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[317] Seit ich angefangen habe, über das Wesen der Dichtungsarten etwas schärfer
nachzudenken, hat keine Gattung mir so viele Schwierigkeiten bey jedem Versuche
der Entwickelung entgegengestellt, als die lyrische Poesie. Durch ein mit der
Mode unsrer Zeiten eben nicht übereinstimmendes Studium der Philosophie an jenen
Systemgeist gewöhnt, welcher über den Spott kleinmeisterischer Denker so sehr
erhaben ist, hegte ich keine Ueberzeugung fester, als diese: daß, wenn die
Dichtungsarten wirklich ein Ganzes ausmachten, und eine eigene Sphäre einnähmen,
sie sich nothwendig nach einem bestimmten Princip eintheilen lassen müßten, und
daß, sobald nur der Theorist eine Dichtungsart unter ihren richtigen Begriff gebracht
habe, es nicht fehlen könne, daß ihr dann auch in
[318] der Sphäre des Ganzen ein bestimmtet Platz zukomme. Mit dieser Ueberzeugung las
ich auch die mannigfaltigen Versuche über die lyrischen Dichtkunst, allein jemehr
ich mich den Verfassern derselben überließ, um desto verworrener wurden meine
Begriffe, desto mehr verschwand die Aussicht einer scharfen Bestimmung des Wesens
und der Gränzen dieser Gattung, dem Ganzen sowohl als seinen Theilen nach. Für
mein Gefühl war die lyrische Dichtkunst ein geschlossenes Ganzes, seit ich mit
einiger Reflexion ihre vortrefflichsten Werke genossen hatte; Ode, Elegie und
Lied konnte ich nur als innig verwandte, und in der nächsten Nachbarschaft gegen
einander stehende Theile desselben denken; so scharf hatten sich von selbst die
Wirkungen ihrer Werke vor allen übrigen ausgezeichnet, und wäre kein Bedürfniß
über diese Gegenstände zu philosophiren in mir entstanden, so würde jener
Gefühlsglaube, wenn ich so sagen darf, zu meiner völligen Befriedigung hingereicht haben.
Allein sobald dieses eintrat, mußte ich mir selbst Rechenschaft über meine
Empfindun[319]gen bey lyrischen Werken abfordern, und die in und an diesen
befindlichen bestimmten eigenthümlichen Gründe für die durch sie erregten
bestimmten eigenthümlichen Empfindungen aufsuchen. Die ersten Versuche,
durch mich selbst über diesen Punkt mit mir selbst einig zu werden, mislangen,
und die Fortsetzungen derselben wurden in dem Maase immer weniger entscheidend,
als ich zu gleicher Zeit die Arbeiten andrer zu Hilfe nahm. Die Begriffe von
lyrischer Poesie, welche ich bey den meisten fand, trafen in keinem fest
bestimmten wesentlichen und als wesentlich mit unzweydeutiger Evidenz
erscheinendem Merkmale zusammen, desto mehr aber schienen sie mit einander
um den Ruhm der möglichsten Unbestimmtheit, der schwankendesten Umgränzung
und des schielendesten Ausdrucks zu wetteifern. Bald gerieth ich auf einen
Weltweisen, welcher mit Zueignung der Fähigkeit gesungen, und mit der Leyer
begleitet zu werden, das ganze Wesen der lyrischen Poesie erschöpft zu haben
glaubte, eine Meynung, welche nichts für sich hat, als die Autoritat der Alten,
und am
kür[320]zesten durch eine Menge von Werken widerlegt wird, welche bey durchgängiger
Uebereinstimmung mit den übrigen auch dem Gefühle sich schon ankündigenden
eigenthümlichen Beschaffenheiten und Wirkungen der lyrischen Poesie, doch
der musikalischen Setzung nicht fähig sind; bald fand ich einen andern, welcher
sich damit begnügte, das lyrische Gedicht als ein Gedicht zu erklären, in
welchem die Hauptvorstellungen mit einer herrschenden Leidenschaft
vergesellschaftet sind, bald einen andern, welcher alles gesagt zu haben glaubte,
wenn er das lyrische Gedicht als unmittelbares Produkt der Fülle des Gefühls,
als Erguß des Herzens darstellte, bald mehrere andre, welche sich um dieselbe
schwankende Idee, jeder auf seine Weise drehten. Am gewissesten glaubte ich die
Lückenhaftigkeit und Unbestimmtheit in den Theorien der lyrischen Dichtkunst
dadurch zu erkennen, daß kein Verfasser einer derselben durch seinen Begriff in
den Stand gesetzt war, unwiderleglich darzuthun, welche Unterarten diese Dichtungsart
befasse, mit welchem Rechte man diese mit
[321] zu ihrem Gebiethe schlage, jene davon ausschließe. Hymne, Dithyrambe, Päan,
Skolie, Hymnus, Oden und Lieder aller Art fand ich einstimmig zur lyrischen
Poesie gerechnet, das beschreibende, das Lehr- das epische Gedicht, die Fabel,
den Roman, das dramatische Gedicht durchweg ausgeschlossen; bey einigen
Dichtungsarten fand ich eine große Abweichung der Theoristen, einige zählten
die Idylle mit zu der lyrischen Poesie, die meisten ließen sie weg, sehr viele
zogen die Elegie mit in den Kreiß, mehr als einer versagte ihr unter den lyrischen
Werken einen Platz. Warum man allgemein das blos beschreibende, blos erzählende
und dramatische Gedicht von der lyrischen Poesie ausschloß, war mir augenblicklich
einleuchtend, indem jene Werke alles Ausdrucks der eigenen Leidenschaft, des
eigenen Gefühles des Dichters ermangeln. Allein wenn ich das leidenschaftlich und
empfindsam beschreibende, das sogenannte Lehrgedicht und das epische Gedicht
betrachtete, so bemerkte ich zwischen ihnen und denen allgemein als lyrische
angenommenen Gedichten eine
[322] nicht unwesentliche Aehnlichkeit, und die Verschiedenheit der äußern Form
konnte mich auf keine Weise bestimmen, ihnen eine von der Sphäre der lyrischen
Poesie ganz und gar gesonderte Sphäre zuzueignen. Ich fand in den wenigen
meisterhaften beschreibenden und Lehrgedichten unverkennbaren Ausdruck eines Dranges
der Leidenschaft; ja bey vielen epischen Werken schien mir der Gesang wahrer Erguß
des Herzens, Ossian besonders, nach den gewöhnlichen Begriffen, ein ächter lyrischer
Erzähler zu seyn. Indessen fühlte ich doch, daß ich von einer gewissen Seite in einem
ganz andern Zustande war, wenn ich eine Ode Klopstocks las, als wenn ich mich mit
Hallers Alpen, oder seinem Gedichte über den Ursprung des Uebels beschäftigte, und
konnte doch mit den gewöhnlichen Theorien das Eigenthümliche des Grundstoffes, und
der ganzen Organisation dieser verschiedenartigen Werke nicht entdecken. Die Elegie
schien mir die rechtmäßigsten Ansprüche auf einen Platz in der Sphäre der lyrischen
Dichtkunst zu machen, wiewohl ich für diese Entscheidung des bloßen Gefühls in
[323] den gemeinen Begriffen keinen zureichenden bestimmten Grund fand.
So viele und mancherley mißlungene Versuche selbst großer und verdienter Männer
würden im Stande gewesen seyn, mich auf immer von der Unternehmung einer neuen
Untersuchung abzuschrecken, wenn ich nicht bey etwas genauerer Kritik ihrer hieher
gehörigen Schriften in den Methoden, welche sie eingeschlagen waren, den Grund
des minder glücklichen Erfolges von ihren Bemühungen gefunden hätte. Ihre Methode
war entweder: 1) die Methode der blinden Nachahmung der Alten, und des mechanischen
Uebertragens der Einrichtungen und Formen ihrer Werke, und derer davon abhängenden
Klassifikationen, auf unsre Litteratur. 2) Die so gewöhnliche Methode blos zu
beobachten, ohne bis zu den ersten Gründen durchgedrungen zu seyn, welche den
Charakter und die Eigenthümlichkeit eines Gegenstandes bestimmen. 3) Die Methode,
den wesentlichen Charakter der Litteraturwerke aus der äußern Form zu entwickeln,
und die
Ueber[324]einstimmung der Form nach, mit der eigentlichen wahren Uebereinstimmung
der Innern nach, zu verwechseln. Der Schaden, welchen die erste Methode, der
philosophischen Behandlung der Theorie der Dichtkunst zugefügt hat, ist nicht zu
ermessen, in keinem Theile aber so sichtbar, als in der lyrischen Poesie. Den Alten
gereicht dieses nicht im mindesten zum Vorwurfe; sie wähnten nicht mit ihrem
Begriffe der lyrischen Poesie einen philosophischen Begriff vom innern geistigen
eigenthümlichen Wesen ihrer Werke zu besitzen; von diesem Probleme hatten sie
vielleicht nur eine sehr schwache Ahndung; die Worte: lyrisches Gedicht waren ihnen
nichts mehr, als eine Benennung, womit sie, aus ihrem Gesichtspunkte, eine Klasse
von dichterischen Werken wegen ihrer gemeinschaftlichen Bestimmung mit Gesang
und Begleitung der Lyra vorgetragen zu werden, und wegen einer gewissen äußern
Gleichheit in den Formen bezeichneten. Allein diejenigen Neuern, welche diesen
Begriff als eine philosophische Gränzbestimmung einer Hauptklasse von dichterischen
Werken, dem
[325] innern Wesen nach ansahen, oder sich doch wenigstens durch mechanisches
Nachbeten desselben der eigentlichen Untersuchung entzogen, und mit der Einführung
desselben der Theorie dieses Theiles der Poetik eine Gestalt und Richtung gaben,
welche sie auf einen großen Theil dichterischer Werke unanwendbar macht, welche
doch unstreitig dem Wesentlichen nach zu denen von den Alten lyrisch genannten
Werken gehören, wenn sie auch in der Seite nicht mit ihnen übereinstimmen, welche
dieselben in ihrem Begriffe vorzüglich auszeichneten, diese Neuern verdienen den
Tadel aller derer, welchen es um philosophische Bestimmung und Ordnung
wissenschaftlicher Begriffe zu thun ist. Die zweyte Methode schadet allezeit,
in welcher Wissenschaft man sie auch anwende; eine Wahrheit, welche jetzt erst in
der philosophischen Welt wieder geltend zu werden anfängt. Die Geschichte der
Behandlung der Dichtungsarten predigt sie laut. Es war so lange nicht möglich,
bestimmte Begriffe zu bekommen, als man von keinem bestimmten Grundprinzipe
ausging. Die dritte
Me[326]thode hat die feste Bestimmung des Wesens der Ode, der Elegie, des Liedes,
und der Allegorie ungemein gehindert. Man hing zum Theil immer am Aeussern, an den
Graden des bildlichen Styles, der Art und Form des Sylbenmaaßes, sogar der Länge
des Ganzen, da man doch hätte vor allen Dingen das Innre in seiner Eigenthümlichkeit
untersuchen sollen. Denn, wenn nun die verschiedenen sogenannten lyrischen Gedichtarten,
jede ihren eigenthümlichen Styl, ihre eigenthümlichen Sylbenmaaße, überhaupt ihre
eigenthümliche äussere Form haben, so müssen doch diese bestimmt werden, durch das
Eigenthümliche der besondern lyrischen Begeisterung jeder Art, und nur nach der
sichersten Anerkennung von diesem, und der richtigen Einsicht, wie sich aus demselben
eigenthümliche äußere Beschaffenheiten für eine jede ergeben, können diese als
Merkmale gelten, nach denen man die Werke mit Klassennamen benennen kann. Ist
man über das Eigenthümliche der lyrischen Begeisterung jeder Art, und dessen Einfluß
auf das Aeussere noch nicht einig, so
[327] 1) kann man nicht sicher seyn, ob die Dichter selbst bey Werken jeder Art
die passende Einkleidung und Versifikation gewählt haben; denn, so wie nicht alle
der Natur und Vernunft treu bleiben, so können Viele unnaturliche und unpassende
Methoden des Aeußern wählen, Methoden, welche, genau erwogen, im Widerspruche mit
dem Innern stehn. 2) Kann der Theorist selbst a) in keinem Falle nach den äußern
Formen entscheiden, von denen er nichts gewisses weiß; b) ist er besonders folgendem
Irrthume ausgesetz: er kann nämlich bey seinen unberichtigten Begriffen eine
gewisse Form für ein Eigenthum einer besondern Art halten, und dieselbe den übrigen
absprechen, ohne einen haltbaren Grund für seine Meynung zu haben; und so wird er
Werke, welche in derselben abgefaßt sind, sonst aber
wesentlich von dem Innern der
Art abweichen, für deren Eigenthum er die Form hält, ohne Bedenken zu derselben
rechnen, und mit ihrem Namen benennen. So finden wir viele Gedichte Oden genannt,
welche Elegieen oder Lieder sind, viele Gedichte Lieder, welche Oden.
[328] oder Elegien sind. Ich zweifle z. B. gar nicht, daß Viele erstaunen werden,
wenn ich sage, daß Klopstocks Gedicht: Wenn der Schimmer
von dem Monde u. s. w.
keine Ode, sondern eine Elegie ist, eine Behauptung, die ich von mehrern seiner
sogenannten Oden wagen würde, wenn es nicht hier an einem Beyspiele genug wäre. —
Doch ich kehre zur Hauptsache zurück. Gewarnt durch die mislungenen Versuche,
welche man in diesen Methoden anstellte, wagte ich einen Neuen, bey welchem man
wenigstens eine gewisse Natürlichkeit und Bündigkeit der Entwickelung nicht
verkennen wird. Ich hatte die ganze Sphäre der Dichtkunst in zwey Theile
durchschnitten, wovon den einen die Werke einnahmen, in welchen die Darstellung
des Gegenstandes mit dem Ausdrucke seiner Beziehung auf das Begehrungsvermögen
und das Gefühl verknüpft ist, den andern jene, welche blos Darstellung des
Gegenstandes enthalten, ohne daß der Dichter mit derselben irgend eine Art des
Ausdruckes von eigener durch denselben erregter Leidenschaft und Gefühle verbindet.
[329] Mit der Bestimmung des ersten Theiles hatte ich auf diese Weise Ode, Elegie,
Lied, Allegorie, leidenschaftlich und empfindsam beschreibendes Gedicht, Lehrgedicht,
episches, romantisches und idyllisches Gedicht, und überhaupt jede poetische
Erzählung mit dem Ausdrucke von Leidenschaft und Gefühl unter einen gemeinschaftlichen
Gesichtspunkt gebracht; ich betrachtete dieselben, wie sie alle,
Gegenstandsdarstellung, und Ausdruck von Leidenschaft und Gefühl in sich vereinigen.
Kam es nun darauf an, diese erste Hauptklasse in Unterarten philosophisch zu
theilen, so mußte ich nichts eher fragen, als: wie viel Fälle sind im Allgemeinen
bey einer dichterischen Begeisterung möglich, welche ein Werk erzeugen soll,
worin sich Gegenstandsdarstellung und Ausdruck von Gefühl und Leidenschaft vereinige?
und hier konnte ich nur zwey Hauptfälle in Rechnung bringen: 1) entweder das
Bewußtseyn des Dichters ist im Zeitraume der Begeisterung, (welche den Inhalt,
Charakter, und Form des Werkes bestimmt) mehr gerichtet auf die Richtung seines
Begehrungsvermogens, die
Stim[330]mung seines Gefühls, welche durch das Vorstellen des Gegenstandes erregt
worden, als auf die Vorstellung und Betrachtung des Gegenstandes selbst; 2) oder
es ist mehr gerichtet auf die Betrachtung der Gegenstände. Was man auch für eine
besondere Theorie aller der einzelnen Dichtungsarten, welche ich zur ersten Klasse
ziehe, annehme, so muß man mir doch zugeben, daß Ode, Elegie, Lied und Allegorie
zur ersten Unterart, alle übrigen zur zweyten gehören, und daß, wenn man nun einmal
die Benennung einer lyrischen Dichtkunst nicht eingehn lassen will, die erste
Unterart dieselbe am meisten verdient. Der Unterschied der möglichen zwiefachen
Richtung des Bewußtseyns muß nothwendig eine Verschiedenheit in der Art und
Weise der Gegenstandsdarstellung und des Ausdruckes vom Verhältnisse desselben
zum Begehrungsvermögen und Gefühle bey jeder dieser beyden Unterarten begründen.
Ist mein Bewußtseyn im Zeitpunkte der Begeisterung vorzüglich gerichtet auf
meine Leidenschaft, mein Gefühl, so wird eben jenes
vorzüg[331]lich starke Bewußtseyn von diesen die Triebfeder des Darstellens, und
mein Interesse ist vorzüglich auf meine gegenwärtige Leidenschaft, mein
gegenwärtiges Gefühl fixirt, ich schildre mein Hinstreben, oder
Wegstreben, mein angenehmes oder unangenehmes Fühlen selbst, so weit es durch
Sprache ausdrückbar ist. Klopstock singt:
"Groß ist der Herr! und jede seiner Taten,
Die wir kennen, ist groß!
Ocean der Welten, Sterne sind Tropfen des Oceans!
Wir kennen dich nicht!
Wo beginn ich, und ach! wo end' ich
Des Ewigen Preis?
Welcher Donner giebt mir Stimme?
Gedanken welcher Engel?
Wer leitet mich hinauf
Zu den ewigen Hügeln?
Ich versink', ich versinke, geh
In deiner Welten Ocean unter" u. s. w.
Und worauf war in diesen Momenten der Begeisterung sein Bewußtseyn vorzüglich gerichtet? Welches Interesse war die entscheidende Triebfeder dieser Darstellung? [332] Ich behaupte, sein Bewußtseyn war vorzüglich gerichtet auf das Streben seines Begehrungsvermogens, die Unendlichkeit Gottes und seiner Werke zu fassen; das Interesse an dieser leidenschaftlichen Situation war die entscheidende Triebfeder der Darstellung, in welcher sich demnach auch nichts so lebhaft abbilden sollte, als das Heben und Sinken der Willenskraft vor dem Unermeßlichen, welches sie erreichen will, und nicht erreichen kann. Der sicherste Bürge dafür ist das Schlußgleichniß der Ode, worin der Dichter den Zustand des Geistes schildert, wenn er mit Kraft und Kühnheit sich dem Unendlichen entgegenschwingt, und im Fluge ahndet, daß er mit Schaudern vor ihm sinken und unterliegen wird.
"Weniger kühn, hast, o Pilot,
Du gleiches Schicksal.
Trüb am fernen Olymp
Sammeln sich Sturmwolken.
Jetzo ruht noch das Meer fürchterlich still.
Doch der Pilot weiß,
Welcher Sturm dort herdroht!
Und die eherne Brust bebt ihm,
[333] Er stürzt am Maste
Bleich die Segel herab.
Ach! nun kräuselt sich
Das Meer, und der Sturm ist da!
Donnernder rauscht der Ocean als du, schwarzer Olymp!
Krachend stürzet der Mast!
Lautheulend zuckt der Sturm!
Singt Totengesang!
Der Pilot kennt ihn. Immer steigender hebst, Woge, du dich.
Ach die letzte, letzte bist du! Das Schiff geht unter!
Und den Todtengesang heult dumpf fort
Auf dem großen, immer offenem Grabe der Sturm!
Wie hätte sich natürlicher Weise der Dichter so ganz in diesem Gemählde verlieren können, wäre es ihm nicht vorzüglich darum zu thun gewesen, seine leidenschaftliche Situation selbst darzustellen?
Wenn eben dieser Dichter, da er Cidli nach einer Krankheit auf dem Ruhebette schlummernd antrift, singt:
"Sie schläft. O gieß ihr, Schlummer, geflügeltes
Balsamisch Leben über ihr sanftes Herz!
Aus Edens ungetrübter Quelle
Schöpfe die lichte, krystallne Tropfe!
Und laß sie, wo der Wange die Röth' entfloh,
Dort duftig hinthaun! Und du, o bessere,
Der Tugend und der Liebe Ruhe,
Grazie deines Olymps, bedecke
Mit deinem Fittig Cidli. u. s. w."
Oder wenn er in seiner unsterblichsten Elegie: die künftige Geliebte, beginnt:
"Dir nur, liebendes Herz, euch, meine vertraulichsten Thränen,
Sing' ich traurig allein dieß wehmüthige Lied.
Nur mein Auge soll's mit schmachtendem Feuer durchirren,
Und, an Klagen verwöhnt, hör' es mein leiseres Ohr!
Ach warum, o Natur, warum, unzärtliche Mutter,
Gabst du zu dem Gefühl mir ein zu biegsames Herz?
Und ins biegsame Herz die unbezwingliche Liebe,
Daurend Verlangen, und ach keine Geliebte dazu?"
worauf ist in beyden Stellen sein Bewußtseyn vorzüglich gerichtet? Augenscheinlich [335] auf den innern leidenschaftlichen Zustand selbst. Denn so wie die erste die Handlung, das Spiel des Begehrungsvermögens selbst ausdrückt, so erscheint in der zweyten vorzüglich das Bewußtseyn des Gefühls einer süssen Schwermuth, und der Regungen einer sanften Sehnsucht. Merklich anders muß nun im entgegen gesetzten Falle die Darstellung erfolgen, wenn nämlich das Bewußtseyn vorzüglich auf die Betrachtung der Gegenstände gerichtet ist, welche die Leidenschaft oder das Gefühl erregten. Dann wird natürlich die Darstellung vorzüglich Schilderung der Gegenstände enthalten, und diese Schilderung, nicht die Beschreibung der Aktion des Begehrungsvermogens und der Passion des Gefühls wird in dem Gedichte vorwalten. Darum hört das Werk nicht auf, ein Produkt der Empfindsamkeit zu seyn, und verliert eben so wenig den jedem wahren Kunstwerke eigenthümlichen Zweck; nur daß der Dichter bey demselben aus dem Ganzen seiner Begeisterung vorzuglich die Gegenstände für die Darstellung heraushebt. Wenn Gotter sagt:
[336] "Bedenkt doch selbst! das Auge dieser Welt,
Hat sichs, durch einen Stoß, vom blinden Chaos trennen,
Und so den Platz am Himmel nehmen können,
Daß es uns nicht verzehrt, nur wärmet, nur erhellt?
Wer hieß die Millionen Lichter brennen,
Die kühle Ruh und sanften Wiederschein
Von ihrer Majestät auf unsre Hütten streun?
Und wer gebot dem Mond, die Erde zu begleiten,
Und durch verborgne Kraft den Ocean
Zu halten, daß er nicht, aus seinen Ufern gleiten
Und uns die Sündfluth wiederbringen kann?
Wer hatte Kraft, den Wolkenmantel auszubreiten,
Der tausendfarbigt über unserm Haupte fließt,
Des Lenzes Hofnung und des Herbstes Schätze
In seiner Falten Schoos verschließt?
Wer gab dem Wasser und der Luft Gesetze,
Das keines in das andre sich verlohr?
Wer schrieb den Winden ihre Laufbahn vor? u. s. w." *)
so bemerkt jedermann in dieser Stelle indirekten Ausdruck von lebhaft gerührter
Empfindsamkeit, allein zugleich auch, daß die Gegenstandsdarstellung dabey
Hauptsache ist. Und so verhält es sich mit dem
gan[337]zen Gedichte. Der Dichter war allerdings durch den wissenschaftlichen Stoff,
welchen er betrachtete, bis zur Begeisterung gerührt; lebhaftes Streben und
Verabscheuen, Vergnügen und Mißvergnügen begleiteten seinen Geist unablässig
im Gange durch die Reihen der Ideen, und vereinigten sich beym Stillstandpunkte
in einem die ganze Seele einnehmenden Interesse am Ganzen Der Ideenreihen und des
dadurch erregten Spieles des Begehrungsvermögens und Gefühles. Jetzt entschied der
Dichter für Darstellung, und in diesem für den Charakter und die Form des Werkes
entscheidenden Momente ging das Bewußtseyn desselben vorzüglich auf die
betrachteten Gegenstände über, und die Schilderung von diesen muß nun natürlich
die Hauptparthie des Gedichts seyn. Man wende dieselben Grundsätze auf Homers,
Ossians, Virgils, Miltons, Klopstocks epische, Wielands größere, Bürgers kleinere
romantische Gedichte, auf Geßners idyllische, Tomsons, Lamberts, Kleists u. a.
beschreibende Werke an, und man wird von der Richtigkeit derselben durchaus
überzeugt werden. Ich
[338] gehe nun zu der genauern Bestimmung der einzelnen Arten der
lyrischen Dichtkunst über, deren allgemeinen Charakter ich jetzt nur gezeigt habe.
[Fußnote, S. 336]
*) S. dessen Lehrgedicht über die Starkgeisteren.
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Erstdruck und Druckvorlage
Karl Heinrich Heydenreich: System der Aesthetik.
Bd. 1. Leipzig Göschen 1790, S. 317-352.
Unser Auszug: S. 317-338.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://books.google.fr/books?id=xjyoRT7H3ukC
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574014
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