Text
Editionsbericht
Literatur
Die Schriftsteller über die lyrische Poesie führt Herr Eschenburg an,
S. 106.
§ 1.
Man kann die lyrische Dichtungs-Art erklären, und von andern Gattungen von Gedichten unterscheiden; allein
wegen ihrer grossen Mannichfaltigkeit ist es schwer, Regeln zu geben, die auf alle ihre
verschiedenen Unter-Arten passen. Zu den verunglückten allgemein seyn-sollenden Regeln für
die lyrische Poesie gehören vorzüglich diese, daß man lyrische Gedichte mit kaltem
Blut enwerfen, und mit Feuer ausführen müsse, und daß eine gewisse
lyrische Unordnung dieser Dichtungs-Art wesentlich eigenthümlich sey.
Um diese lyrische Unordnung zu erreichen, sind viele, besonders Teutsche Dichter, in den
offenbarsten Non-sense gefallen.
[265] § 2.
Man kann bequem alle lyrische Gedichte in drey Classen abtheilen: in die hohe Ode,
die Mittel-Ode, und das Lied. Zur hohen Ode gehören Hymnen, Kriegs- Rach-
und Triumph-Gesänge der wildesten Freude, und einer nicht minder wilden Traurigkeit:
lauter Gedichte, die aufgeklärten Völkern und Zeiten weniger, als halbgebildeten angemessen sind.
Diese Bemerkung gilt selbst von eigentlichen Hymnen, wie man aus der Vergleichung der
Davidischen, oder seinen Namen tragenden Psalmen
a),
die zu dieser Dichtungs-Art gehören, mit den besten ähnlichen Producten neuerer
Dichter abnehmen kann. Unter den Uebersetzern und Nachahmern des Israelitischen Dichters
haben sich vorzüglich Cramer, und Rousseau berühmt gemacht
b).
Die sogenannten Homerischen Hymnen sind keine eigentlichen Hymnen,
so wenig, als die des Kallimachus; und diejenigen, die den Namen des
Orpheus tragen, sind meistens mehr Beschwörungs-Formeln, als
Lob-Gesänge. Im Horaz finden sich mehrere Oden, die man in die Classe der
Hymnen setzen muß: besonders sein carmen saeculare. Unter den neuern
Hymnen-Dichtern verdient besonders Klopstock genannt zu werden, der aber nicht allenthalben verständlich ist
c).
[266] a) Man sehe bes. Ps. 22. 42. 56-59. ferner 18. 24. 29. 47. 48. 50. 89. 97. 102. 104.
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b) Man sehe den neunzehnten Psalm in der zweyten, und die Nachahmung des neun
und vierzigsten in der dritten Ode.
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c) Man sehe S. 66. der Quart-Ausgabe.
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§ 3.
Noch weniger, als Hymnen, passen für ausgebildete Völker Ausdrücke des
heftigsten Schmerzes
a),
oder Ausbrüche einer ausgelassenen trunkenen Fröhlichkeit, und Sinnlichkeit,
oder hinreissende Siegs-, und Rach-Lieder, wie sie von den Barden und Scalden
der alten Celtischen Völker gedichtet wurden. Unter allen diesen verschiedenen Classen
der hohen lyrischen Dichtkunst sind keine der Empfindungs- und Denk-Art der heutigen
cultivirten Völker widersprechender, als die Dithyramben, die selbst unter den
Griechen gegen die wachsende Aufklärung nicht aushalten konnten. Mehr können wir uns den
Kriegsliedern unserer Vorfahren nähern, wenigstens hat der Verfassser der
Preussischen Kriegslieder den Tirtäus weit übertroffen. Die Pindarischen
Siegs-Gesänge auf die glücklichen Kämpfer in den Griechischen Spielen unterscheiden sich durch
Gegenstand und Inhalt, und manche daher entspringende
Ei[267]genthümlichkeiten so sehr von allen ähnlichen Gedichten der neuern Zeit, daß sie auf
keine Art als Muster empfohlen werden können. Die Pindarischen Oden gehören mit zu den
Resten des Griechischen Alterthums, deren Vorzüge wir am wenigsten mit den Griechen
empfinden, oder ihnen nachempfinden können, und die vielleicht die meisten unglücklichen
Nachahmungen veranlaßt haben.
a) Beyspiele sind manche Lieder Jeremiä: Utzens bedrängtes Teutschland,
Horazens siebentes Epodon, und die sechste Ode des dritten Buchs.
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§ 4.
