Friedrich Schlegel

 

 

Gespräch über die Poesie.

[Auszug]

 

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Werkverzeichnis
Literatur: Friedrich Schlegel
Literatur: Athenaeum

 

[58] Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eignen Leben das Verschiedenste suchen, einer gänzlich verachten, was der andre am heiligsten hält, sich verkennen, nicht vernehmen, ewig fremd bleiben; in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden. Jede Muse sucht und findet die andre, und alle Ströme der Poesie fließen zusammen in das allgemeine große Meer.

Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben, um ihn zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Thoren sich bemühen, die nicht wissen was sie [59] wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft ächter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer classischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüthe und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie.

Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wähnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fülle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Thieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüthe der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht? – Diese aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Tätigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Blüthe auch wir sind – die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schönheit des [60] Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört.

Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.

Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt seyn muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschränkt seyn. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit seyn kann und soll. Darum geht [61] der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode.

Darum darf es auch dem Dichter nicht genügen, den Ausdruck seiner eigenthümlichen Poesie, wie sie ihm angeboren und angebildet wurde, in bleibenden Werken zu hinterlassen. Er muß streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern, und sie der höchsten zu nähern, die überhaupt auf der Erde möglich ist; dadurch daß er seinen Teil an das große Ganze auf die bestimmteste Weise anzuschließen strebt: denn die tödtende Verallgemeinerung wirkt gerade das Gegentheil.

Er kann es, wenn er den Mittelpunkt gefunden hat, durch Mittheilung mit denen, die ihn gleichfalls von einer andern Seite auf eine andre Weise gefunden haben. Die Liebe bedarf der Gegenliebe. Ja für den wahren Dichter kann selbst das Verkehr mit denen, die nur auf der bunten Oberfläche spielen, heilsam und lehrreich sein. Er ist ein geselliges Wesen.

Für mich hatte es von jeher einen großen Reiz mit Dichtern und dichterisch Gesinnten über die Poesie zu reden. Viele Gespräche der Art habe ich nie vergessen, von andern weiß ich nicht genau, was der Fantasie und was der Erinnerung angehört; vieles ist wirklich darin, andres ersonnen. So das gegenwärtige, welches ganz verschiedene Ansichten gegen einan[62]der stellen soll, deren jede aus ihrem Standpunkte den unendlichen Geist der Poesie in einem neuen Lichte zeigen kann, und die alle mehr oder minder bald von dieser bald von jener Seite in den eigentlichen Kern zu dringen streben. Das Interesse an dieser Vielseitigkeit erzeugte den Entschluß, was ich in einem Kreise von Freunden bemerkt und anfänglich nur in Beziehung auf sie gedacht hatte, allen denen mitzutheilen, die eigne Liebe im Busen spüren und gesonnen sind, in die heiligen Mysterien der Natur und der Poesie kraft ihrer innern Lebensfülle sich selbst einzuweihen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Athenaeum.
Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel.
Dritten Bandes Erstes Stück, S. 58-128.
Dritten Bandes Zweites Stück, S. 169-187.
Berlin: Frölich 1800.

Unser Auszug: Dritten Bandes Erstes Stück; S. 58-62.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Athenaeum   online
URL: https://books.google.fr/books?id=5mZeAAAAcAAJ
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10858563
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Athenaeum

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

Kommentierte und kritische Ausgabe

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnis

Goedeke, Karl: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen.
2. Aufl. Bd. 6. Leipzig u.a.: Ehlermann 1898, S. 17-27.
URL: https://archive.org/details/grundriszzurges03goog



Schlegel, Friedrich: Die Griechen und Römer.
Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum.
Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. Neustrelitz: Michaelis 1797.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10927143
PURL: https://hdl.handle.net/2027/chi.15491915

Schlegel, Friedrich: Geschichte der Poesie der Griechen und Römer.
Bd. 1, Abt. 1 [mehr nicht erschienen]. Berlin: Unger 1798.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10765682
PURL: https://hdl.handle.net/2027/chi.45887916


Schlegel, August Wilhelm / Schlegel, Friedrich: Charakteristiken und Kritiken.
Bd. 1. Königsberg: Nicolovius 1801.
URL: https://archive.org/details/charakteristike00schlgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082508692
URL: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-33558
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574601

Schlegel, August Wilhelm / Schlegel, Friedrich: Charakteristiken und Kritiken.
Bd. 2. Königsberg: Nicolovius 1801.
URL: https://archive.org/details/charakteristike01schlgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082508700
URL: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-33558
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574602


Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Litteratur.
Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812.
Erster Theil. Wien: Schaumburg 1815.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10710814
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t4jm7jr06

Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Litteratur.
Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812.
Zweyter Theil. Wien: Schaumburg 1815.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10710815
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t85j2v18g


Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 3 (= Studien des classischen Alterthums, 1).
Wien: Mayer 1822.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10604577
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015051096165

Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 4 (= Studien des classischen Alterthums, 2).
Wien: Mayer 1822.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11090962
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015051096165

Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 10 [Vermischte kritische Schriften].
Wien: Mayer 1825.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11090968
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015008441225

 

 

 

Literatur: Friedrich Schlegel

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer