Joachim Heinrich Campe

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke.
Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche

 

Lyrisches Gedicht

 

 

Lyrisches Gedicht, wörtlich übersetzt, ein Leiergedicht, d. i. ein Gedicht, welches zur Leier gesungen wird. Allein da sowol die Leier bei uns ein verächtliches Tonwerkzeug geworden ist, als auch der Umstand, daß man diese Gedichte ehemahls mit der Leier zu begleiten pflegte, kein wesentliches Kennzeichen dieser Dichtart abgeben kann; indem nicht nur zu einigen Arten derselben auch die Flöte gebraucht, sondern auch wol andere, als lyrische Gedichte, mit der Leier begleitet wurden: so kann jene wörtliche Übersetzung ihres ehemahligen Namens jetzt nicht mehr für eine schickliche Benennung derselben gehalten werden. Sulzer und andere haben gezeigt, daß Fülle der Empfindung, die in Gesang ausbricht, das Wesen dieser Dichtart ausmache. Dem zufolge müßte man sie entweder Empfindungsgedichte oder Singgedichte nennen. Allein diese letzte Benennung ist schon, für Cantate üblich; es bliebe daher nur jene erste übrig; allein, genauer betrachtet, eignet auch sie sich nicht dazu, die lyrischen Gedichte von andern Dichtungsarten gehörig abzusondern; denn alle andern Gedichte haben es ja auch mit Empfindungsdarstellungen zu thun. Alles wohl erwogen, scheint mir unser Gesang die beste Deutsche Benennung dafür zu sein. Denn, daß der Sprachgebrauch dieses Wort (insofern es das, was gesungen wird, und nicht die Handlung des Singens bezeichnet) im gemeinen Leben schon zu einer Benennung der Kirchengesänge insbesondere gestempelt hat, scheint dem Versuche, es in jener allgemeinern Bedeutung für lyrisches Gedicht überhaupt, gebräuchlich zu machen, kein unüberwindliches Hinderniß in den Weg zu legen. Irgend ein tonangebender Dichter brauchte nur eine Sammlung von lyrischen Gedichten unter dem Titel: Gesänge, herauszugeben; und wir brauchten uns nur zum Gesetz zu machen, überall, wo von Gesängen zum Kirchengebrauche die Rede ist, uns der bestimmteren Benennung, Kirchengesang, zu bedienen: so würde jener alte Volkssprachgebrauch sich nach und nach verlieren, und dieser neue an seine Stelle treten.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke.
Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche.
Zweiter Band F - Z.
Braunschweig: In der Schulbuchhandlung 1801, S. 450.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.a0012925574
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10711894
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN556271092

 

 

 

Literatur

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