Von der hohen Ode unterscheidet sich die Mittel-Ode, die wiederum von
einer doppelten Art ist: nämlich die Lehr-Ode, und die beschreibende oder
erzählende Ode. Von der erstern ist uns fast nichts aus dem Griechischen Alterthum
übrig geblieben; die besten Oden von Horaz hingegen gehören in diese Classe, so wie
die besten Epitres französischer Dichter, besonders eines Chapelle, Voltaire,
und anderer. In der Lehr-Ode übertreffen die Teutschen durch Haller, Utz,
Gleim, Hagedorn u.s.w. die Dichter aller übrigen Nationen. Auch in der
beschreibenden oder erzählenden Ode haben wir
[268] Meisterstücke, die wir ähnlichen Werken alter und neuer Völker kühn an die Seite
setzen können
a).
a) Gray hat sich fast in allen lyrischen Dichtungs-Arten versucht. Seine
dichterischen Verdienste sind groß, aber auch nicht frey von Flecken. Kein Dichter sollte sich einen
so falschen, und so niederschlagenden Gedanken erlauben, als womit Gray seine
Ode on a distant prospect of Eton College beschließt:
To each his sufferings: all are men,
condemn'd alike to groan;
the tender for another's pain,
th' unfeeling for his own.
Yet ah! why should they know their fate?
since sorrow never comes to late,
and happiness too swiftly flies.
Thought would destroy their paradise,
No more; where ignorance is bliss,
'Tis folly to be wise.
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§ 5.
In die Stelle der hohen Ode treten unter aufgeklärten, oder sich bildenden Völkern
die Lieder, die unter rohen Nationen noch viel weniger, als die hohe Ode unter
cultivirten Statt findet. Lieder unterscheiden sich von der hohen Ode noch mehr durch
Inhalt, als durch Versification. Die Griechen hatten viele Lieder-Dichter, von welchen aber
[269] nur Fragmente zu uns gekommen sind. Selbst diejenigen Lieder, die dem Anakreon
zugeschrieben werden, sind weder vollständig, noch unverändert. Sie mögen aber herrühren, von
wem sie wollen, so darf der Name ihren Werth weder erhöhen, noch vermindern
a).
Catull nähert sich dem Anakreon, oder dem Verfasser der Anakreontischen Lieder viel
mehr, als Horaz.
a) Die Anakreontischen Lieder haben verschiedene Gegenstände. Man vergleiche Lied 5. 21. 24. 25. 37. 41-43. mit 4. 15. 23. 26. und endlich mit 3. 9. 28-30. 40. zurück
§ 6.
Unter den Franzosen zeichneten sich als Lieder-Dichter Clement Marot, La Chapelle,
Chaulieu und der Marquis de la Fare aus, denen Waller nicht so sehr,
als dem Anakreon ähnlich ist
a).
Allein unser Hagedorn, Utz, Gleim, und Gerstenberg, können mit den besten alten,
und neuern Lieder-Dichtern wetteifern
b).
a) Ich kann nicht umhin, folgende Charakteristische Stücke von Waller hier abzuschreiben.
On a Girdle p. 66 Lond. 1758. 8.
That, which her slender waist consin'd
shall now my joyful temples bind:
[270] no monarch but would give his crown,
his arms might do, what this has done.
It was my heaven's extremest Sphere,
The pale, which held that lovely deer:
My joy, my grief, my hope, my love,
did all within this circle move!
A narrow compass! and yet there
dwelt all that's good, and all that's fair:
Give me but what this riband bound,
take all the rest the sun goes round.
Song. p. 77.
Go, lovely rose!
tell her that wastes her time, and me,
that now she knows,
when i resemble her to thee,
how sweet, and fair, she seems to be.
Tell her that's young,
and shuns to have her graces spy'd
that hadst thou sprung
in deserts, where no men abide,
thou must have uncommended dy'd.
Small is the worth
of beauty from the light retir'd:
bid her come forth,
suffer herself to be desir'd,
and not blush so to be admir'd.
Then die! that she
the common fate of all things rare
may read in thee:
how small a part of time they share,
that are so wond'rous sweet and fair.
Man sehe noch Song p. 75. Of the Mariage of the dwarfs p. 64. besonders das Gedicht
Amoret betitelt S. 42. In diesem Gedicht [271] gibt der Dichter Rechenschafft, wie er die
schöne aber sanfte Amoret, und die erhabene aber blendende oder vernichtende Sacharissa liebe,
und schließt mit folgenden Strophen:
Amoret! as sweet and good
As the most delicious food
which, but tasted, does impart
Life and gladness to the heart.
Sacharissa's beauty's wine,
which to madness does incline:
such a liquor, as no brain,
That is mortal, can sustain.
Scarce can i to heav'n excuse
the devotion, which i use
unto that adored dame:
for 'tis not unlike the same,
which i thither ought to send;
so that if it could take end,
't would to heav'n itself be due
to succeed her, and not jou:
Who already have of me
all that's not idolatry.
Which, though not so fierce a flame,
is longer like to be the same.
Then sinile on me, and i will prove,
Wonder is shorter liv'd than love.
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b) Die Titel und Ausgaben unserer verschiedenen Lieder-Dichter stehen bey Herrn
Eschenburg
S. 117.
Ramlers lyrische Blumenlese
sollte jedem Freunde der
Teutschen Sprache und Dichtkunst bekannt seyn.
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[272] § 7.
Die Merkmale, wodurch man die Elegie von der hohen Ode, und dem Liede zu
unterscheiden pflegt, sind sehr unbestimmt, und müssen auch auf eine gewisse Art
stets unbestimmt bleiben, weil die Unterschiede dieser Dichtungs-Arten oft nur in schwer
zu fassenden Graden bestehn
a).
Die Griechen und Römer hatten von der Elegie ganz andere Begriffe, als wir, und die
meisten Arbeiten Römischer Dichter, die diesen Namen führen, sind nichts weniger, als
Elegien, oder doch nichts weniger, als interessant, wenn sie auch in Rücksicht auf Sprache,
und Versification noch so vortrefflich sind. Bey dieser Bemerkung habe ich nicht bloß
die Elegischen Gedichte vom Ovid, sondern auch die von Tibull, und Properz
im Sinn. Wahre Elegien sind die meisten oder schönsten Sonnetten des Petrarca, die mit
den Elegien der Römischen Dichter auf eine seltsame Art contrastiren. Das gröste Meisterstück
Elegischer Dichtungs-Art ist Gray's Elegie auf einem ländlichen Kirchhofe gesungen.
Hölty's Gedichte enthalten auch vortreffliche Stücke.
a) Die Schriftsteller über die Elegie hat Herr Eschenburg genannt S. 101.
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[273] § 8.
Ein Auswuchs, oder eine Abart der Elegie ist die Heroide, die in der
neuern Zeit nicht eher Nachahmer fand, als bis die heutige Dicht-Kunst und
Denk-Art denen der Römer zu Ovids Zeiten ähnlich wurde. Die Franzosen
haben die meisten Heroiden-Dichter hervorgebracht, aber keinen der Popen,
dem Verfasser des herrlichen Sendschreibens der Heloise an Abälard gleich
käme. Dies Gedicht könnte den strengsten Kunstrichter mit der ganzen Dichtungs-Art versöhnen,
wenn er ihr sonst noch so wenig hold wäre.
§ 9.
Die alten Romanzen, oder Balladen, dergleichen Doctor
Percy
und andere, besonders in England, gesammlet haben, können weder zu der epischen, noch
lyrischen Dichtungs-Art, so wie wir dieselben zu bestimmen pflegen, gerechnet werden
a).
Bey ihrer Ausartung gingen sie in wirkliche Epische Gedichte über
b),
aus denen wiederum unsere neuern Romane entstanden sind. Die Romanzen der neuern
Dichter unterscheiden sich von den Balladen und Romanzen der Zeit-Alter, in welchen diese
Gedichte nicht künstliche Nachahmungen, sondern natürliche
[274] Producte des Genies des Jahrhunderts waren, in vielen Stücken, am meisten
durch den herrschenden Ton, und die grössere Mannichfaltigkeit ihres Inhalts. Auch
in dieser Dichtungs-Art können die Teutschen mit Recht den ersten Rang behaupten.
a) Recht gute Betrachtungen über die alten Balladen, oder Romanzen, und über die
Ministrels, oder Minstrels und Meister-Sänger des Mittel-Alters findet man in dem
Essay on the ancient English Minstrels vor Dr. Percy's Sammlung, und
dann in der Abhandlung on the ancient Metrical Romances im Anfange des dritten Bandes.
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b) In der zweiten eben angeführten Abhandlung S. 13. u.f.
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Erstdruck und Druckvorlage
C. Meiners: Grundriß der Theorie und Geschichte der schönen Wissenschafften.
Lemgo: Meyer 1787, S. 264-274.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10574313
URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/1867042/1/LOG_0000/
URL: https://archive.org/details/grundrissderthe00meingoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/hvd.hnup22
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer