Wilhelm von Humboldt

 

 

Brief an Schiller   (27. November 1795)

 

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur: Humboldt
Literatur: Brief

 

[313] In den ersten Tagen habe ich bloß über die ungefähre Art nachgedacht. Das Thema im Ganzen ist, wie Sie es selbst bestimmen: eine Charakteristik des Griechischen Geistes. Es ist so der wichtigste Theil des Werks, was ich mir einmal zu liefern vorgesetzt hatte: eine mit ausführlichen historischen Beweisen belegte Schilderung des griechischen Charakters. Den griechischen Geist überhaupt aber zu charakterisiren, ist ein Gegenstand von sehr großem Umgang. Um mich also nicht gleich in ein zu großes Ganzes zu verirren, nehme ich bloß für jetzt den dichterischen Geist. Allein auch hier muß ich noch kleinere Abschnitte machen.

Ich habe überlegt, daß es nicht möglich ist, auch nur die Hauptzüge des griechischen Dichtergenie's in Einem Aufsatz zu schildern, ohne entweder unbestimmt und unvollständig, oder zu abstract und dunkel zu werden. Es würde nur damit, wie mit dem Horenaufsatz gehen, der auch, statt die Reihe jener projectirten Aufsätze anzufangen, sie hätte beschließen sollen. Auch müßte [314] ich, wenn ich nun, nach jenem Aufsatz, an das Einzelne gehen wollte, mich nur wiederholen, und würde in der ersten Abhandlung fast gar keine Beispiele bringen können, ohne der Allgemeinheit zu schaden. Ich denke also von dem Besondern anzufangen, zuerst bloß beschreibend zu Werke zu gehen, und die Resultate immer nach und nach zu einer größeren Allgemeinheit zusammenzuziehen. Die Hauptmasse, in welche das Ganze zerfällt, sind ganz natürlich: die epische Dichtkunst mit Inbegriff der bukolischen, die tragische, komische und lyrische im weitesten Verstande. Am zweckmäßigsten würde man, glaube ich, mit der epischen anfangen, auf diese die lyrische folgen lassen, und mit der dramatischen den Beschluß machen. Denn wie Sie mir hoffentlich beistimmen werden, ist die Haupttendenz der ächt griechischen Stimmung episch, und die griechische dramatische Poesie eine, sogar nicht immer sehr künstliche, Zusammensetzung der epischen mit der lyrischen. Dennoch will ich mit der lyrischen den Anfang machen. Mein näch[315]ster Grund ist hier bloß der, daß von Homer (der die Epopöe doch fast allein ausmacht) schon gerade jetzt so viel gesprochen ist, und daß ich meinem Aufsatz über die minder bekannten lyrischen Dichter schon von selbst mehr Interesse geben kann. Auch habe ich in ihnen mehr vorgearbeitet. An sich aber ist es auch nicht übel, die griechische Individualität an ihnen zu zeigen, da sie in den lyrischen Stücken weit mehr als Eigenthümlichkeit, als in der epischen erscheint, und ich dadurch, daß die lyrische Poesie in so genauem Zusammenhange mit dem Charakter und der Empfindungsweise steht, mehr Veranlassung erhalte, die Seelenstimmung der Griechen überhaupt zu entwickeln. Bei den Lyrikern habe ich nun wieder drei Hauptmassen: 1) Pindar, 2) die Chöre, 3) die Fragmente der übrigen Dichter und die anderen Stücke der sogenannten Anthologie. Auch könnte ich es ja wohl auf diese Weise in drei Aufsätze theilen? Hätte ich erst einen oder ein Paar solcher Aufsätze fertig, so könnten sie [316] einzeln für die Horen dienen. Was aber das Ganze betrifft, so werden mir die einzelnen Bearbeitungen selbst besser die Art in die Hand geben, wie ich diese zusammenordnen kann. Jetzt habe ich angefangen an den Pindar Hand anzulegen, der die Grundlage ausmachen soll. Indeß werde ich zugleich die Chöre vornehmen, um zu sehen, ob diese sich besser dazu schicken. Sie sehen, daß ich nun eile, mich an eine bestimmte und kleinere Arbeit zu binden. Ich kenne mich, wie leicht ich mich durch größere Plane zerstreue. Bin ich aber mit dieser Arbeit erst im Gange, so entwerfe ich doch vielleicht einen Plan des Ganzen, mich zu leiten und ihn Ihnen mitzutheilen. Bei den einzelnen Aufsätzen denke ich historische Details, die nicht ganz bekannt sind, und zur Sache dienen, nicht zurückzuweisen. Ich denke immer, die Klarheit gewinnt, wenn ich der Wirklichkeit oder der Thatsache nahe bleibe. Ich bitte Sie jetzt recht sehr um Ihre Meinung über diesen Plan. Ich könnte ihn sehr leicht umändern, wenn Sie [317] es für nöthig fänden; denn da ich doch einmal das ganze Feld bearbeiten will, so ist nichts verloren, und was die Dichter betrifft, so bin ich in jede Gattung gut genug eingelesen. Daß ich zugleich die lateinischen und neuern Hauptdichter derselben Gattung für mich studire, und als, durch den Contrast oder die Aehnlichkeit, erläuternd, manchmal gebrauche, versteht sich von selbst.

Die Hauptschwierigkeit ist unstreitig die philosophische Theorie der Dichtungswerke, die zur Würdigung einer individuellen vorausgesetzt werden muß, und doch weder in den Köpfen der Leser, noch in einzelnen Büchern bestimmt vorhanden ist. Hier kostet es nun doppelte Mühe, sowohl die wahren Begriffe aufzufinden, als sie auf eine ungezwungene und präcise Weise einzuflechten. Der erste Theil der Arbeit ist mir indeß durch Sie schon unglaublich erleichtert. Sie sehen, lieber Freund, daß ich mit Eifer und Wärme ans Werk gehe. Auch am Ausharren soll es nicht liegen. Ueber das [318] Uebrige mögen dann günstige Götter walten und vor allen Dingen Ihre Theilnahme, die eine ganz eigene Kraft für mich besitzt.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm v. Humboldt.
Mit einer Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung
von W. von Humboldt.
Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1830, S. 307-318.

Unser Auszug: S. 313-318.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.$b610521
URL: https://archive.org/details/bub_gb_dzoJAAAAQAAJ
URL: https://books.google.fr/books?id=dzoJAAAAQAAJ
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10403910

 

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

 

 

Werkverzeichnis

Seidel, Siegfried (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt.
2 Bde. Berlin: Aufbau-Verlag 1962.

Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken (= Werke II).
Hrsg. von Andreas Flitner u.a.
3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979.

Humboldt, Wilhelm von: Briefe an Friedrich August Wolf,
textkritisch herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson
(Im Anhang: Humboldts Mitschrift der Ilias-Vorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789).
Berlin u.a.: de Gruyter 1990.

Humboldt, Wilhelm von: Essais esthétiques sur Hermann et Dorothée de Goethe
suivis d'un Article adressé à Madame de Staël.
Hrsg. und übers. von Christophe Losfeld.
Villeneuve d'Ascq: Presses universitaires du Septentrion 1999.

Humboldt, Wilhelm von: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe.
Hrsg. und kommentiert von Philip Mattson.
Berlin: de Gruyter 2014 ff.

Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Geschichtstheorie.
Hrsg. von Jörn Rüsen u. Angelika Wulff.
Ditzingen: Reclam 2021 (= Reclams Universal-Bibliothek, 14167).

Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Geschichte und Frühgeschichte der Basken und des Baskischen
Hrsg. von von Bernhard Hurch.
Paderborn: Schöningh u. Brill. 2022.

 

 

 

Literatur: Humboldt

Berghahn, Cord-Friedrich: Wilhelm von Humboldt-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Berlin 2022.

Brandmeyer, Rudolf: Das historische Paradigma der subjektiven Gattung. Zum Lyrikbegriff in Friedrich Schlegels "Geschichte der Poesie der Griechen und Römer". In: Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass. Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Jung u.a. Bielefeld 2006, S. 155-174. [PDF]

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Dembeck, Till: Der Ton der Kultur. Lyrik und Sprachforschung im 19. Jahrhundert. Göttingen 2023.

Erlinghagen, Armin: "Poesie ist Poesie, von Sprech- und Redekunst unendlich verschieden". Anmerkungen zur Krise der Schriftstellerei um 1800 mit Rücksicht auf Goethe, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel und Wilhelm Müller. In: Athenäum 18 (2008), S. 81-100.

Feuchter-Feler, Anne: Das literarische Intellektuellenmilieu in Wilhelm von Humboldts Briefwechsel mit Schiller (1790 – 1805). In: Médiation et conviction. Mélanges offerts à Michel Grunewald. Hrsg. von Pierre Béhar u.a. Paris 2007 (= De l'allemand), S. 329-346.

Fink, Wolfgang: "Blitze, die plötzlich ins Innere der Sachen schießen". Anmerkungen zum Briefwechsel zwischen W. von Humboldt und F. Schiller. In: L'art épistolaire entre civilité et civisme: de Gellert à Humboldt. Cahiers d’Études Germaniques 70 (2016), S. 267-292.
URL: http://journals.openedition.org/ceg/1037

Hühn, Helmut u.a. (Hrsg.): Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Weimar 2019.

Jacobs, Angelika: Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal. Hamburg 2013.
S. 105-126: Wilhelm von Humboldts symbolische Gattungstheorie.

Krebs, Roland: Wilhelm von Humboldt als Mittler zwischen Paris und Weimar. In: Ereignis Weimar - Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext. Hrsg. von Lothar Ehrlich u.a. Köln u.a. 2008, S. 217-231.

Pinna, Giovanna: Idealität und Individuum. Zum Lyrikbegriff Schillers und Wilhelm von Humboldts. In: Die Realität der Idealisten. Friedrich Schiller – Wilhelm von Humboldt – Alexander von Humboldt. Hrsg. von Hans Feger u.a. Köln u.a. 2008, S. 187-200.

Trappen, Stefan: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (= Beihefte zum Euphorion, 40).

Vance, Norman / Wallace, Jennifer (Hrsg.): The Oxford History of Classical Reception in English Literature. Bd. 4: 1790-1880. Oxford 2015.

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer