Karl Heinrich Heydenreich

 

 

System der Aesthetik

Dritter Exkurs.

[Auszug]

 

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Editionsbericht
Literatur

 

[317] Seit ich angefangen habe, über das Wesen der Dichtungsarten etwas schärfer nachzudenken, hat keine Gattung mir so viele Schwierigkeiten bey jedem Versuche der Entwickelung entgegengestellt, als die lyrische Poesie. Durch ein mit der Mode unsrer Zeiten eben nicht übereinstimmendes Studium der Philosophie an jenen Systemgeist gewöhnt, welcher über den Spott kleinmeisterischer Denker so sehr erhaben ist, hegte ich keine Ueberzeugung fester, als diese: daß, wenn die Dichtungsarten wirklich ein Ganzes ausmachten, und eine eigene Sphäre einnähmen, sie sich nothwendig nach einem bestimmten Princip eintheilen lassen müßten, und daß, sobald nur der Theorist eine Dichtungsart unter ihren richtigen Begriff gebracht habe, es nicht fehlen könne, daß ihr dann auch in [318] der Sphäre des Ganzen ein bestimmtet Platz zukomme. Mit dieser Ueberzeugung las ich auch die mannigfaltigen Versuche über die lyrischen Dichtkunst, allein jemehr ich mich den Verfassern derselben überließ, um desto verworrener wurden meine Begriffe, desto mehr verschwand die Aussicht einer scharfen Bestimmung des Wesens und der Gränzen dieser Gattung, dem Ganzen sowohl als seinen Theilen nach. Für mein Gefühl war die lyrische Dichtkunst ein geschlossenes Ganzes, seit ich mit einiger Reflexion ihre vortrefflichsten Werke genossen hatte; Ode, Elegie und Lied konnte ich nur als innig verwandte, und in der nächsten Nachbarschaft gegen einander stehende Theile desselben denken; so scharf hatten sich von selbst die Wirkungen ihrer Werke vor allen übrigen ausgezeichnet, und wäre kein Bedürfniß über diese Gegenstände zu philosophiren in mir entstanden, so würde jener Gefühlsglaube, wenn ich so sagen darf, zu meiner völligen Befriedigung hingereicht haben. Allein sobald dieses eintrat, mußte ich mir selbst Rechenschaft über meine Empfindun[319]gen bey lyrischen Werken abfordern, und die in und an diesen befindlichen bestimmten eigenthümlichen Gründe für die durch sie erregten bestimmten eigenthümlichen Empfindungen aufsuchen. Die ersten Versuche, durch mich selbst über diesen Punkt mit mir selbst einig zu werden, mislangen, und die Fortsetzungen derselben wurden in dem Maase immer weniger entscheidend, als ich zu gleicher Zeit die Arbeiten andrer zu Hilfe nahm. Die Begriffe von lyrischer Poesie, welche ich bey den meisten fand, trafen in keinem fest bestimmten wesentlichen und als wesentlich mit unzweydeutiger Evidenz erscheinendem Merkmale zusammen, desto mehr aber schienen sie mit einander um den Ruhm der möglichsten Unbestimmtheit, der schwankendesten Umgränzung und des schielendesten Ausdrucks zu wetteifern. Bald gerieth ich auf einen Weltweisen, welcher mit Zueignung der Fähigkeit gesungen, und mit der Leyer begleitet zu werden, das ganze Wesen der lyrischen Poesie erschöpft zu haben glaubte, eine Meynung, welche nichts für sich hat, als die Autoritat der Alten, und am kür[320]zesten durch eine Menge von Werken widerlegt wird, welche bey durchgängiger Uebereinstimmung mit den übrigen auch dem Gefühle sich schon ankündigenden eigenthümlichen Beschaffenheiten und Wirkungen der lyrischen Poesie, doch der musikalischen Setzung nicht fähig sind; bald fand ich einen andern, welcher sich damit begnügte, das lyrische Gedicht als ein Gedicht zu erklären, in welchem die Hauptvorstellungen mit einer herrschenden Leidenschaft vergesellschaftet sind, bald einen andern, welcher alles gesagt zu haben glaubte, wenn er das lyrische Gedicht als unmittelbares Produkt der Fülle des Gefühls, als Erguß des Herzens darstellte, bald mehrere andre, welche sich um dieselbe schwankende Idee, jeder auf seine Weise drehten. Am gewissesten glaubte ich die Lückenhaftigkeit und Unbestimmtheit in den Theorien der lyrischen Dichtkunst dadurch zu erkennen, daß kein Verfasser einer derselben durch seinen Begriff in den Stand gesetzt war, unwiderleglich darzuthun, welche Unterarten diese Dichtungsart befasse, mit welchem Rechte man diese mit [321] zu ihrem Gebiethe schlage, jene davon ausschließe. Hymne, Dithyrambe, Päan, Skolie, Hymnus, Oden und Lieder aller Art fand ich einstimmig zur lyrischen Poesie gerechnet, das beschreibende, das Lehr- das epische Gedicht, die Fabel, den Roman, das dramatische Gedicht durchweg ausgeschlossen; bey einigen Dichtungsarten fand ich eine große Abweichung der Theoristen, einige zählten die Idylle mit zu der lyrischen Poesie, die meisten ließen sie weg, sehr viele zogen die Elegie mit in den Kreiß, mehr als einer versagte ihr unter den lyrischen Werken einen Platz. Warum man allgemein das blos beschreibende, blos erzählende und dramatische Gedicht von der lyrischen Poesie ausschloß, war mir augenblicklich einleuchtend, indem jene Werke alles Ausdrucks der eigenen Leidenschaft, des eigenen Gefühles des Dichters ermangeln. Allein wenn ich das leidenschaftlich und empfindsam beschreibende, das sogenannte Lehrgedicht und das epische Gedicht betrachtete, so bemerkte ich zwischen ihnen und denen allgemein als lyrische angenommenen Gedichten eine [322] nicht unwesentliche Aehnlichkeit, und die Verschiedenheit der äußern Form konnte mich auf keine Weise bestimmen, ihnen eine von der Sphäre der lyrischen Poesie ganz und gar gesonderte Sphäre zuzueignen. Ich fand in den wenigen meisterhaften beschreibenden und Lehrgedichten unverkennbaren Ausdruck eines Dranges der Leidenschaft; ja bey vielen epischen Werken schien mir der Gesang wahrer Erguß des Herzens, Ossian besonders, nach den gewöhnlichen Begriffen, ein ächter lyrischer Erzähler zu seyn. Indessen fühlte ich doch, daß ich von einer gewissen Seite in einem ganz andern Zustande war, wenn ich eine Ode Klopstocks las, als wenn ich mich mit Hallers Alpen, oder seinem Gedichte über den Ursprung des Uebels beschäftigte, und konnte doch mit den gewöhnlichen Theorien das Eigenthümliche des Grundstoffes, und der ganzen Organisation dieser verschiedenartigen Werke nicht entdecken. Die Elegie schien mir die rechtmäßigsten Ansprüche auf einen Platz in der Sphäre der lyrischen Dichtkunst zu machen, wiewohl ich für diese Entscheidung des bloßen Gefühls in [323] den gemeinen Begriffen keinen zureichenden bestimmten Grund fand.

So viele und mancherley mißlungene Versuche selbst großer und verdienter Männer würden im Stande gewesen seyn, mich auf immer von der Unternehmung einer neuen Untersuchung abzuschrecken, wenn ich nicht bey etwas genauerer Kritik ihrer hieher gehörigen Schriften in den Methoden, welche sie eingeschlagen waren, den Grund des minder glücklichen Erfolges von ihren Bemühungen gefunden hätte. Ihre Methode war entweder: 1) die Methode der blinden Nachahmung der Alten, und des mechanischen Uebertragens der Einrichtungen und Formen ihrer Werke, und derer davon abhängenden Klassifikationen, auf unsre Litteratur. 2) Die so gewöhnliche Methode blos zu beobachten, ohne bis zu den ersten Gründen durchgedrungen zu seyn, welche den Charakter und die Eigenthümlichkeit eines Gegenstandes bestimmen. 3) Die Methode, den wesentlichen Charakter der Litteraturwerke aus der äußern Form zu entwickeln, und die Ueber[324]einstimmung der Form nach, mit der eigentlichen wahren Uebereinstimmung der Innern nach, zu verwechseln. Der Schaden, welchen die erste Methode, der philosophischen Behandlung der Theorie der Dichtkunst zugefügt hat, ist nicht zu ermessen, in keinem Theile aber so sichtbar, als in der lyrischen Poesie. Den Alten gereicht dieses nicht im mindesten zum Vorwurfe; sie wähnten nicht mit ihrem Begriffe der lyrischen Poesie einen philosophischen Begriff vom innern geistigen eigenthümlichen Wesen ihrer Werke zu besitzen; von diesem Probleme hatten sie vielleicht nur eine sehr schwache Ahndung; die Worte: lyrisches Gedicht waren ihnen nichts mehr, als eine Benennung, womit sie, aus ihrem Gesichtspunkte, eine Klasse von dichterischen Werken wegen ihrer gemeinschaftlichen Bestimmung mit Gesang und Begleitung der Lyra vorgetragen zu werden, und wegen einer gewissen äußern Gleichheit in den Formen bezeichneten. Allein diejenigen Neuern, welche diesen Begriff als eine philosophische Gränzbestimmung einer Hauptklasse von dichterischen Werken, dem [325] innern Wesen nach ansahen, oder sich doch wenigstens durch mechanisches Nachbeten desselben der eigentlichen Untersuchung entzogen, und mit der Einführung desselben der Theorie dieses Theiles der Poetik eine Gestalt und Richtung gaben, welche sie auf einen großen Theil dichterischer Werke unanwendbar macht, welche doch unstreitig dem Wesentlichen nach zu denen von den Alten lyrisch genannten Werken gehören, wenn sie auch in der Seite nicht mit ihnen übereinstimmen, welche dieselben in ihrem Begriffe vorzüglich auszeichneten, diese Neuern verdienen den Tadel aller derer, welchen es um philosophische Bestimmung und Ordnung wissenschaftlicher Begriffe zu thun ist. Die zweyte Methode schadet allezeit, in welcher Wissenschaft man sie auch anwende; eine Wahrheit, welche jetzt erst in der philosophischen Welt wieder geltend zu werden anfängt. Die Geschichte der Behandlung der Dichtungsarten predigt sie laut. Es war so lange nicht möglich, bestimmte Begriffe zu bekommen, als man von keinem bestimmten Grundprinzipe ausging. Die dritte Me[326]thode hat die feste Bestimmung des Wesens der Ode, der Elegie, des Liedes, und der Allegorie ungemein gehindert. Man hing zum Theil immer am Aeussern, an den Graden des bildlichen Styles, der Art und Form des Sylbenmaaßes, sogar der Länge des Ganzen, da man doch hätte vor allen Dingen das Innre in seiner Eigenthümlichkeit untersuchen sollen. Denn, wenn nun die verschiedenen sogenannten lyrischen Gedichtarten, jede ihren eigenthümlichen Styl, ihre eigenthümlichen Sylbenmaaße, überhaupt ihre eigenthümliche äussere Form haben, so müssen doch diese bestimmt werden, durch das Eigenthümliche der besondern lyrischen Begeisterung jeder Art, und nur nach der sichersten Anerkennung von diesem, und der richtigen Einsicht, wie sich aus demselben eigenthümliche äußere Beschaffenheiten für eine jede ergeben, können diese als Merkmale gelten, nach denen man die Werke mit Klassennamen benennen kann. Ist man über das Eigenthümliche der lyrischen Begeisterung jeder Art, und dessen Einfluß auf das Aeussere noch nicht einig, so [327] 1) kann man nicht sicher seyn, ob die Dichter selbst bey Werken jeder Art die passende Einkleidung und Versifikation gewählt haben; denn, so wie nicht alle der Natur und Vernunft treu bleiben, so können Viele unnaturliche und unpassende Methoden des Aeußern wählen, Methoden, welche, genau erwogen, im Widerspruche mit dem Innern stehn. 2) Kann der Theorist selbst a) in keinem Falle nach den äußern Formen entscheiden, von denen er nichts gewisses weiß; b) ist er besonders folgendem Irrthume ausgesetz: er kann nämlich bey seinen unberichtigten Begriffen eine gewisse Form für ein Eigenthum einer besondern Art halten, und dieselbe den übrigen absprechen, ohne einen haltbaren Grund für seine Meynung zu haben; und so wird er Werke, welche in derselben abgefaßt sind, sonst aber wesentlich von dem Innern der Art abweichen, für deren Eigenthum er die Form hält, ohne Bedenken zu derselben rechnen, und mit ihrem Namen benennen. So finden wir viele Gedichte Oden genannt, welche Elegieen oder Lieder sind, viele Gedichte Lieder, welche Oden. [328] oder Elegien sind. Ich zweifle z. B. gar nicht, daß Viele erstaunen werden, wenn ich sage, daß Klopstocks Gedicht: Wenn der Schimmer von dem Monde u. s. w. keine Ode, sondern eine Elegie ist, eine Behauptung, die ich von mehrern seiner sogenannten Oden wagen würde, wenn es nicht hier an einem Beyspiele genug wäre. — Doch ich kehre zur Hauptsache zurück. Gewarnt durch die mislungenen Versuche, welche man in diesen Methoden anstellte, wagte ich einen Neuen, bey welchem man wenigstens eine gewisse Natürlichkeit und Bündigkeit der Entwickelung nicht verkennen wird. Ich hatte die ganze Sphäre der Dichtkunst in zwey Theile durchschnitten, wovon den einen die Werke einnahmen, in welchen die Darstellung des Gegenstandes mit dem Ausdrucke seiner Beziehung auf das Begehrungsvermögen und das Gefühl verknüpft ist, den andern jene, welche blos Darstellung des Gegenstandes enthalten, ohne daß der Dichter mit derselben irgend eine Art des Ausdruckes von eigener durch denselben erregter Leidenschaft und Gefühle verbindet. [329] Mit der Bestimmung des ersten Theiles hatte ich auf diese Weise Ode, Elegie, Lied, Allegorie, leidenschaftlich und empfindsam beschreibendes Gedicht, Lehrgedicht, episches, romantisches und idyllisches Gedicht, und überhaupt jede poetische Erzählung mit dem Ausdrucke von Leidenschaft und Gefühl unter einen gemeinschaftlichen Gesichtspunkt gebracht; ich betrachtete dieselben, wie sie alle, Gegenstandsdarstellung, und Ausdruck von Leidenschaft und Gefühl in sich vereinigen. Kam es nun darauf an, diese erste Hauptklasse in Unterarten philosophisch zu theilen, so mußte ich nichts eher fragen, als: wie viel Fälle sind im Allgemeinen bey einer dichterischen Begeisterung möglich, welche ein Werk erzeugen soll, worin sich Gegenstandsdarstellung und Ausdruck von Gefühl und Leidenschaft vereinige? und hier konnte ich nur zwey Hauptfälle in Rechnung bringen: 1) entweder das Bewußtseyn des Dichters ist im Zeitraume der Begeisterung, (welche den Inhalt, Charakter, und Form des Werkes bestimmt) mehr gerichtet auf die Richtung seines Begehrungsvermogens, die Stim[330]mung seines Gefühls, welche durch das Vorstellen des Gegenstandes erregt worden, als auf die Vorstellung und Betrachtung des Gegenstandes selbst; 2) oder es ist mehr gerichtet auf die Betrachtung der Gegenstände. Was man auch für eine besondere Theorie aller der einzelnen Dichtungsarten, welche ich zur ersten Klasse ziehe, annehme, so muß man mir doch zugeben, daß Ode, Elegie, Lied und Allegorie zur ersten Unterart, alle übrigen zur zweyten gehören, und daß, wenn man nun einmal die Benennung einer lyrischen Dichtkunst nicht eingehn lassen will, die erste Unterart dieselbe am meisten verdient. Der Unterschied der möglichen zwiefachen Richtung des Bewußtseyns muß nothwendig eine Verschiedenheit in der Art und Weise der Gegenstandsdarstellung und des Ausdruckes vom Verhältnisse desselben zum Begehrungsvermögen und Gefühle bey jeder dieser beyden Unterarten begründen. Ist mein Bewußtseyn im Zeitpunkte der Begeisterung vorzüglich gerichtet auf meine Leidenschaft, mein Gefühl, so wird eben jenes vorzüg[331]lich starke Bewußtseyn von diesen die Triebfeder des Darstellens, und mein Interesse ist vorzüglich auf meine gegenwärtige Leidenschaft, mein gegenwärtiges Gefühl fixirt, ich schildre mein Hinstreben, oder Wegstreben, mein angenehmes oder unangenehmes Fühlen selbst, so weit es durch Sprache ausdrückbar ist. Klopstock singt:

"Groß ist der Herr! und jede seiner Taten,
  Die wir kennen, ist groß!
    Ocean der Welten, Sterne sind Tropfen des Oceans!
      Wir kennen dich nicht!

Wo beginn ich, und ach! wo end' ich
  Des Ewigen Preis?
    Welcher Donner giebt mir Stimme?
      Gedanken welcher Engel?

Wer leitet mich hinauf
  Zu den ewigen Hügeln?
    Ich versink', ich versinke, geh
      In deiner Welten Ocean unter" u. s. w.

Und worauf war in diesen Momenten der Begeisterung sein Bewußtseyn vorzüglich gerichtet? Welches Interesse war die entscheidende Triebfeder dieser Darstellung? [332] Ich behaupte, sein Bewußtseyn war vorzüglich gerichtet auf das Streben seines Begehrungsvermogens, die Unendlichkeit Gottes und seiner Werke zu fassen; das Interesse an dieser leidenschaftlichen Situation war die entscheidende Triebfeder der Darstellung, in welcher sich demnach auch nichts so lebhaft abbilden sollte, als das Heben und Sinken der Willenskraft vor dem Unermeßlichen, welches sie erreichen will, und nicht erreichen kann. Der sicherste Bürge dafür ist das Schlußgleichniß der Ode, worin der Dichter den Zustand des Geistes schildert, wenn er mit Kraft und Kühnheit sich dem Unendlichen entgegenschwingt, und im Fluge ahndet, daß er mit Schaudern vor ihm sinken und unterliegen wird.

"Weniger kühn, hast, o Pilot,
  Du gleiches Schicksal.
    Trüb am fernen Olymp
      Sammeln sich Sturmwolken.

Jetzo ruht noch das Meer fürchterlich still.
  Doch der Pilot weiß,
    Welcher Sturm dort herdroht!
      Und die eherne Brust bebt ihm,

[333] Er stürzt am Maste
  Bleich die Segel herab.
    Ach! nun kräuselt sich
      Das Meer, und der Sturm ist da!

Donnernder rauscht der Ocean als du, schwarzer Olymp!
  Krachend stürzet der Mast!
    Lautheulend zuckt der Sturm!
      Singt Totengesang!

Der Pilot kennt ihn. Immer steigender hebst, Woge, du dich.
  Ach die letzte, letzte bist du! Das Schiff geht unter!
    Und den Todtengesang heult dumpf fort
      Auf dem großen, immer offenem Grabe der Sturm!

Wie hätte sich natürlicher Weise der Dichter so ganz in diesem Gemählde verlieren können, wäre es ihm nicht vorzüglich darum zu thun gewesen, seine leidenschaftliche Situation selbst darzustellen?

Wenn eben dieser Dichter, da er Cidli nach einer Krankheit auf dem Ruhebette schlummernd antrift, singt:

"Sie schläft. O gieß ihr, Schlummer, geflügeltes
Balsamisch Leben über ihr sanftes Herz!
  Aus Edens ungetrübter Quelle
    Schöpfe die lichte, krystallne Tropfe!

Und laß sie, wo der Wange die Röth' entfloh,
Dort duftig hinthaun! Und du, o bessere,
  Der Tugend und der Liebe Ruhe,
    Grazie deines Olymps, bedecke

Mit deinem Fittig Cidli. u. s. w."

Oder wenn er in seiner unsterblichsten Elegie: die künftige Geliebte, beginnt:

"Dir nur, liebendes Herz, euch, meine vertraulichsten Thränen,
Sing' ich traurig allein dieß wehmüthige Lied.
Nur mein Auge soll's mit schmachtendem Feuer durchirren,
Und, an Klagen verwöhnt, hör' es mein leiseres Ohr!
Ach warum, o Natur, warum, unzärtliche Mutter,
Gabst du zu dem Gefühl mir ein zu biegsames Herz?
Und ins biegsame Herz die unbezwingliche Liebe,
Daurend Verlangen, und ach keine Geliebte dazu?"

worauf ist in beyden Stellen sein Bewußtseyn vorzüglich gerichtet? Augenscheinlich [335] auf den innern leidenschaftlichen Zustand selbst. Denn so wie die erste die Handlung, das Spiel des Begehrungsvermögens selbst ausdrückt, so erscheint in der zweyten vorzüglich das Bewußtseyn des Gefühls einer süssen Schwermuth, und der Regungen einer sanften Sehnsucht. Merklich anders muß nun im entgegen gesetzten Falle die Darstellung erfolgen, wenn nämlich das Bewußtseyn vorzüglich auf die Betrachtung der Gegenstände gerichtet ist, welche die Leidenschaft oder das Gefühl erregten. Dann wird natürlich die Darstellung vorzüglich Schilderung der Gegenstände enthalten, und diese Schilderung, nicht die Beschreibung der Aktion des Begehrungsvermogens und der Passion des Gefühls wird in dem Gedichte vorwalten. Darum hört das Werk nicht auf, ein Produkt der Empfindsamkeit zu seyn, und verliert eben so wenig den jedem wahren Kunstwerke eigenthümlichen Zweck; nur daß der Dichter bey demselben aus dem Ganzen seiner Begeisterung vorzuglich die Gegenstände für die Darstellung heraushebt. Wenn Gotter sagt:

[336] "Bedenkt doch selbst! das Auge dieser Welt,
Hat sichs, durch einen Stoß, vom blinden Chaos trennen,
Und so den Platz am Himmel nehmen können,
Daß es uns nicht verzehrt, nur wärmet, nur erhellt?
Wer hieß die Millionen Lichter brennen,
Die kühle Ruh und sanften Wiederschein
Von ihrer Majestät auf unsre Hütten streun?
Und wer gebot dem Mond, die Erde zu begleiten,
Und durch verborgne Kraft den Ocean
Zu halten, daß er nicht, aus seinen Ufern gleiten
Und uns die Sündfluth wiederbringen kann?
Wer hatte Kraft, den Wolkenmantel auszubreiten,
Der tausendfarbigt über unserm Haupte fließt,
Des Lenzes Hofnung und des Herbstes Schätze
In seiner Falten Schoos verschließt?
Wer gab dem Wasser und der Luft Gesetze,
Das keines in das andre sich verlohr?
Wer schrieb den Winden ihre Laufbahn vor? u. s. w." *)

so bemerkt jedermann in dieser Stelle indirekten Ausdruck von lebhaft gerührter Empfindsamkeit, allein zugleich auch, daß die Gegenstandsdarstellung dabey Hauptsache ist. Und so verhält es sich mit dem gan[337]zen Gedichte. Der Dichter war allerdings durch den wissenschaftlichen Stoff, welchen er betrachtete, bis zur Begeisterung gerührt; lebhaftes Streben und Verabscheuen, Vergnügen und Mißvergnügen begleiteten seinen Geist unablässig im Gange durch die Reihen der Ideen, und vereinigten sich beym Stillstandpunkte in einem die ganze Seele einnehmenden Interesse am Ganzen Der Ideenreihen und des dadurch erregten Spieles des Begehrungsvermögens und Gefühles. Jetzt entschied der Dichter für Darstellung, und in diesem für den Charakter und die Form des Werkes entscheidenden Momente ging das Bewußtseyn desselben vorzüglich auf die betrachteten Gegenstände über, und die Schilderung von diesen muß nun natürlich die Hauptparthie des Gedichts seyn. Man wende dieselben Grundsätze auf Homers, Ossians, Virgils, Miltons, Klopstocks epische, Wielands größere, Bürgers kleinere romantische Gedichte, auf Geßners idyllische, Tomsons, Lamberts, Kleists u. a. beschreibende Werke an, und man wird von der Richtigkeit derselben durchaus überzeugt werden. Ich [338] gehe nun zu der genauern Bestimmung der einzelnen Arten der lyrischen Dichtkunst über, deren allgemeinen Charakter ich jetzt nur gezeigt habe.

 

 

[Fußnote, S. 336]

*) S. dessen Lehrgedicht über die Starkgeisteren.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Karl Heinrich Heydenreich: System der Aesthetik.
Bd. 1. Leipzig Göschen 1790, S. 317-352.

Unser Auszug: S. 317-338.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://books.google.fr/books?id=xjyoRT7H3ukC
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574014

 

 

 

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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer