosophie. Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des modernen Unglaubens und der Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der neuern Zeit. Erst in diesem Jahrhunderte und besonders in sei[541]ner letzten Hälfte beginnt sie, und wächst in kurzer Zeit zu einer unübersehlichen Größe und Mannichfaltigkeit. Eine zweyte Reformation, eine umfassendere und eigenthümlichere war unvermeidlich, und mußte das Land zuerst treffen, das am meisten modernisirt war, und am längsten aus Mangel an Freyheit im asthenischen Zustande gelegen hatte. Längst hätte sich das überirdische Feuer Luft gemacht, und die klugen Aufklärungs-Plane vereitelt, wenn nicht weltlicher Druck und Einfluß denselben zu Statten gekommen wären. In dem Augenblick aber, wo ein Zwiespalt unter den Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion und ihrer ganzen Genossenschaft entstand, mußte sie wieder, als drittes tonangebendes und vermittelndes Glied hervortreten, und diesen Hervortritt muß nun jeder Freund derselben anerkennen und verkündigen, wenn es noch [542] nicht merklich genug seyn sollte. Daß die Zeit, der Auferstehung gekommen ist, und gerade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu seyn schienen, und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind; dies kann einem historischen Gemüthe gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt, als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet, die höhern Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als des Urkern den irdischen Gestaltung zuerst heraus. Der Geist Gottes schwebt über dem Wasser und ein himmlisches Eiland, wird [543] als Wohnstätte der neuen Menschen, als Stromgebiet des ewigen Lebens zuerst sichtbar über den zurückströmenden Wogen. Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter die neuen, staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sysyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle eure Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält. Aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels, gebt ihm eine Beziehung aufs Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm, und werdet eure Bemühungen reichlich belohnt sehen. An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem [544] belehrenden Zusammenhange nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.

Soll die Revolution die Französische bleiben, wie die Reformation die Lutherische war? Soll der Protestantismus abermals widernatürlicher Weise, als revolutionäre Regierung, fixirt werden? Sollen Buchstaben, Buchstaben Platz machen? Sucht ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung, dem alten Geiste? und glaubt euch auf eine bessere Einrichtung, einen bessern Geist zu verstehn? O! daß der Geist der Geister euch erfüllte und ihr abließt von diesem thörichten Bestreben, die Geschichte und die Menschheit zu modeln und eure Richtung ihr zu geben. Ist sie nicht selbstständig, nicht eigenmächtig, so gut wie unendlich liebenswerth und weißagend? Sie zu studiren, ihr nachzugehn, von ihr zu lernen, mit ihr [545] gleichen Schritt zu halten, gläubig ihren Verheißungen und Winken zu folgen, daran denkt keiner. In Frankreich hat man viel für die Religion gethan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen, und ihr bloß das Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat, und zwar nicht in Einer Person, sondern in allen ihren unzähligen Individualgestalten. Als eine fremde, unscheinbare Waise muß sie erst die Herzen wieder gewinnen, und schon überall geliebt seyn, ehe sie wieder öffentlich angebetet, und in weltliche Dinge zur freundschaftlichen Berathung und Stimmung der Gemüther gemischt wird. —

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Novalis Schriften.
Herausgegeben von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck.
Zweiter Theil. Berlin: Buchhandlung der Realschule 1802, S. 535-545.

In der Abteilung "Fragmente vermischten Inhalts".

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110359
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN558024270
URL: https://books.google.lu/books?id=GJY6AAAAcAAJ

 

 

Kommentierte und kritische Ausgabe

 

 

 

Literatur

Burdorf, Dieter: Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur. Göttingen 2020.

Duff, David: Romanticism and the Uses of Genre. Oxford 2009.

Große, Wilhelm: Schiller, Novalis, Heine und die "Götter Griechenlands". Ein poetologischer Diskurs. In: Klassik-Rezeption. Auseinandersetzung mit einer Tradition. Festschrift für Wolfgang Düsing. Hrsg. von Peter Ensberg u.a. Würzburg 2003, S.35-52.

Grünendahl, Reinhold: Frühromantische Religiosität im Gegenwind der Säkularisierung: Novalis' 'Die Christenheit oder Europa' als 'Geschichte des heiligen Sinns'. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2015), S. 172-258.

Josephson-Storm, Jason Ä.: The Myth of Disenchantment. Magic, Modernity, and the Birth of the Human Sciences. Chicago 2017.

Landy, Joshua / Saler, Michael (Hrsg.): The Re-Enchantment of the World. Secular Magic in a Rational Age. Stanford, Calif. 2009.

Lyons, Sara: The Disenchantment/Re-Enchantment of the World: Aesthetics, Secularization, and the Gods of Greece from Friedrich Schiller to Walter Pater. In: Modern Language Review 109 (2014), S. 873-895.

Rommel, Gabriele (Hrsg.): Novalis – Das Werk und seine Editoren. Katalog zur Ausstellung. Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum, Schloss Oberwiederstedt 2001. Wiederstedt 2001.

Strack, Friedrich / Eicheldinger, Martina (Hrsg.): Fragmente der Frühromantik.
2 Bde. Berlin u. Boston 2011.
Bd. 1: Edition.
Bd. 2: Kommentar.

Taylor, Charles: Cosmic Connections. Poetry in the Age of Disenchantment. Cambridge, Mass. u. London 2024.

Zymner, Rüdiger: Eine Globalgeschichte der Lyrik. Bd. 3, Teilbd. 1: Lyrik zwischen 1800 und 2010. Paderborn 2024.
Vgl. S. 164-168.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer