Johann Wolfgang Goethe

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Goethe
Literatur: Poetologische Lyrik
Literatur: Deutsche Monatsschrift
Literatur: Elegie

 

                                            Elegie.

                                                Rom, 1789.

 

5   Amor bleibet ein Schalk, wer ihm vertraut, ist betrogen!
      Heuchelnd kam er zu mir: "Traue mir dießmal nur noch.
Redlich meyn ichs mit dir, du hast dein Leben und Dichten,
      Dankbar erkenn ich es wohl, meiner Verehrung geweiht.
Sieh! dir bin ich nun gar nach Rom gefolget, ich möchte
10         Dir im fremden Gebiet gern was gefälliges thun.
Jeder Reisende klagt, er finde schlechte Bewirthung,
      Welchen Amor empfiehlt, köstlich bewirthet ist er.
[186] Du betrachtest mit Staunen die Trümmer alter Gebäude,
      Und durchwandelst mit Sinn diesen geheiligten Raum.
15   Du verehrest noch mehr die werthen Reste des Bildens
      Einziger Künstler, die ich stets in der Werkstatt besucht.
Diese Gestalten, ich lehrte sie formen. Verzeih mir, ich prahle
      Dießmal nicht, du gestehst, was ich dir sage, sey wahr.
Nun du mir läßiger dienst, wo sind die schönen Gestalten,
20         Wo die Farben, der Glanz deiner Erfindungen hin?
Denkst du, Freund, nun wieder zu bilden, die Schule der Griechen
      Blieb noch offen, das Thor schlossen die Jahre nicht zu.
Ich der Lehrer bin ewig jung, und liebe die Jungen.
      Nicht so altklug gethan! Munter! Begreife mich wohl!
25   Das Antike war neu, da jene Glückliche lebten,
      Lebe glücklich und so lebe die Vorzeit in dir.
Stoff zum Liede, wo nimmst du ihn her? ich muß dir ihn geben,
      Und den höhern Styl lehret die Liebe dich nur.
Also sprach der Sophiste. Wer widerspräch ihm? und leider!
30         Bin ich zu folgen gewöhnt, wenn der Gebieter befiehlt. –
[187] Nun verrätherisch hält er sein Wort, giebt Stoff zu Gesängen,
      Ach und raubt mir die Zeit, Kraft und Besinnung zugleich.
Blicke, Händedruck und Küsse, gemüthliche Worte,
      Sylben köstlichen Sinns wechselt ein liebendes Paar.
35   Da wird ein Lispeln Geschwätze, da wird ein Stottern zur Rede,
      Solch ein Hymnus verhallt ohne prosodisches Maß.
Dich Aurora, wie kannt' ich dich sonst als Freundinn der Musen.
      Hat Aurora dich auch Amor, der Lose, verführt?
Du erscheinest mir nun als seine Freundinn und weckest
40         Mich an seinem Altar wieder zum festlichen Tag.
Find ich die Fülle der Locken an meinem Busen! Das Köpfchen
      Ruhet und drücket den Arm der sich dem Halse bequemt.
Welch ein freudig Erwachen! Erhieltet ihr ruhige Stunden
      Mir das Denkmal der Lust, die in den Schlaf uns gewiegt?
45   Sie bewegt sich im Schlummer und sinkt auf die Breite des Lagers
      Weggewendet und doch läßt sie mir Hand noch in Hand.
Herzliche Liebe verbindet uns immer und treues Verlangen,
      Und den Wechsel behielt nur die Begierde sich vor.
Einen Druck der Hand, ich sähe die himmlischen Augen
50         Wieder offen. – O nein! laßt auf der Bildung mich ruhn!
[188] Bleibt geschlossen, ihr macht mich verworren und trunken, ihr raubet
      Mir den stillen Genuß reiner Betrachtung zu früh.
Diese Formen wie gros! Wie edel gewendet die Glieder!
      Schlief Ariadne so schön, Theseus du konntest entfliehn!
  Einen Kuß auf diese Lippen! O Theseus! und scheide! – –
      Blick' ihr ins Auge! sie wacht! – Ewig nun hält sie dich fest.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Deutsche Monatsschrift.
1791, Juli, S. 185-188.

Gezeichnet: Göthe.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Deutsche Monatsschrift   online
URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/toc/1921388/0/LOG_0000/
URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/520145-7
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/012448225
URL: http://anno.onb.ac.at/info/dms_info.htm

 

 

Zeitschriften-Repertorium

 

Mit Änderungen aufgenommen in

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

 

 

Literatur: Goethe

Begemann, Christian: Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 2002 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 92), S. 79-112.

Böhm, Elisabeth: Epoche machen. Goethe und die Genese der Weimarer Klassik zwischen 1786 und 1796. Studie zu den Römischen Elegien in der Zeitschrift Die Horen und den Venetianischen Epigrammen in Friedrich Schillers Musenalmanach. Bremen 2017.

Hilliard, K. F.: Römische Elegien XX: Metapoetic Reflection in Goethe's Classical Poetry. In: Goethe at 250. London Symposium. Hrsg. von T. J. Reed. München 2000 (= Publications of the Institute of Germanic Studies, 75), S. 223-232.

Kaufmann, Sebastian: "Schöpft des Dichters reine Hand ...". Studien zu Goethes poetologischer Lyrik. Heidelberg 2011 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 291).

Klimek, Sonja: Zeit und Zyklus. Eine lyrikologische Studie zu Goethes Römischen Elegien und Venezianischen Epigrammen. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2. Begriffe, Methoden und Analysedimensionen. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin 2021, S. 265-290.

Meixner, Sebastian / Rocks, Carolin: Things of Art and Amor: Mediation in Goethe's Römische Elegien In: Goethe Yearbook 30 (2023), S. 77-93.

Riedl, Peter P.: Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes. Tübingen 2021.

Rohde, Carsten u.a. (Hrsg.): Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Berlin u. Boston 2013.

 

 

Literatur: Deutsche Monatsschrift

Habel, Thomas: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007 (= Presse und Geschicht; Neue Beiträge, 17).

Kuhles, Doris: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik. Bibliographie der kritischen Literatur von den Anfängen bis 1990. 2 Bde. München u.a. 1994.

Schürmann, Inga: Die Kunst des Richtens und die Richter der Kunst. Die Rolle des Literaturkritikers in der Aufklärung. Göttingen 2022.

 

 

Literatur: Elegie

Buffet, Thomas: Le Renouvellement de l'écriture élégiaque Chez Friedrich Hölderlin et André Chénier. Paris 2020.

Fuchs, Britta A.: Poetologie elegischen Sprechens. Das lyrische Ich und der Engel in Rilkes "Duineser Elegien". Würzburg 2009.

Görner, Rüdiger: Art. Elegie. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 170-175.

Komura, Toshiaki: Lost Loss in American Elegiac Poetry. Tracing Inaccessible Grief from Stevens to Post-9/11. Lanham u.a. 2020.

Loubier, Pierre: La voix plaintive. Sentinelles de la douleur. Élégie, histoire et société sous la Restauration. Paris 2013.

Maulpoix, Jean-Michel: Une histoire de l'élégie. Poétique, histoire, anthologie. Paris 2018.

Mußgnug, Carl-Philipp: "Enge der Ordnungen" und "Ingrimm der Zeichen". Die Elegie in der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren. Diss. Bielefeld 2021.
URL: https://pub.uni-bielefeld.de/record/2962289

Penzenstadler, Franz: Romantische Lyrik und klassizistische Tradition. Ode und Elegie in der französischen Romantik. Stuttgart 2000.

Perry, Seamus: Elegy. In: A Companion to Victorian Poetry. Hrsg. von Richard Cronin u.a. Malden, MA 2002, S. 115-133.

Reibaud, Laetitia: L'élégie européenne au XXe siècle. Persistance et métamorphoses d'un genre poétique antique. Paris 2022.

Ressel, Andrea (Hrsg.): Trauerpoetik. Die Elegie im Kontext von deutsch-britischen Literaturbeziehungen, 1750 -1850. Göttingen 2015.

Schuster, Jörg: Poetologie der Distanz. Die 'klassische' deutsche Elegie 1750 – 1800. Freiburg i.Br. 2002 (= Rombach Wissenschaften; Reihe Cultura, 25).

Thorsen, Thea S. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Latin Love Elegy. Cambridge u.a. 2013.

Weisman, Karen (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Elegy. Oxford u.a. 2010.

Ziolkowski, Theodore: The Classical German Elegy. Princeton, N.J. 1980.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer