Text
Editionsbericht
Literatur
Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mysticismus gemein; er ist der Sinn für das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendig-Zufällige. Er stellt das Undarstellbare dar, er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare. Kritik der Poesie ist ein Unding; es ist schon schwer zu entscheiden, ob etwas Poesie sey oder nicht. Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt, dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinne das Subject=Object vor, Gemüth und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts - seine Ewigkeit. Der Sinn für Poesie hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weißagung und dem re[501]ligiösen Sinn, dem Wahnsinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereiniget, wählt, erfindet, und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders. —
Es giebt einen speciellen Sinn für Poesie, eine poetische Stimmung in uns. Die Poesie ist durchaus personell, und darum unbeschreiblich, und nicht zu definiren. Wer es nicht unmittelbar weiß und fühlt, was Poesie ist, dem läßt sich kein Begriff davon beibringen, Poesie ist Poesie; von Sprech= oder Redekunst unendlich verschieden. —
Man sucht mit der Poesie, die gleichsam nur das mechanische Instrument dazu ist, innere Stimmungen, oder Gemälde und Anschauungen hervorzubringen, vielleicht auch geistige Tänze u. s. w. Poesie ist Gemüthserregungskunst. —
Poesie ist Darstellung des Gemüths, der innern Welt in ihrer Gesammtheit. Schon [502] ihr Medium, die Worte, deuten es an, denn sie sind ja die äußere Offenbarung jenes innern Kraftreichs, ganz das, was die Plastik zur äußern gestalteten Welt, und die Musik zu den Tönen ist. Effect ist ihr gerade entgegen gesetzt, in so fern sie plastisch ist, doch giebt es eine musikalische Poesie, die das Gemüth selbst in ein mannigfaltiges Spiel von Bewegungen setzt. —
Erstdruck und Druckvorlage
Novalis Schriften.
Herausgegeben von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck.
Zweiter Theil. Berlin: Buchhandlung der Realschule 1802, S. 500-502.
In der Abteilung "Fragmente vermischten Inhalts".
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110359
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN558024270
URL: https://books.google.lu/books?id=GJY6AAAAcAAJ
Literatur
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Ein Beitrag zur Rezeption des romantischen Musikbegriffs.
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Vgl. S. 164-168.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer