Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme [29] in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisiren, sey ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frey von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten seyn soll, alle Theile ähnlich organisirt, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann. Sie kann durch keine Theo[30]rie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisiren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frey ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.
Erstdruck und Druckvorlage
Athenaeum.
Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel.
Ersten Bandes Zweytes Stück.
Berlin: Vieweg 1798, S. 28-30.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
Athenaeum online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Athenaeum
Kommentierte und kritische Ausgaben
Werkverzeichnis
Verzeichnis
Goedeke, Karl: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen.
2. Aufl. Bd. 6. Leipzig u.a.: Ehlermann 1898, S. 17-27.
URL: https://archive.org/details/grundriszzurges03goog
Schlegel, Friedrich: Die Griechen und Römer.
Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum.
Bd. 1 [mehr nicht erschienen]. Neustrelitz: Michaelis 1797.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10927143
PURL: https://hdl.handle.net/2027/chi.15491915
Schlegel, Friedrich: Geschichte der Poesie der Griechen und Römer.
Bd. 1, Abt. 1 [mehr nicht erschienen]. Berlin: Unger 1798.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10765682
PURL: https://hdl.handle.net/2027/chi.45887916
Schlegel, August Wilhelm / Schlegel, Friedrich: Charakteristiken und Kritiken.
Bd. 1. Königsberg: Nicolovius 1801.
URL: https://archive.org/details/charakteristike00schlgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082508692
URL: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-33558
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574601
Schlegel, August Wilhelm / Schlegel, Friedrich: Charakteristiken und Kritiken.
Bd. 2. Königsberg: Nicolovius 1801.
URL: https://archive.org/details/charakteristike01schlgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433082508700
URL: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-33558
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574602
Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Litteratur.
Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812.
Erster Theil. Wien: Schaumburg 1815.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10710814
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t4jm7jr06
Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Litteratur.
Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812.
Zweyter Theil. Wien: Schaumburg 1815.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10710815
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t85j2v18g
Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 3 (= Studien des classischen Alterthums, 1).
Wien: Mayer 1822.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10604577
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015051096165
Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 4 (= Studien des classischen Alterthums, 2).
Wien: Mayer 1822.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11090962
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015051096165
Schlegel, Friedrich: Sämmtliche Werke.
Bd. 10 [Vermischte kritische Schriften].
Wien: Mayer 1825.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb11090968
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015008441225
Literatur
Behler, Ernst: Lyric Poetry in the Early Romantic Theory of the Schlegel Brothers.
In: Romantic Poetry.
Hrsg. von Angela Esterhammer.
Amsterdam u.a. 2002 (= A comparative history of literatures in European
languages, 17), S. 115-141.
Brandmeyer, Rudolf: Das historische Paradigma der subjektiven Gattung.
Zum Lyrikbegriff in Friedrich Schlegels "Geschichte der Poesie der Griechen und Römer".
In: Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass.
Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Jung u.a.
Bielefeld 2006, S. 155-174.
[PDF]
Burdorf, Dieter: Zerbrechlichkeit.
Über Fragmente in der Literatur.
Göttingen 2020.
Duff, David: Romanticism and the Uses of Genre.
Oxford 2009.
Endres, Johannes (Hrsg.): Friedrich Schlegel-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung.
Stuttgart 2017.
Frischmann, Bärbel: Friedrich Schlegels frühromantische Kritikkonzeption
und ihre Potenzierung zur "Kritk der Kritik".
In: Archiv für Begriffsgeschichte 43 (2001), S. 83-111.
URL: https://www.jstor.org/stable/24360994
Grimm, Sieglinde: Dichtarten und Wissenssystematik.
Zum Einfluß der nachkantischen Organisation des
Wissens auf die poetologische Gattungsdebatte bei Novalis und Friedrich Schlegel.
In: Euphorion 94 (2000), S. 149-171.
Leventhal, Robert: Gattungen und System der Kritik beim jungen Friedrich Schlegel.
In: Athenäum.
Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 24 (2014), S. 99-145.
Renneke, Petra: Das große Lalula.
Friedrich Schlegels Konzept einer progressiven Universalpoesie.
In: Athenäum 20 (2010), S. 211-228.
URL: https://doi.org/10.18452/5954
Smith, Anna: Wahrnehmung und Darstellung des Unendlichen.
Schleiermachers Individualitätsdenken im Kontext der Frühromantik.
Leipzig 2024.
Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie.
Stuttgart u.a. 2010.
Edition
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