Christian Heinrich Schmid

 

 

Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen
und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

Von der lyrischen Poesie.

 

I. Theorie.

Lyrische Unordnung habe ich gnug in meinem Werke anzubringen gesucht. Könnte ich doch auch mit lyrischen Feuer von dieser Gattung der Poesie reden, die ohnstreitig ein Jüngling, oder ein jugendlicher Greis im Enthusiasmus der Frölichkeit erfunden, und die vor allen andern wegen ihres Feuers nach dem Geschmacke des Jünglings seyn muß! Man hat eine eben so große Menge Theorien der lyrischen Poesie, als Odendichter: aber ich wähle hier wieder die aus, welche auf philosophische Grundsätze gebauet ist; und so kann meine Wahl auf keine andre fallen, als auf die im zweiten Bande der Breslauer Beiträge. Wenn ich ihr auch gleich nicht Schritt vor Schritt folge: so werde ich doch kein Auge von ihr verwenden, und übrigens nur froh seyn, wenn ich die Grundsätze selbst richtig gefaßt habe. Ihnen eine gefällige Farbe zu geben, ist bey mir nur ein frommer Wunsch. Ich tröste mich damit, daß es noch allemal besser klingt:

Raison sans sel est fade nourriture,

als der andre Vorwurf:

Sel sans raison n'est solide pature.

Ich definire also das lyrische Gedicht, als den poetischen Ausdruck einer reinen Hauptempfindung, welcher verschiedne reine Nebenempfindungen untergeordnet sind. [303] Was reine Empfindungen sind, weis man schon aus der Erklärung der ihnen entgegengesetzten vermischten, die der Elegie wesentlich waren. Reine Empfindung und Affect sind nur, wie Wirkung und Ursach, verschieden. Eines kann also für das andre gesetzt werden. Alle Arten von Affecten herrschen im lyrischen Gedicht, nachdem die mannigfaltigen Gegenstände der lyrischen Poesie diesen oder jenen in der Brust des Dichters erregen: Bewunderung, Liebe, Zorn, Haß, heftige Traurigkeit, entzückende Freude. Wenn Bewunderung darinnen herrscht, und diese herrscht in ihren vornehmsten Gattungen: so ist das Erhabene ihr Hauptton. Denn das Erhabene ist die sinnlich vollkommene Vorstellung, welche Bewundrung erregt. Die Gegenstände, welche den Affect erwecken, sind Personen und ihre Eigenschaften, Handlungen und Wahrheiten, jedes Ding und seine Eigenschaften. Einerley Gegenstand bringt unter verschiednen Umständen verschiedne Grade des Affects hervor; und diese verschiednen Umstände schreiben sich von der betrachtenden Person, von den Eigenschaften des Gegenstandes selbst, und von dem Zufalle her. Aus jenen Graden des Affects entstehen die mancherley Gattungen der lyrischen Poesie. Denn es ist natürlich, daß einerley Gegenstände unter der Voraussetzung von einerley Umständen einerley Grad des Affects erregen, und so lassen sich die Klassen der lyrischen Poesie, und die jeder eigenthümliche Gegenstände bestimmen. Götter, Helden, Fürsten, ihre Eigenschaften und ihre Thaten sind so bewundrungswürdig, daß es unwahrscheinlich ist, als könnten sie jemals einen andern, als den ersten, den höchsten, allenfalls den zweiten Grad des Affects erregen. Daher widmet man diesen Gegenständen die [304] erste und zweite Gattung der lyrischen Poesie. So, wenn eine Wahrheit in Empfindung übergeht, ist es wahrscheinlich, daß durch die dabey immer noch fortdauernde Arbeit des Verstandes der Affect geschwächt werde, und die lehrende lyrische Poesie nicht den ersten und zweiten, sondern nur den dritten Grad des Affects erreichen könne, doch unter den vierten nicht sinke. So räumt man Gegenständen niedrigerer Art, deren Betrachter wahrscheinlicher Weise über den vierten und fünften Grad des Affects sich nicht versteigen kann, niemals die höhern Gattungen der lyrischen Poesie ein. Die fünf Grade hat man durch eben so viel Namen unterschieden. Der erste heißt die griechische die pindarische Ode, oder auch, ob es gleich dem genauern Kenner des Alterthums mißfallen muß, Dithyrambe. Entsteht der Affect dieser Art Oden aus der Betrachtung Gottes und göttlicher Dinge; so wird sie Psalm und Hymne genennt. Ist ihr Affect die heftigste Liebe, oder die höchste Begeistrung des Weins, so ist sie anakreontisch. Der zweite Grad gehört der lateinischen Ode, der Ode schlechtweg; und sie ist, wie jene, geistlich, anakreontisch u.s.f. nach der Beschaffenheit ihrer Gegenstände. Der Name des dritten Grades ist Lehrode, welche sich ebenfalls in die geistliche, welche man hier die dogmatische nennen könnte, in die philosophische, moralische, satirische, historische etc. abtheilen läßt. Der vierte Grad wird Lied oder Gesang genennt. Er hat mit dem dritten und zweiten Grade einerley Gegenstände, und sein erster Ursprung kömmt von der Verbindung, die man zwischen Musik und Poesie machen wollte, bey welcher der Affect der Musik herrschen und der Affect der lyrischen [305] Poesie ihr untergeordnet seyn mußte. Unter diese Klasse gehören geistliche, moralische, scherzhafte, anakreontische Lieder, Romanzen, Cantaten. Der letzte Grad heißt Chanson und Vaudeville. Bey jeder dieser Arten muß der Ausdruck dem Grade des Affects angemessen seyn. Hierinn liegen die Regeln, welche die Arten insbesondere haben, die aber so leicht zu entwickeln sind, daß ich meinen Lesern die Langeweile bey ihrer Entwicklung ersparen werde. Der Dichter drückt entweder seinen eignen, oder fremder Personen, oder seinen eignen und fremder Personen Affect zugleich aus. Drückt er den seinigen aus, er sey es nun wirklich oder dem Vorgeben nach: so versteht es sich von selbst, daß er die Einheit des Affects beobachten müsse; aber das ist eine schwerere oft aufgeworfne Frage; ob ein und eben derselbe Poet geistliche Lieder und Tändeleien mit einerley wahren Affecte schreiben könne und dürfe. Der Poet drückt ferner den Affect andrer Personen aus, den sie wirklich haben oder gehabt haben, zu haben, oder gehabt zu haben gedichtet werden; und alsdenn setzt er den Namen der Person über sein Gedicht, in deren Charakter er sich versetzt. Will er seinen und fremden Affect zugleich, oder den Affect zweier andrer Personen ausdrücken, so wird das lyrische Gedicht ganz oder zum Theil dialogisch. Wenn Gegenstände auf einander folgen, wenn Handlungen geschehn, deren jede einen Affect erregt: so entsteht eine Folge von Affecten. Wenn der Poet eine Folge reiner Hauptempfindungen, deren jede ihre untergeordnete reine Nebenempfindungen hat, poetisch ausdrückt: so macht er ein lyrisches System, oder eine lyrische Geschichte, dergleichen z.E. die Amazonenlieder sind. Macht er eine lyrische Geschichte einer [306] intereßanten Haupthandlung, welcher verschiedne intereßante Nebenhandlungen in versteckter Verbindung untergeordnet sind: so entsteht eine lyrische Epopee. Die lyrische Epopee in lyrischen Gesprächen vorgetragen und in der Absicht verfertigt, auf der Bühne vorgestellt zu werden, ist das lyrische Drama. Wenn eine Hauptempfindung unsrer Seele sich alle Nebenempfindungen unterordnet: so befindet sich die Seele in einem Zustande, der *) Enthusiasmus genennet wird. Enthusiasmus ist also das nöthigste Talent des lyrischen Poeten vom Vaudevillentrillerer an bis zum Trunkenbolde in der Dithyrambe. Das lyrische Gedicht muß Schwung haben, denn der Schwung ist der Ausbruch des Enthusiasmus. Im Enthusiasmus folgt die Seele nicht der Ordnung der Gedanken, sondern der Empfindungen. Dies ist die Ursache von dem unerwarteten Eingange, Sprung, scheinbaren Unordnung, Digreßionen und Nebenempfindungen in dem lyrischen Gedichte, von denen man jetzt eher, jetzt später mit verdoppeltem Feuer zur Hauptempfindung zurückkehrt; die Ursache von der Fiction, den kühnen Bildern, erhabnen Maximen etc. welches besonders der höhern lyrischen Poesie gröste Schönheiten sind. Es hieße die Wahrscheinlichkeit verletzen, wenn der Poet uns überreden wollte, sein Enthusiasmus habe viele Tage lang angehalten, und uns daher Oden von vielen Bogen zu lesen gäbe. Doch hat die Länge ihre Grade, die mit dem Grade des Enthusiasmus und des Affects in gleichem Verhältnisse stehn. Das Vaudeville kann also am geschwätzigsten seyn, aber sich auch immer daran erinnern: Was artig ist, ist klein. Bey der griechischen und latei[307]nischen Ode könnte es zwar scheinen, als ob die im höchsten Grade erhitzte Einbildungskraft in denselben die Länge einigermaßen entschuldige, weil eine einmal erhitzte Einbildungskraft nicht so bald wieder kalt wird. Aber ihr Feuer nimmt von Zeit zu Zeit zu, und je feuriger sie wird, desto verwirrter wird sie auch, so, daß, wenn das Feuer endlich nicht höher steigen kann, der Dichter sich bewußt zu seyn aufhöret, und dann entfällt ihm gewiß die Feder. Der Nebenzweck des Unterrichts, welchen die Lehrode hat, erlaubt ihr auch eine größere Weitläuftigkeit. Die Länge der lyrischen Geschichte, Epopee und Dramas wird durch die Dauer der Handlungen bestimmt, deren Folge dem Enthusiasmus von Zeit zu Zeit neues Oel giebt. Der nicht anhaltende und sich ungleiche Enthusiasmus, der, wie ein auslöschendes Licht, auf und niederlodert, macht das lyrische Gedicht ungleich und erzeugt die matten Stellen, die sonst auch daher entstehn, wenn statt reiner vermischte Nebenempfindungen eingeschoben werden. Die Einheit der Hauptempfindung ist der Erklärung zu folge dem lyrischen Gedichte wesentlich. Die Poesien, welche sie verletzen, heißen poetische Phantasien. Die Zusammenkettung der Nebenempfindungen mit der Hauptempfindung ist der Plan des lyrischen Gedichts. Die Wahrscheinlichkeit der lyrischen Poesie besteht in der Uebereinstimmung der Empfindungen mit ihrem Gegenstande, des Ausdrucks mit den Empfindungen, und der Arten des Ausdrucks untereinander. Das Feuer der lyrischen Poesie erfordert entweder ein kurzes, oder ein aus kurzen und langen Versen zusammengesetztes Sylbenmaas. Die Strophen im lyrischen Sylbenmaas sind daher entstanden, daß die ersten lyrischen Ge[308]dichte zum Singen bequem eingerichtet wurden. Und da war es eine Nothwendigkeit, daß Musik und Verstand bey dem Ende jeder Strope zugleich die Cadenz beobachteten. Heut zu Tage aber ist es kein Verbrechen mehr, den Verstand über diese Ruhepuncte hinaus fort gehen zu lassen. Die Stropen aber bringen eine neue Vollkommenheit in die lyrische Poesie, nemlich das abgemeßne.

 

 

[Fußnote, S. 306]

*) S. Fitzosbornes (Melmoths) Briefe Br. I   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Christian Heinrich Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen
und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen.
Leipzig: Crusius 1767, S. 302-308.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).
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URL: https://archive.org/details/SchmidTheoriederPoesie1767
URL: https://books.google.fr/books?id=gjQitQEACAAJ

 

 

 

Literatur

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