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Editionsbericht
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Literatur: Herder
Literatur: Herder-Rezeption
Literatur: Ode
Eines von den angenehmsten Feldern, auf welche sich die menschliche Neugierde sehr gerne verirrt, ist dies: den Ursprung dessen, was da ist, zu erkennen. So bald wir uns nur etwas wahrscheinlich mit dem süßen Traume ergötzen können, die Beschaffenheit einiger Gegenstände zu wissen: so steiget unsre Wißbegierde noch immer unbefriedigt weiter: sie verfolgt ihren Weg bis in die dunkelsten Zeiten, um in ihnen den Anfang der Dinge entweder historisch zu erfahren, oder philosophisch zu erklären, oder wahrscheinlich zu muthmassen.
Insonderheit sind wir nach dem Ursprung menschlicher Werke und Erfindungen begierig:
theils weil die andern wirklich über unsre Sphäre sind, so daß, wenn wir über dieselben
Muthmassungen wagen, wir heimlich immer einen Menschen uns handelnd denken, dessen Macht
wir nur über die unsere erheben: theils weil es für uns weit interessanter ist, die
Produkte unsrer eignen Kräfte, die Geschichte unsres eignen Verstandes, und unsrer
eignen Bemühungen zu wissen. Da wir Alles mit Theilnehmung lesen, so ist uns Menschen
die Geschichte der Menschen am angemessensten, am wichtigsten, am angenehmsten.
Daher lesen wir so gern die dichterischen oder philosophischen Hypothesen von dem
Ursprunge der uns bekannten Gegenstände. Die ersten Kapitel der Bibel, die die
ältesten Nachrichten von der Kindheit der Welt, von dem Anfange gewisser Verfassungen,
und einigen frühen Erfindungen enthalten, haben viele Reize für den Wißbegierigen.
Jedes
[86] Volk, dem eine Offenbarung nicht diese Neugierde stillte, erdachte sich Kosmogonien,
die die Anfangsgründe ihrer Weisheit enthielten, und die wir noch jetzt mit Vergnügen
durchträumen. Die Nachrichten, die uns von der Entstehung menschlicher Künste und
Wissenschaften, wie Fragmente, übrig geblieben; würden uns, wenn man sie als Reste
eines alten Aeons sammelte, und zu einem mosaischen Gemälde verbände, sehr angenehm
beschäftigen. Ein Plan, den der elende Polydorus Vergilius so sehr verdorben; ein
Plan, zu dem Goguet mit vielem Fleiße gesammelt, würde unter der Hand eines
Weltweisen über die Kindheit der Zeiten, ein
vortreffliches Gebäude werden.
Mit welchem Vergnügen lesen wir einzelne dichterische Erzählungen, vom Ursprunge
einzelner Dinge, den ersten Schiffer, den ersten Kuß, den ersten Garten, den ersten
Todten, das erste Kameel, die Schöpfung des Weibes und andre Erdichtungen, in denen
die Poeten unsrer Sprache noch so sparsam sind. Ovid's Verwandlungen sind auf der
einen Seite so unschmackhaft als Feenmährchen nur seyn können; wenn sie aber auf der
andern Seite uns aus ihren Geschichten der Mythologie, die Entstehung vieler Dinge
mit großem Reichthum einer dichterischen Einbildungskraft berichten: so werden sie
unterhaltende Anekdoten aus dem Archiv göttlicher und menschlicher Erfinder, und
da Homer unter den Alten am glücklichsten ist, eine solche ganze Geschichte in
ein Bild einzukleiden: so wird er beständig der Liebling eines jeden Zeitalters,
und jeder Nation bleiben.
Nicht aber allein ergötzend, sondern auch nothwendig ist's, dem Ursprunge der Gegenstände
nachzuspüren, die man etwas vollständig verstehen will. Mit ihm entgeht uns offenbar
ein Theil von der Geschichte, und wie sehr dienet die Geschichte zur Erklärung des
Ganzen? Und dazu der wichtigste Theil der Geschichte, aus welchem sich nachher Alles
herleitet; denn so wie der Baum aus der Wurzel, so muß der Fortgang und die Blüthe
einer Kunst aus ihrem Ursprunge sich herleiten lassen. Er enthält in sich das ganze
Wesen
[87] seines Produktes, so wie in dem Samenkorn die ganze Pflanze mit allen ihren
Theilen eingehüllet liegt; und ich werde unmöglich aus dem spätern Zustande den Grad
von Erläuterung nehmen können, der meine Erklärung genetisch macht. Da sich mein
Gegenstand immer verändert: so weiß ich nicht, wo ich die Einheit finden soll; so
oft ich das Thier auf das Feld des Vergrößerungsglases bringe: erscheint es unter
einer andern Gestalt. Nehme ich nun blos einen Zustand, so sind meine Bemerkungen
ohnstreitig zu getheilt, und zu unvollständig; nehme ich einen nach dem andern, nur
der erste fehlt mir; so fehlt mir ja eben der Knäuel, aus dem ich die folgenden
entwickeln kann.
Ich gebe ein Beispiel von der lyrischen Dichtkunst: denn schon
zu lange habe ich in allgemeinen Sätzen geredet. Man hat einen Begriff von der
Ode festsetzen wollen; aber was ist Ode? die griechische, römische, orientalische,
skaldrische, neuere ist nicht völlig dieselbe; welche von ihnen ist die beste, von
der die andern blos Abweichungen sind? Ich könnte es leicht beweisen, daß die
meisten Untersucher nach ihren Lieblingsgedanken entschieden haben, weil jeder
seine Begriffe und Regeln blos von Einer Art Eines Volkes abzog, und die übrigen
für Abweichungen erklärte. Der unparteiische Untersucher nimmt alle Gattungen für
gleich würdig seiner Bemerkungen an, und sucht sich also zuerst eine Geschichte im
Ganzen zu bilden, um nachher über Alles zu urtheilen. Nun fehle aber hiebei der
Ursprung? so fehlt eben das, auf dem die Geschichte ruhet, die Grundfeste des Ganzen,
ohne welches ich blos Fragmente besitze! Müßte ich nicht leider! dazusetzen, daß wir
bisher uns sehr an diesen Bruchstücken haben genügen lassen?
* * *
Meistens ist der Ursprung der menschlichen Werke für uns mit Nacht umhüllt! und wir
tappen nirgends so blind, als wenn wir der Frage nachschleichen: Wie und auf was Art
ist etwas entstanden? Es ist leicht, die Ursachen zu zeigen, die diese dicke
[88] Wolke
vor die Erfindungen vorweben, und vielleicht läßt, wenn wir die Ursache wissen, sie
sich auch hindern, und also die Wolke einigermassen verjagen.
Der sicherste Weg zu Kenntnissen dieser Art wären freilich Nachrichten, allein daß
diese Nachrichten von den ersten Erfindungen möglich werden, daß sie sicher sind, daß
sie sich bis auf uns erstrecken: dazu wird selbst eine der schwersten und spätesten
Erfindungen erfodert: die Kunst zu schreiben, alles, was man will; so viel man will,
und wie man will, zu schreiben, und so zu schreiben, daß es sich fortpflanzen und ewig
erhalten muß. Nun weiß man, wie viel zu dieser Entdeckung gehört; daß sie so spät
erfunden ist, als fast keine der bekanntesten und merkwürdigsten Werke, daß sie
Jahrhunderte durch, den größten Unbequemlichkeiten unterworfen gewesen, in denen sie
fast nicht zu rechnen ist. Nun hat z.E. die Dichtkunst ihren Ursprung, ihren Fortgang,
ja ihre höchste Stufe schon lange vorher gehabt, ehe
man an vollständige schriftliche Nachrichten dachte. Selbst Homer schrieb noch nicht,
sondern er sang, und die Tradition, das einzige und elende Mittel der damaligen
Fortpflanzung, hatte sich schon heiser geschrieen, ehe man die Ueberbleibsel ihrer
Sage schriftlich aufnahm. Sie konnte, wie die Echo, nur immer eine andre Echo wecken,
welcher sie einen schwachen, verkürzten und verfälschten Laut übergab. Dieser schwächte,
kürzte, verdunkelte sich immer mehr, bis er endlich ein menschliches Ohr viel zu spät
fand, welches wenig aus diesen verstummenden Tönen vernehmen konnte. Und wenn das dazu
kommt, daß wir von diesen späten und wenigen schriftlichen Nachrichten selbst die
meisten wieder verloren haben, daß viele von ihnen wieder zerstückt, voll
Schwierigkeiten und Widersprüche sind, daß viele wegen der Unvollständigkeit und
Entfernung schwer zu erkennen, und noch schwerer anzuwenden sind: so wird man diese
Straße allein, viel zu dunkel und unwegsam finden; man wird sich nicht wundern, daß
man von Jahrtausenden nichts weiß, sondern darüber wird man sich wundern, daß der
Fleiß der Alterthumsforscher es so weit hat bringen können, daß man von gewissen
Jahrhunderten noch etwas weiß.
[89] Viele indessen haben diesen Weg für hinreichend gehalten, und die Poetiken großer
kritischer Schriftsteller führen gemeiniglich eine Stelle der Alten, wie ein Orakel,
an, um den Ursprung der Dichtkunst zu zeigen, bei dem sie sich genügen lassen. Nun
sind diese Nachrichten so kurz, daß sie einem vorbeistreichenden Blitz gleichen: sie
gewähren uns einen kurzen Anblick, nie aber ein vollkommenes Anschauen. Und es ist also
dieser Theil der Geschichte meistens ein Feld voll todter Gebeine geblieben, die man
gesammelt, ohne sie zu einem Körper zu beleben. – Man hat nicht bedacht, daß die meisten
dieser Nachrichten selbst bei ihrem Schriftsteller, blos Vermuthungen einer spätern Zeit
waren: man hat das ungewisse Wort: Es soll! das gemeiniglich dabei steht, übersehen, und
ohne Prüfung sie angenommen. Wenn sich zwei oder mehr Nachrichten widersprachen, so
suchte man sie höchstens kritisch nach Lesearten zu vereinigen, oder setzte sie ohne
Urtheil zusammen, und überließ es dem Leser, sich eine nach Belieben auszulesen. Dazu kam, daß
man gemeiniglich den Ursprung jeder Dichtungsart getrennt betrachtete, ohne durch
allgemeine Schlüsse sie alle zu vereinigen, damit man das Ganze in seiner Geburt
übersehen könne. Sie widersprachen sich also oft selbst, nur auf verschiednen Blättern,
und bei verschiednen Dichtungsarten: und weil sie nicht immer den Grundsatz im Auge
behielten: die meisten Nachrichten fehlen uns; die wir haben, sind von einer spätern
Zeit: so ließen sie sich also gleichsam keinen Raum über, um das Fehlende durch
Schlüsse und Betrachtungen voll zu machen: man zog nicht das Fehlende ab, um den niedern
Grad der Gewißheit und Vollständigkeit wenigstens zu zeigen: Alles blieb liegen, wie es
war: und siehe da! es war Alles sehr verdorret!
Keine Erfindung ist auf einmal entstanden: sie war im Anfange nicht das, was sie ward; sie
war unmerkwürdig, dies ist eine zweite Ursache der Dunkelheit, die sich selbst auf die
unmittelbaren Zeiten nach ihnen erstrecket. Nach und nach entsprang eine jede Sache; man
bekümmerte sich also im Anfange nicht um sie, weil man ihre zukünftige Größe nicht
voraussahe. Dieser große majestätische Fluß
[90] der sich wie ein mächtiger Wohlthäter, und
oft als ein Tyrann ganzer Gegenden, fortwälzet, entsprang – aus einer Quelle, die an sich
unbekannt geblieben wäre, wenn sie nicht diesen Sohn geboren hätte. Aber wie entstand
wieder die Quelle? das ist schwerer! sie quillt aus dem Verborgnen hervor, sie entstand
nach und nach: ihren Ursprung hat Niemand bemerken wollen; man hat Alles gethan, wenn
man es erklärt, wie sie hat entstehen können. So ist's mit den größten Dingen bei ihrem
Ursprunge gewesen: sie waren elende Versuche, schlechte Spiele; aus ihnen wurden
ziemlich spät Handgriffe, aus diesen noch langsamer Künste, aus der Kunst wurden sehr
spät Regeln abgezogen; diese Regeln erst nach vielen Zwischenräumen zu einer Wissenschaft
erhoben; nun will man, um die Wissenschaft auszuführen, das Ganze übersehen – wo ist
aber der Ursprung? der Faden ist verloren. Hätten die ersten Erfinder gewußt, daß man
sich in den spätesten Zeiten um den Ursprung ihrer damals elenden Künste Mühe geben,
daß einst bei nächtlicher Stille ein Forscher auf ihrem Leichensteine sitzen und sich
mit Muthmassungen quälen würde, die ihm wichtig und nützlich scheinen;
vielleicht wären sie genauer gewesen. Und doch hätten sie uns nicht können ein Genüge
thun, denn jede Sache wird alsdann gleichsam sichtbar, und bekommt eine Gestalt, wenn
sie lange nach ihrem unbemerkten Ursprunge, lange nach vielen unmerkwürdigen und
unregelmäßigen Veränderungen, jetzt zeigt, daß sie bleiben wird, daß sie Aufmerksamkeit,
Fleiß, und Ausbesserung verdient; alsdann aber ist ihr wirklicher Anfang schon lange
vorbei, und lange vergessen. Jetzt wird das Geschöpf schon geboren, wenn es an's Licht
kommt; es ist schon vollständig in seinen Theilen gebildet; erzeugt aber wurde es schon
lange und erhielt seine Bildung im Verborgnen. – Ehe bei der Erschaffung der erste
Strahl des Lichts entsprang, hatte der Same der Schöpfung schon den Schoos des dunkeln
Chaos befruchtet; es gährte schon Alles in der Tiefe, bis es sich jetzt gleichsam in
einer Geburt emporhob. – Bei jeder Erfindung gibt es gleichsam Erzeugung, und Geburt;
höchstens von der letzten fangen sich die Nachrichten, selbst bei königlichen
[91] Entdeckungen an: der Forscher will aber die erstere zergliedern und nutzen.
Eben diese Bewandtniß muß es mit der Dichtkunst haben: sie muß im Anfange in Versuchen
bestanden haben, die lange Zeit nicht der Rede werth waren: sie entstand nach und nach,
ohne daß der Anfänger ihr ihre künftige Größe ansehen konnte, und wir müssen also von
ihrem wahren Ursprunge nothwendig auch keine, von ihrer Geburt aber späte Nachrichten
haben: nehmen wir diese vor die ersten an, so irren wir; erdichten wir uns einen
Ursprung nach einer spätern Methode, oder einen Ursprung, der alle Untersuchung
aufhebt: so ist der Faden abgeschnitten. Ich will mich über diese drei Vergehen
näher erklären. Man sieht die ersten Schritte und Versuche, ehe die Sache vollständig
wird, gleichsam für verschwindend kleine Theile an; man fängt von einem Punkt an, den
man Eins nennt, ohne die Irrationalbrüche weiter zu verfolgen. Ich gebe dieser Art einer
Geschichte ihren Anfang zu bestimmen meinen Beifall: sie ist leicht, sie ist einleuchtend,
sie irret eben nicht merklich; allein sie ist doch nicht genau genug, noch weniger fruchtbar;
sie bleibt blos trockne Geschichte, die von einem ungefähren Anfange anfängt, ohne ihn zu
zergliedern, und bis zum wirklichen Ursprunge zu
dringen. Wo Andre also aufhören, wird der Forscher anfangen, er wird die kleinen Theile
beobachten, die nachher die Frucht gebildet haben; er wird zwar nie zu Ende, aber doch
weiter, als seine Vorgänger kommen: seine Beobachtungen werden wenigstens der Betrachtung
würdig seyn, wenn seine Erklärungen gleich nichts taugen. – Noch mehr nachtheiligen Einfluß
hat die spätere Methode, in der man sich den Anfang vorstellet, wenn man den wirklichen
Ursprung vergißt. Man nimmt die Wissenschaft, die man untersucht, in einem spätern Zustande,
betrachtet sie in gar zu vielem Lichte, und macht sich Begriffe, die so sehr der Wahrheit
widersprechen, als der Geschichte. Statt auf einer Ebene zu stehen, steiget man auf eine
Höhe, und sieht Alles in einem so verrückten Gesichtspunkt, daß man verzerrte Figuren überall
wahrnimmt; am unrechten Orte findet man Vollkommenheiten; die wahren Schönheiten
[92] werden
häßlich, und so glaubt man die Alten zu kennen. – Daraus folgt dann der dritte Fehler, der
alle Untersuchung gar abschneidet: wir werden, da wir gleich im Anfange so viel Glanz
erblicken, verblendet, und rufen aus, wenn wir uns die Augen reiben: Göttlich! Göttlich!
Dies ist der göttliche Ursprung, den man den meisten Erfindungen beigelegt, weil man
entweder keine Nachrichten wußte, und selbst nicht denken wollte, oder weil man eine
spätere Zeit der Vollkommenheit für den Anfang ansahe, ohne darauf zu denken, daß die
vorigen Zeiten eben wegen ihres blässern Lichtes erbleicht sind, wie der Himmel voll
Sterne gegen den Mond. Was die Dichter poetisch gesagt: verstand man aus Gemächlichkeit
eigentlich; legte der Dichtkunst, Apollo selbst mag es wissen! welchen göttlichen
Ursprung bei, und führte eine Geschichte ein, die dem ganzen Lauf der Natur, der
Geschichte des menschlichen Verstandes, und der Historie aller übrigen Künste,
Wissenschaften, Werke und Handlungen, völlig entgegen ist: daß sie nehmlich ganz
vollkommen in ihrem Ursprunge gewesen, nachher aber immer schlechter geworden, statt,
wie alles Uebrige in der Natur und Kunst, durch Fleiß und Bearbeitung zuzunehmen.
Man siehet aus diesen Schwierigkeiten, daß, um den Anfang gewisser wichtigen Sachen zu
bestimmen, man die Nachrichten
von ihnen genau untersuchen, und sie blos als Handleitungen brauchen muß, wie diese
Dinge nach der Aehnlichkeit mit andern, nach der Beschaffenheit der damaligen Zeit haben
entstehen können, und ob man nicht nach Maaßgebung gewisser Umstände auf eine Art von
Nothwendigkeit stoßen könne, wie sie haben entstehen müssen. Hat man dieses erreicht:
so hat man alles gethan, was in diesem Abgrunde möglich ist – allein daß es schwer sey,
zeigt folgende dritte Schwierigkeit, die die größte von allen ist.
Eins von den Vorrathsheeren, aus denen die Heiden ihren Himmel mit Göttern besetzten, oder wenigstens die Zahl der Götter vermehrten, war die Schaar der Erfinder, der allgemeinen Wohlthäter des menschlichen Geschlechts. Wie nun aus den Erfindern Götter wurden: so wurden auch wieder die Götter zu Erfindern gemacht, so daß die [93] meisten Entdeckungen für göttlich angegeben wurden. Der Ackerbau, der Ursprung der ganzen bürgerlichen Verfassung war hier von der Ceres, dort vom Saturn, dort vom Osiris; der Wein hier vom Bacchus, dort vom Saturn; das Oel von der Minerva und der Purpur vom Herkules, der Gebrauch der Pferde vom Herkules und des Eisens vom Vulkan erfunden – ich will die Liste nicht fortsetzen, die man in den alten Hymnen und in den Mythologien vollständig findet.
Vorzüglich ist aber der Ursprung der Dichtkunst mit göttlicher Ehre belegt: so wie
schon nach Platon's Ausdruck, die Dichter selbst, heilige und göttliche Geschöpfe
sind. Apoll, da er Python überwand, oder Bacchus, oder das Orakel, oder Osiris,
oder die Musen sollen die ersten Verse gesungen haben. Bei den alten Skandinaviern
und Celten, bei den Indianern in beiden Indien ist die Dichtkunst ihrem Ursprunge
nach göttlich. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob die Götter Erfinder gewesen,
oder die Erfinder Götter geworden: beide Stücke wurden meistens vermischt geglaubt:
wir wollen dies Göttlich auch nicht blos für einen poetischen Ausdruck schelten, weil
auch Philosophen diesen Ursprung in trockner Prose, und als eine gründliche Auflösung
gesagt und wiederholt haben, wie Plato, Cicero und Plinius beweisen, ja weil ihn in
Griechenland, Aegypten und Rom
das Volk so aufrichtig und ernsthaft geglaubt, als ihn noch jetzt die Wilden glauben.
Auch die Juden sahen den Ursprung ihrer Dichtkunst in der wirklichen Theopnevstie:
Josephus und Philo leiten ihn unwidersprechlich daraus her, man hat sich lange Zeit
gescheuet, über die Schönheit der heiligen Poesien zu urtheilen, weil man auch selbst
die dichterische Seite für unmittelbare göttliche Wirkung erkannte. Weil von den
Kirchenvätern an bis auf neuere Zeiten die meisten und gelehrtesten Ausleger für
die poetischen Schönheiten nicht Gefühl und Geschmack genug hatten, behandelte man
sie stets nach den Regeln der äußersten Richtigkeit als so göttliche Schriften,
daß die Dichtkunst selbst nicht die mindeste Freiheit behielt. Ja, sogar geschmackvolle
Ausleger gaben so sehr der herrschenden Meinung nach, daß sie der
[94] poetischen Seite
meistens zu viel Licht nahmen, und den Ursprung stets vom Himmel holten. Noch neulich
hat der feinste Kenner der ebräischen Poesie, Lowth sich so weit vergessen, daß er
die Worte schrieb: "Der Anfang der übrigen Künste ist unvollkommen, grob, und bei
niedrigen unwürdigen Versuchen: die Dichtkunst aber erblicken wir schon bei ihrem
Ursprunge in Glanz; denn nicht von menschlichem Witz ist sie erfunden, sondern vom
Himmel gesenket; nicht durch kleine Zunahmen gewachsen, sondern gleich bei ihrer
Geburt vollständig reif an Stärke und Schönheit erschienen; nicht hat sie der Lüge
ihren Schmuck geliehen; sondern sie war die Unterhändlerin zwischen Gott und den
Menschen." Zu diesen prächtigen Worten muß ich gleich die Anmerkung seines Herausgebers
dazu setzen: entweder wird hier Lowth zu sehr ein Redner; oder er folgt unzuverlässig
den Juden, und ihren Nachfolgern unter den Christen, die den Ursprung alles dessen,
was hebräisch ist, von Gott ableiten.
Wir wollen diesen göttlichen Ursprung etwas näher beleuchten. Allen Nationen ist die
Dichtkunst natürlich; ist nun ihr Ursprung nothwendig so göttlich, daß ihn kein
menschlicher Witz hat erfinden können; so sind überall Götter die Ursache: so wie
auch jedes Volk diesen Ursprung behauptet. Alsdann hat der Gott der Grönländer so
viel Theil an der Erfindung schlechter grönländischen Lieder, als der Apoll an
bessern griechischen.
Die Gedichte aller Länder und Völker haben zu viel Aehnlichkeit, als daß sie nicht
aus einer Quelle haben entstehen müssen; hat Prometheus unter den Griechen den
Feuerfunken des Genies vom Himmel gestohlen; so hat der skaldrische Prometheus
dies auch gethan. Ich sehe zu viel Gleichheit, auch bei der rauhesten Nation zu
viel poetische Schönheit: ihr Gott muß auch der erste Dichter gewesen seyn. Man
wende mir nicht ein, daß alle Nationen diese Schätze von einem Volk entwandt;
daß man Alles aus den Morgenländern herholen müsse, daß alle Bäche aus einer
großen Quelle entspringen. Diese Hypothese hat zu viel Willkührliches; Jeder
leitet die Bäche, wo er will; sie durchkreuzen sich, daß man völlig irre wird;
man hat so viel Lehrgebäude von der Wanderung
[95] der Künste und Wissenschaften,
daß man weiter kommt, wenn man keines annimmt, und in jedem Volk selbst den Samen
sucht, der die Künste und Wissenschaften hat hervorbringen können. Freilich sind
von einem Blut alle Menschengeschlechter auf dem Erdboden entsprossen: allein die
Wanderungen haben sie dergestalt von allen Kenntnissen ihrer Väter beraubt, daß
wir jedes Volk vor sich in dem elendesten und dürftigsten Zustande erblicken, der
ihnen die Erfindung von allem Nothwendigen, so nothwendig machte, als wenn sie sie
nie gehabt hätten. Da nun alle Völker einerlei Bedürfnisse, und einerlei Fähigkeiten
haben, diese Bedürfnisse zu ersetzen: so ist's ja natürlich, das unter ihnen zu
suchen, was man, nach so schwachen und ungewissen Schlüssen, aus andern
Lieblingsgegenden, wie den Pfeffer aus Indien, holt. Wenn auch ein wildes Volk
Dichter haben kann, und sie zuerst haben muß: so kann auch die Dichtkunst bei
allen ihren Ursprung nehmen; ist dieser nun bei einem Volk übermenschlich: so
ist er bei allen göttlich.
Worin besteht nun dies Uebermenschliche und Göttliche?
Entweder in dem Inhalt,
oder in der Art des Vortrages, die über die Erfindungsfähigkeit der Menschen
gehen. Bei dem Inhalt der jüdischen Gedichte gebe ich dies zu, dessen Göttlichkeit
durch so viel Gründe bestätigt wird; aber ob bei ihnen die Art des poetischen
Vortrages, ob dichterische Schönheiten so übermenschlich sind, daß sie ihr
Göttliches vor der Stirn tragen, weiß ich nicht. Man hat eben die poetische
Schönheiten dieser
Gedichte oft unter die Beweise der Göttlichkeit gezählet, so wie dies bei den
Arabern der größeste Beweis für ihren Koran ist: allein wie schwer ist die genaue
Bestimmung der Frage: so weit hat menschliches Genie die Schönheit der Dichtkunst
heben können; allein dies geht über seine Kräfte, und fodert einen höhern Ursprung!
Wie schlüpfrig ist der Schluß: ein Werk, das so viel Lebhaftigkeit in Bildern, so viel
Feuer im Ausdruck der Empfindung, so viel poetische Natur und Stärke in seinem
Ausdruck der Gedanken, so viel dichterischen Wohlklang hat, das muß in seiner
Poesie göttlich seyn; denn eine menschliche Seele kann es
[96] zwar in jedem dieser
Stücke sehr hoch, aber nicht so hoch, nicht bis zu der Stufe bringen. Ich will
es zwar nicht übernehmen, zu zeigen, daß jede dieser Schönheiten auch von
heidnischen Dichtern wirklich hervorgebracht sey; der Beweis hievon ist alsdann
erst nöthig, wenn der Andre Gründe gesagt hat, warum so erhabne Schönheiten über
die menschliche Seele gehen! Wie viel Kenntniß der Seele würde zu diesem Grunde
erfordert, die wir jetzt noch nicht haben. Wie weit kann man aus natürlichen
Fähigkeiten die Lebhaftigkeit der Gedanken, den Ausdruck des Affekts, den Wohlklang
und die Anordnung der poetischen Bilder treiben! Wie weit haben ihn die Morgenländer
bei den Vortheilen ihrer Denk- und Lebensart, ihres Zeitalters, ihrer Gegend und
Sprache treiben können! Und was ja natürlich entstehen kann, bei dem kann ja dies
Natürliche nicht ein Beweis des Uebernatürlichen seyn. Nirgends werden wir ja darauf
gewiesen, die Bibel für göttlich anzunehmen, weil sie schön geschrieben ist; wir
haben weit zuverlässigere Kennzeichen ihrer Göttlichkeit, die aber hier nicht in
meine Schrift gehören. Und es kann dieses Kennzeichen auch nicht einmal unter
die wahrscheinlichen gesetzt werden: es ist gar kein Geschäfte der göttlichen
Einwirkung, poetische Affekte zu erregen, den untern Theil der Seele in Bewegung
zu setzen, die Einbildungskraft in Flammen zu bringen; aber dem Verstande unbekannte
Wahrheiten zu sagen, die Seele mit einem heitern Licht zu erleuchten, dies ist das
Geschäfte Gottes, wenn er in den Geist der Menschen wirkt. Daß sich aber Gott der
Denkart seiner Schriftsteller bediente, oder ihnen vielmehr ihre poetische Denkart
(den Charakter ihres
Landes und ihrer Zeit,) frei ließ, war nothwendig, um zu einem Volke zu reden, das
die göttlichen Aussprüche blos in diesem Gewande erwartete, und fassen konnte. Es
bleibt also selbst bei der Theopnevstie, die sich über Worte ausbreitet, noch immer
erlaubt, die heilige Poesie, so fern sie Poesie ist, menschlich und analogisch mit
andern Völkern zu betrachten: eine Freiheit, die mir zu einem großen Theil meiner
Betrachtungen nothwendig ist, und der zu gut ich diese ganze Stelle habe vorausschicken
müssen.
[97] Worin besteht nun das Uebermenschliche in den Gedichten andrer Völker? Weder im
Inhalt noch in der Art des Vortrages! Ihre ersten Gedichte waren Gesänge, die die
Nachrichten fortpflanzten, die in Unglücksfällen Gebete zur Versöhnung der Götter
enthielten, die die Lehren und Unterweisungen der Väter den Kindern beibrachten,
die die Armee zur Tapferkeit ermunterten, die Träume von der Weltentstehung nach
ihrer Denkart und Vermuthung sangen, die dem unwissenden Pöbel Gesetze und Rathschläge
ertheilten, die das wegen der Zukunft zitternde Volk durch spielende oder dunkle
Voraussagungen nur bis zum Ausgange zufrieden stellten, die Wein und Liebe
sangen – was ist nun in diesen Materien Uebermenschliches? sie sind alle so, daß
ihre Probleme göttlich scheinen können; aber die Entwicklung ist jeder Nation so
natürlich, und so menschlich als möglich. – Die Art der Gesänge verräth eben so
wohl Spuren davon, da ihre Bilder und Empfindungen der damaligen Stufe ihrer
Kenntnisse und Kultur, ihrer Gegend und ihrer Lebensart genau treu bleiben; da
ihr Aeußerliches der Gesänge sich durchgehends der jedesmaligen Stufe ihrer Sprache,
ihrer Musik, ihrer Deklamation bequemt; überall sehe ich den Gang der Natur, vom
Schlechten zum Bessern. Ich schließe also weiter:
Wie sehr widerspricht diese Göttlichkeit des Ursprungs den ersten Versuchen der Dichtkunst; so sehr, daß sie diese mißrathenen Kinder aus Scham unterdrückt hat. Und nun, da bei jeder Nation blos die vortrefflichen Gedichte der Vergessenheit entronnen: so kehrt man den Schluß um: wie vortrefflich! das ist göttlich! – Weil Moses' Gedichte so vortrefflich, und die ersten sind: so findet man dies dem Lauf menschlicher Werke ganz entgegen, und macht Gott zum Erfinder der Dichtkunst: der Schluß wäre recht, wenn der Mittelsatz wahr wäre, daß sie die ersten sind! denn freilich ist das erste Gedicht, das zugleich das vollkommenste ist, so ein Wunder, als eine Frucht, die als ein vollkommener Mann aus Mutterleibe, oder ein Baum, der auf einmal, und mit seiner schönen Krone zuerst sich aus der Erde drängt. Allein nun hat man ja Fußstapfen von älteren Ge[98]dichten: "vor den heiligen und göttlichen Gedichten des Moses hatten ja die Moabiter ein vortreffliches Siegeslied auf die Thaten ihres Königs, das uns Moses selbst aufbehalten hat (4. Mos. 21. V. 27-30) und selbst vor dem prophetischen Gesange des Jacobs hat man ältere gehabt, historische, aber meist sehr mittelmäßige und einige gar schlechte." "Lange vor Moses ist die Poesie gewesen, aber ungebildet, nachher hat sie sich mehr ausgebessert. Denn obgleich zur Zeit des Moses, dem güldnen Alter der hebräischen Sprache, vortreffliche Gedichte mit göttlicher Einwirkung gesungen wurden: so ist's deswegen nicht wahrscheinlich, daß das erste hebräische Gedicht vollkommen gewesen."
Eben so hat man sich geirret, wenn man den Homer für den ersten Dichter gehalten,
und seine Vollkommenheit also beinahe für übermenschlich gehalten hat. Freilich ist
Homer der älteste Dichter, dessen Schriften uns übrig geblieben sind, freilich sind
einige von denen, die man vor ihm nennt, ungewiß, oder später als er, freilich ist er
nachher fast die einzige Quelle gewesen, aus welcher seine Nachfolger geschöpft haben;
das große Original, aus dem große Geschichtschreiber, komische und tragische Dichter,
Weltweisen und was man nur mehr will, entstanden sind: ich gebe es zu, daß er der erste
gewesen, der ein episches Ganzes zu Ende gebracht; daß er der einzige gewesen, der
die Nachwelt verdiente: ich gebe Alles zu; allein das widerspricht allen Nachrichten,
daß er der Erste gewesen; da er selbst Sänger in seiner Odyssee anführt, da von so
vielen Dichtern die Namen und die Materie ihrer Schriften bekannt sind, da so viel
epische Dichter, und zwar Dichter und Dichterinnen sind, die die Belagerung Trojen's
besungen haben. Alle Zeitalter der Anfangsversuche, der schlechten und mittelmäßigen
Gedichte waren vorbei: er konnte alle diese Proben nützen; hatte die goldne
Zeit der Dichtkunst erlebt, und ward also die Sonne, die ihre Morgensterne erbleichte,
und vor welcher Jahrhunderte nachher als für einem Gott und einem Boten der Götter
niederknieten. Er ward vergöttert zu Smyrna und Colophon, ganz Griechenland erkannte
ihn davor, wofür ihn Plato erklärte, wenn er sagt: so spricht der Gott; und der Götter
Prophet: man
unter[99]suchte also nicht die Ursachen seiner Größe, und das kühne und
löbliche Unternehmen eines scharfsinnigen Engländers würde in Griechenland gewiß die
Verbannung verdient haben, da er untersucht hat: "durch welchen Zusammenfluß von
natürlichen Ursachen das größte Genie unter den Dichtern, Homer, hervorgebracht und
ausgebildet worden, daß er ein Werk vollführt, das in 2700 Jahren unter allen
menschlichen Schriften nicht seines gleichen gehabt." Es wäre in gewissen Zeitaltern
Griechenlands und in gewißen Städten so gefährlich gewesen, an der Göttlichkeit der
homerischen Poesie zu zweifeln: als es in gewissen Jahren und Oertern war, die biblische
Poesie menschlich zu nennen, wenn man gleich bei ihrem Inhalt die göttliche Offenbarung annimmt.
Und wozu nützt diese Hypothese: die Poesie hat einen göttlichen Ursprung; sie erklärt
nichts: sie fodert selbst noch Erklärung. Sie erklärt nichts, denn sie sagt eigentlich
blos: ich sehe Wirkungen, die ich nicht aus natürlichen Ursachen herleiten kann:
folglich kommen sie von Gott: ein Schluß der Barmherzigkeit, der alle weitere Untersuchung
aufhebt; denn die Thaten der Götter sind, wie Tacitus sagt, mehr zu glauben, als zu
erforschen; der also eine erbettelte unächte Bequemlichkeit empfiehlt, und nie bis
auf die Grundlage der Schätze führet. Unwissenheit, Furcht und Aberglauben, drei
Schwestern, die so viel Zeiten und Völker beherrscht, haben ja für viele Dinge in
der Natur vormals eine heilige Wolke vorgezogen gehabt, deren Ursachen wir jetzt ohne
Wunder und Zaubereien erklären können. Ein Philosoph muß so ungeduldig hiebei werden,
als Shandy gegen seinen Bruder Tobias, wenn jener untersuchen wollte, und dieser ihm
mit aufgehabnen Händen und entzückten Augen entgegen seufzte: Bruder! das kommt von
Gott! – Bruder Tobias! rief er, das heißt den Knoten unphilosophisch abhauen.
Nicht blos aber, daß dieser Ursprung nichts erklärt; er muß selbst erläutert werden und wird mit dieser Erläuterung zum Glück auch abgethan. Woher ist von den heiligen Schreibern diese Meinung entstanden? weil der Inhalt ihrer Schriften wirklich von Gott offen[100]bart und himmlisch war, weil man also glaubte, daß, so wie zu Ideen zugleich Worte nach unsern Begriffen gehören, so müsse eine göttliche Offenbarung sich auch durch den prächtigsten Ausdruck empfehlen: man schien in dieser Erwartung dadurch bestärkt, daß einige der göttlichen Schriften wirklich große Gedichte waren: und schloß schnell, eben dies Große Dichterische ist also ein Zeichen der Göttlichkeit. Man vergaß ohne Zweifel, daß dieses Kennzeichen sehr leiden würde, wenn man es über den ganzen Kanon ausbreitete. So göttlich Moses, Jesaias, Hiob und David alsdann wäre: was würde Esra, was würden die Schreiber des N. Testaments denn seyn, bei denen nichts minder, als dies Kennzeichen eintrifft. Wenn ich eine Sprache Gottes erwarte, so kann ich sie nicht nach ihm, wohl aber nach seinem Werkzeuge und seinen Zuhörern gemäß erwarten; im güldnen Zeitalter singt sein Bote gülden, in verfallnen Perioden schreibt er einen faßlichen Zeitungsstil, und in einem barbarischen Aeon schreibt er fast nach der Ueberschrift des Kreuzes hebräisch, griechisch, römisch, und was hindert's also, ihre Schreibart von dieser Sache blos menschlich zu betrachten? Das Poetische ist so wenig ein wesentliches Stück der Offenbarung, daß der Zweifler sogar auf den Irrweg gerathen könnte, auch der Inhalt selbst sey eine Folge einer feurigen Einbildungskraft. In der That hätte Gott, wenn er zu Weisen geredet hätte, die einer Ueberzeugung ohne Rührung fähig gewesen wären, <gewiß> blos für den Verstand geredet, und man macht das zum Zeichen der göttlichen Herrlichkeit, was eine Foderung unsrer Schwachheit ist.
Bei den Heiden wird dieser Fehlschluß noch leichter zu erklären! Die Göttlichkeit war ein Ehrentitel, den der Pöbel erfand, eine Folge seiner Unwissenheit, Furcht und Verehrung. Was er nicht begreifen konnte, wovon er Schaden fürchtete, was ihm beinahe wunderthätig schien, war ohne Zweifel göttlich. Göttlich schien ihm der Mann, der ihm in einer halb unbekannten Sprache sang, wo, was er verstand, vortrefflich war, der ihm mit wunderbaren künstlichen Tönen seine Sinne bezauberte, der voll neuer Erfindungen war, der sein Prophet, und Lehrer und Belustiger und Versöhner der Götter, und [101] Geschichtschreiber, und Bote der vergangenen Zeiten, sein Gesetzgeber und Anführer zum Siege wurde: göttlich schien er ihm, da er meistens aus einem fremden Lande kam, mit allem dem Fesselnden, das das Unbekannte, das Neue, das Erhabene, das Seltsame, das Nützliche mit sich führet: man verehrte ihn, und folgte ihm. Die Dichter, die damals zugleich alles, Priester und Regenten, Gelehrte und Helden waren, suchten diesem Namen würdig zu werden, ihren Ruf zu unterstützen, und den Glauben des Volks zu nähren. Weltweise gab es sehr spät: diese selbst entstanden aus Dichtern: dichterisch sprachen sie: sie sammelten ihre Weisheit aus Dichtern und aus dem gemeinen Leben: mit dem Ansehen eines Dichters bestätigten sie ihre Lehre: und sie widersprachen also nicht nur nicht dieser göttlichen Anbetung, die sie zu ihrem Vortheil brauchten; sondern suchten sie auf alle Art zu bestätigen, weil zu ihrer Zeit die größesten Dichter schon verlebt waren. Ja die damalige Art der Weltweisheit, die halb dichterisch und halb vernünftelnd war, die Wahrheiten in Erdichtungen kleidete, und bilderreiche Hypothesen schuf, hatte am wenigsten den Gesichtspunkt, dies zu untersuchen, worauf sie sich zu ihrem Vortheil stützen konnte. In diesem Betracht kann ich mir des Platons Gespräch, Jo, das mit so dichterischem Enthusiasmus von dem Enthusiasmus der Dichter spricht, erklären, ohne nach dem alten Sprüchwort der Wahrheit, oder dem Plato unrecht zu thun, weil er nichts minder wollte, als den Ursprung und das Genie des Dichters erklären. Aristoteles war der erste, der in seiner Poetik ganz und gar die dichterischen Gottheiten entfernte, was das Wesen und den Ursprung jeder Dichtart anbetrifft: und in den spätern Zeiten hat man diese Sprache entweder blos den Dichtern überlassen, oder die poetische Begeisterung mit uneigentlichen Ausdrücken bezeichnen wollen: ich nehme bei der Wiedererweckung der Wissenschaften einige Anbeter des Homers, oder noch heute etwa solche aus, die in mehr als dichterischer Verrückung sich von einem Gott ergriffen glauben, weil oft Dichter und Rasende mit brüderlich verschlungenen Händen gehen.
[102] Die meisten menschlichen Erfindungen werden durch ein bloßes Ohngefähr und nicht
durch abgezweckte Versuche geboren: durch lauter Ohngefähr regiert, und sowohl zu
ihrer Vollkommenheit, als von derselben heruntergebracht: alle Muthmassungen müßen
sehr trüglich in diesem Lande des Zufalls seyn, wo so wenig nach einförmigen Gründen
geschieht. Ein jeder meiner Leser, der selbst den himmlischen Funken in sich fühlet,
Erfinder seyn zu können, oder der selbst wenigstens einmal die Geburtsschmerzen in
sich gefühlt, neue Dinge hervorzubringen, wird es aus innerm Gefühl wissen, daß die
dunkle Gegend unsrer Seele, in der der Zunder zu der Flamme liegt, die eine Kunst
erheben oder erhöhen kann, am sprödesten sich den Gesetzen der Willkühr und eines
regelmäßigen Verstandes entziehe. Für alle menschliche Schöpfer ist's widersinnig:
ich will dies erfinden! das hieße ja: ich will das erfinden, was, indem ich es
nennen kann, schon erfunden ist! – Nein! alle Werke des Genies sind nicht durch
Regelmäßigkeit entstanden: hätten wir eine Geschichte der Erfindungen, so würde
es sich zeigen, daß wir das Meiste und Kostbarste dem Gotte des Zufalls zu danken
haben. Der Erfinder ging gleichsam spazieren, ohne Absichten, oder mit andern
Zwecken: er träumte, stieß auf etwas, hob es auf, es wurde erst nicht, dann als
ein Edelgestein erkannt, bearbeitet, und siehe! es prangt jetzt unter den entdeckten
Kostbarkeiten oben an – so müssen, nach der Aehnlichkeit zu schließen, die meisten
Erfindungen geboren seyn, nach einer Kosmogonie des Epikurs.
Wie schwierig wird in diesem Gesichtspunkt die Geschichte der Erfindungen! Eine Reihe von Ursachen wirkte zusammen, neben und nach einander so geheim, daß der Erfinder selbst sich von ihnen oft nicht Rechnung geben konnte, selbst alsdann nicht, wenn sein Schöpfungsfeuer sich senkte und mit dem Gefühl sich das Beurtheilen gesellen konnte. Die Verbindung der Dinge, entweder in oder außer ihm, die seine Entdeckung bestimmte, war ein mächtiges Rad, in das es ihm oft selbst schwer fällt einzugreifen, und seine Triebfedern zu erforschen. – Und fand er es, wenn er dies auch konnte, nicht immer [103] seinem Ruhm gemäßer diese Art der Entdeckung zu verbergen, um sich das Ansehen zu geben, er habe das Gefundene mühsam gesucht? – Oder wenn er auch die Geburt seiner Ideen nach ihrer Veranlassung bezeichnen wollte: so scheinet diese Bezeichnung erfindungslosen, trocknen Köpfen unbestimmend, wunderbar und unglaublich. Pythagoras' Erfindung der Musik und andere Erzählungen scheinen daher einem Leser, der blos für die Richtigkeit Empfindung hat, Fabeln.
Nun sehe man, wie trüglich es ist, über den Ursprung und Fortgang solcher Produkte des Ohngefährs etwas mehr, als leere Muthmassung zu liefern. Ich soll eine Wirkung aus einer Ursache erklären, da zehn Ursachen sie hervorgebracht haben können; ich soll eine Reihe von Ursachen errathen, die sich einander verdrangen, da jede starb, wenn sie die andre gebar, die sich unregelmäßig durch gewisse Würfe feurig und schnell veränderten: ich soll Sachen des Gefühls nach trocknen Regeln des Verstandes bestimmen: ich soll in die Urne greifen, um aus der Todtenasche den Keim zu suchen, der vormals ein lebendiges Geschöpf aufgetrieben hat – eine Reihe von Unternehmungen, die fast einen undankbaren Erfolg versprechen.
Man sehe die philosophischen Romane <an>, die die Geschichte einer menschlichen
Erfindung a priori haben bestimmen wollen: Träume, die oft mit aller Geschicklichkeit
und Gelehrsamkeit lächerlich werden. Einige haben eine Wissenschaft durch alle
Kunstgriffe einer philosophischen Chymie aus der menschlichen Seele abgezogen,
ohne zu sehen, ob die Zeit, die gleichsam das Vehikulum ihrer Essenz bleibt,
dieselbe fassen könne. Lieset man einige Schilderungen von dem Ursprunge der
Dichtkunst: so ist's beinahe, als wenn man ein Recept lieset: R Einbildungskraft,
Witz, Scharfsinn, Beurtheilung, Gabe des Ausdrucks, jedes nach seinem Maas und so
hat der erste Dichter entstehen müssen. Der erste Dichter kann alles dies, oder
wenig von diesem gehabt haben, und war doch der erste Dichter; eben als wenn das
Erste zugleich das Vollkommenste seyn müßte, und deswegen entspränge, um ein
nothwendiges Stück der besten Welt zu seyn. Dem Samen, der
Alles in sich zur herrlichsten Erndte enthält, und in
[104] der Erde unter ewigem Schnee
modert, fehlt blos eine Kleinigkeit – der Strahl der Frühlingssonne: das Unkraut
keimt ja weit leichter von selbst, als die Aloe und der Palmbaum. Des Menschen
natürlichster Zustand ist Schwachheit und Bedürfniß; aus Irrthum durch viele
Falltritte ist Wahrheit, aus abergläubischer Furcht bewundernswürdige Schönheit;
aus sinnlichen Schwachheiten und Lastern Tugendregeln entstanden. Immer ist zwar
die gerade Linie die kürzeste, und der Cirkel die schönste; allein die Natur
bedient sich ihrer nie vollkommen, und wählt lieber die unregelmäßigsten, um ihre
große Absicht hervorzubringen. Eben so hat das Ungefähr seine schlechten Loose
beinahe erschöpft, ehe das beste fiel, und ein Beweis, wie die Dichtkunst nach
allen Regeln der Hevristik hat entstehen sollen, beweist meistens so viel, daß
sie nie so entstanden.
Man legt bei dieser Schlußart gemeiniglich das falsche Urtheil zum Voraus zum Grunde: man hat dies und jenes entdeckt, weil man es entdecken wollte: man ahmte die Natur nach, blos um zu sehen, ob sie sich nachahmen ließe: das heißt, man wollte dies erfinden und man erfand's. Freilich ahmte der erste Dichter die Natur nach; allein nicht um sie nachzuahmen, ward er ein Dichter. Als jenes göttliche Haupt mit der Göttin der Weisheit schwanger ging, fühlte der Allwissende zwar Geburtsschmerzen; allein er kannte sein Kind nicht eher, bis es durch eine himmlische Gewalt befreiet, sich ihm in voller Rüstung zeigte. Ich finde also, je mehr ich die alten Zeiten kennen lerne, den Grundsatz immer fremder: so würde ich die Dichtkunst erfinden: folglich ist sie so erfunden; Aristoteles hatte es gut, im Plato Fehler zu finden, da ein Plato vor ihm gelebt hatte; man hat es gut, Plane zu machen: so hätte man Amerika erfinden können, nachdem es einmal erfunden ist.
Ich habe mich fast zu lange bei einer Materie verweilet, die Einigen sehr geringe
vorkommen muß: bei dem Ursprunge der Dichtkunst. Ich habe daher meine Grundsätze
sehr allgemein gemacht; woher der Ursprung aller Erfindungen so dunkel sey, weil
der nützliche und schwere Theil der Weltweisheit noch so unbearbeitet ist,
[105] der, den
wir dem Namen nach, unter dem Wort
Erfindungskunst kennen. Weil ich in meiner Geschichte den Ursprung als den
merkwürdigsten Theil ansehe, so habe ich mir selbst Rechenschaft geben müssen,
woher so viele Fußstapfen vor mir entweder irre gegangen, oder nicht weit genug
gekommen sind. Ich habe nicht blos ihre Fehler kennen wollen, um sie zu meiden,
sondern auch die schwerere Arbeit versucht, einzusehen, woher sie haben fehlen
können, und eben so gefehlt haben; jetzt bleibt mir der Beweis übrig, daß
diese verschiednen Wege auch wirklich Irrwege sind.
Nothwendigkeit und Bedürfniß ist die Mutter der Dichtkunst, und die Religion ist eine von den ersten Bedürfnissen, die ihre Erfindung nothwendig machte. Wenn wir das Menschengeschlecht von seinen hohen Stufen der Vollkommenheit auf den ebnen Boden zurückleiten, den es vor Besteigung dieser Höhen bewohnt hat, da es beraubt von Künsten und Wissenschaften, noch nicht aufgeklärt von dem Lichte des Nachdenkens, blos den Sinnen und seinem sinnlichen Verstande folgt, unbekannt mit den Gegenständen der Natur, unter Gefahren des Lebens umherirret, in dem rohen Zustande, da Furcht und Herzhaftigkeit sich in sein wildes Herz theilt: kurz, wenn wir das ungebildete Alter der Völker betrachten, das uns alle alten Schriftsteller, Dichter, und Redner, und Geschichtsschreiber schildern: so wird eben diesem Zeitalter eine Religion so unentbehrlich, als dieser Religion Gesänge.
Freilich lernt ein Volk in diesem Zustande den Begriff von Gott nicht eben aus stillen und vernünftigen Betrachtungen der Welt, aus einer philosophischen Einsicht in die Zusammenordnung der Dinge, aus tiefen Schlüssen über die Ursache des Ganzen; aber desto mehr aus den rauhen Begebenheiten der Welt, die ihnen Schrecken und Furcht einprägen, aus großen und unvermutheten Umwälzungen der Dinge, die sie für unveränderlich und nothwendig hielten, aus Zufällen, die auf sie großen Einfluß hatten und deren [106] Ursachen sie doch nicht kannten. Alles dies malte ihrer sinnlichen Einbildungskraft das Bild unsichtbarer Ursachen, mächtiger Dämonen, höherer Kräfte, furchtbarer Götter. Und weil der Mensch Alles nach sich bildet, so malte ihre rege Einbildungskraft dies Bild weiter aus: ihre Götter erschienen ihnen als Menschen, mit aller menschlichen Begierde zu schaden, und aller menschlichen Schwachheit, sich durch Schmeicheleien und Geschenke besänftigen zu lassen. Gebete, Opfer und Gebräuche waren also ihre Religion, um ihre Götter zu gewinnen, zu bedienen, zu besänftigen: und unter allen diesen Mitteln waren, wie leicht zu erachten, Gebete das vornehmste, Opfer und Gebräuche waren bloße Einfassungen und Schalen, um jene mit mehrerem Pomp vor die Götter zu bringen.
Nun haben die ersten Gebete nothwendig Gesänge seyn müssen, aus folgenden Ursachen.
Die Veranlassungen zur Anrufung der Götter waren damals gemein; die dringende Noth,
der fürchterliche Zufall, das pressende Bedürfniß, das sie die Götter suchen lehrte,
war nach der damaligen Lebensart eine allgemeine Sache des Volks, ein allgemeiner
Schrecken, ein gemeinschaftliches Bedürfniß; natürlicher Weise war also das Gebet an
die Götter allgemein. Nun konnte nicht jedem Einzelnen überlassen werden, die Gottheit
mit eigen gewählten Worten anzuflehen, weil dies über die Fähigkeit der Menge war,
oder weil man auch befürchten mußte, daß diese Gebete alsdann zu wenig sagten, ihren
Göttern nicht genug schmeichelten oder sie gar beleidigten, wie man von dieser
Empfindlichkeit der Götter in den Begriffen des Heidenthums so viel traurige
Beispiele hat. Allgemeine Gebetsformeln im Namen des ganzen Volks hoben diese
Schwierigkeiten, und wer sollte diese machen? die Klügsten ohne Zweifel, und die
Ansehnlichsten! und dies waren ihre Regenten, die wegen ihres Verstandes Könige
wurden, und an Klugheit, Tapferkeit und Schönheit den unsterblichen Göttern glichen.
Diese wurden also Mittler zwischen der Gottheit und dem Volk: Priester und Verfasser
der allgemeinen Gebete. Und wie waren diese Gebete? kurz, weil sie einem ganzen Volk
in den Mund gelegt
[107] wurden; sinnlich, weil ihre Veranlassung eine sinnliche Gefahr,
ihr Gott ein sinnliches Wesen, voll Macht und menschlicher Affekte, und weil ihre
Bitte selbst nur eine sinnliche Wohlthat war: sie bestanden in ausgesuchten Worten,
theils weil ihre Sprache noch unausgebildet zu feierlichen Ausdrücken, und blos eine
Sprache der sinnlichen Bedürfnisse im gemeinen Leben
war, theils weil sie ihre Noth und die Eigenschaften ihres Gottes so eindrücklich als
möglich zu benennen suchten, damit sie ihn ja bewegten. Wie heißt nun ein kurzes,
sinnliches Gebet voll ausgesuchter starker Worte? ohne Zweifel eine Poesie, in
ihrem rohen Ursprunge! Und wenn dies Gebet in einer Sprache ist, die ihre Accente
sehr stark hören läßt? so geht diese Poesie schon auf polymetrischen Füßen: man
spricht sie in hohen Tönen und – – singt sie also: ein natürlich roher Gesang der
Poesie. Das Volk soll ihn aber mitsprechen, d.i. mitsingen lernen; ihn leicht
lernen, ihn behalten. Man sucht also gleichmäßige Füße, die wieder kommen – das
erste rohe Sylbenmaaß! In diesem Sylbenmaaß singt man ihn dem Volk vor; damit man
es ihnen aber tiefer in's Ohr drücke: so erhöhet man die poetischen Töne; man
begleitet sie mit Musik; – die erste natürlich-rohe Composition! – und so entstanden
die heiligen Gesänge, die bei allen Völkern zu den ersten Produkten der Dichtkunst
gehört haben.
Bei den Griechen stehen unter den Namen der ältesten poetischen Stücke auch immer
Gesänge an die Götter
(ὕμνοι)
und Lieder zur Aussöhnung derselben und zur Reinigung
des Landes
(καϑαρμοί.)
.
Weil jene Gesänge es zur Absicht hatten, das singende Volk in
Andacht zu den Göttern zu erheben: so drückt auch schon der griechische Name der
Hymne diesen feierlichen Zweck aus, der bei einem rohen Volk schwer zu erreichen war,
es in das Andenken und die feierliche Gegenwart der Götter zu setzen. Eben daher, weil
Hymnen mit zu den ersten Ausarbeitungen der Dichtkunst gehörten, erkläre ich's, daß man
manchmal auch andre Gesänge damit benennet findet. Man kannte schon unter den Hymnen
[108] Gedichte, und weil der Name blos einen Erinnerungsgesang bedeutet: so gab man ihn auch
andern Arten, wie es gewöhnlich ist, daß viele Ehrennamen, die vorher einzeln waren,
nachher allgemeinere Benennungen werden. Weil man die Hymne ohne Zweifel den Göttern
sehr zu Ohren geschrieen haben wird: so kann Euripides mit dem Worte
ὑμνεύειν
füglich
eine allgemeine Bekanntmachung ausdrücken: und weil traurige Fälle eher zu den Göttern
treiben, als vergnügte, die ein rohes Volk für eine nothwendige Folge der Welt hält:
so hat dies Wort auch die Nebenidee des Traurens mit sich führen können. Der
Hauptbegriff aber blieb ein Gesang an die Götter, den man vor Altären, bei den Opfern,
an Festen, bei öffentlichen Aufzügen sang. Daß man ihn in die Idee eines Lobgesanges
einschränkte, kam aus einer leicht zu errathenden Ursache: weil man nicht anders, als
lobend vor ihnen erschien, weil man ihre Vollkommenheiten, so gut man konnte, erhöhete,
und ihnen alles, was man nur wußte, lieber zu viel, als zu wenig, zuschrieb, um sie nicht
zu erzürnen, um sie durch Schmeicheleien zu lenken. Eine Hand voll Lob war das Geschenk,
ohne welches man sich nicht getrauete, vor ihre Augen zu kommen. So wie übrigens im
Anfange singen und sprechen einerlei bedeutete: so wurde auch damals das Wort Hymne
zuweilen gebraucht, ohne es der Prose entgegen zu setzen, und in den spätern Zeiten
rief man freilich schon die Götter auch in ungebundner Rede an.
Die Namen der ältesten Dichter (und leider! haben wir von ihnen nichts als Namen)
bestätigen den angegebenen Ursprung der Hymnen sehr, da die meisten unter ihnen auch
Theologen nach dem griechischen Verstande und Verfasser von Hymnen gewesen. Olen aus
Lycien wird vom Callimachus
ϑεοπρόπος
genannt: und sein Scholiast nennt ihn den
Erfinder der Hymnen. Die Weissagerin Böo nennt ihn den ersten Propheten des Apolls,
und Pausanias führt hin und wieder Hymnen von ihm an, von denen eine der
Lieblingsgesang im Delischen Tempel gewesen. So wie Olen die ersten Gesänge gemacht:
so soll Pampho den Atheniensern
[109] die ersten vorgesungen haben, die nachher bei den
Eleusinischen Festen angestimmt worden sind: Ceres, Neptun, Diana, Gottheiten, die
ihrem Wesen nach zu den ältesten haben gehören müssen, haben seine Leier beschäftigt,
und seinen Gesang auf Zevs soll ja Homer selbst genutzt haben. Ist gleich Alles von
ihm verloren: so wird sich vielleicht die Nachricht am längsten erhalten, daß er die
Gratien zuerst besungen. Und wie viel Andre haben sich mit Hymnen beschäftigt:
Anthes und sein Zeitgenosse Linus, Musäus und Melampus, Philammon und Thamyras
usw., die uns bloße Namen zu Rubriken verlorner Sachen sind, und ein so ermüdendes
Register sind, als die Liste alter ägyptischer oder chinesischer Könige. Lasset
uns indessen sehen, ob wir uns von ihren Werken einen Begriff machen
können: wir treten hier freilich in einen dunkeln Hain, wo wir auf einigen Bäumen
bloße Fragmente von Namen erblicken; wir wollen sie aber nicht, wie schon so viele
Reisende gethan, mit Mühe buchstabiren, als eine todte Seltenheit in unsere Tafel
eintragen, und höchstens an ihnen einen Buchstaben zu ändern suchen. Viele Andre
haben uns schon diese Mühe benommen, und Einige schon mit ihr eine undankbare Arbeit
übernommen. Wir wollen die Dryade des Baums lieber um Aufschlüsse bitten, und uns
unter dem Schatten ihrer Zweige dem Nachdenken überlassen.
Unter allen Verfassern alter Hymnen ist Niemand bekannter als Orpheus, und hätten
wir von diesem göttlichen Urheber der griechischen Weisheit und Religion seine
unverfälschten Schriften: so hätten wir in ihnen den Schatz der ältesten Meinungen,
den wahren Ursprung der heiligen Dichtkunst unter den Griechen, den Schlüssel zu
allen ihren Geheimnissen und Allegorien und die schätzbarste Philosophie über die
alte Geschichte. In der That! man geräth in einen eifrigen Unwillen, wenn man die
Geschichte dieses so wichtigen Mannes in einer Ungewißheit sieht, die uns alles
Licht von dem Zeitalter der griechischen Poesie vor dem Homer raubet; man wird von
den einzelnen und so gebrochnen Nachrichten von ihm mit einer tiefen Ehrerbietung
angefüllt, die Begierde wächset immer mehr,
[110] wenn schon nicht seine Werke, so doch
sein Leben zu kennen, welches viele Alte ihrer Mühe so würdig gefunden, und endlich
findet man doch Widersprüche, die Aristoteles durch ein unbesonnen Wort, und spätere,
insonderheit Kirchenscribenten durch eine Menge unbesonnener Worte noch mehr gehäufet.
Dank sey in diesem Stück der Muse eines Eschenbach und Geßners, für den Fleiß, den
sie diesem Autor geschenkt. Denn gewiß! wenn eine Erscheinung mir frei ließe, drei
Männer des griechischen Alterthums zu sprechen: so würde ich ohne Streit mit mir
selbst, Orpheus, Homer und Plato wählen.
Ich lege bei meinen Betrachtungen die Geßner'sche Ausgabe der Werke des Orpheus,
und seine Prolegomena Orphica zum Grunde: denn werde ich wohl auf Leser rechnen
können, die dies letzte Geschenk unsers Geßners nicht werth achten, zu kennen?
Ich lege die Hypothese zum Grunde, daß, wenn auch die Werke des Orpheus vom
Onomakritus, dem Zeitgenossen Pindars, herrühren, "sie doch den Vorsatz haben, die
Gebräuche und Geheimnisse des Orpheus zu empfehlen, ihn zum Freunde und Boten der
Götter zu machen, der von ihnen unterrichtet, Mittel gegen die Krankheit, und
Gottesdienste zur Aussöhnung aller Uebelthaten, zur Abtreibung der Gefahren, Hülfsmittel
gegen die verzweifelteste Lage der Sachen entweder selbst thätig gezeigt, oder den
Nachkommen Quellen dazu angewiesen." In diesem Gesichtspunkt brauche ich seine Schriften:
können sie nicht selbst das Ziel seyn, nach dem ich sehe; so brauche ich sie wenigstens als
Fernglas, diese dunklen Gegenden näher zu bringen. –
Zuerst bemerke ich: da die älteste Religion der Völker nicht aus Betrachtung über die
Werke der Natur entsprungen: sondern da wahrscheinlicher Veränderungen der Welt,
Zerrüttungen der Natur, Spuren einer unsichtbaren feindlichen Gewalt, ein Streit der
Begebenheiten im Laufe der Dinge die sinnlichen Menschen auf den Begriff der Götter
gebracht: so müssen die ersten heiligen Gesänge mehr zur lebendigen Handlung als zur
todten
[111] Malerei gleich von Anfang seyn gewöhnt worden. Wären sie tiefdenkende Weise
gewesen, die durch sichere Causalschlüsse, durch gründliche Betrachtungen der Schönheit
der Natur auf ihre Götter gekommen wären: so wäre ihre ganze Vielgötterei, ihre sinnliche
Mythologie freilich weggeblieben: sie hätten den wahren, Einen, geistigen Urheber gefunden.
Aber was hätte dies auf ihre Dichtkunst gewirkt? sie hätten sie angewandt, die Schönheit,
die Ordnung, die Uebereinstimmung der Geschöpfe zu schildern: sie hätten ihr Schlüsse
und Betrachtungen anvertrauet: sie hätten den Pinsel der dichterischen Muse zur
sklavischen Nachahmung der malerischen Muse verdammt, und also immer unter dem Mittelmäßigen
geblieben. Denn welche todte Arbeit ist's für ein schöpferisches Genie, zu pinseln,
Gegenstände zu malen, die sich in der Rede nicht schildern lassen, und die das Feld
der Malerei sind. Alle Quellen der Erfindung werden hiebei ausgetrocknet, alle Bäche
der Erdichtungen verstopft, der Dichtkunst ihr Wesen ausgezogen, und zu ihrem elenden
Zweck es gemacht, richtig nachahmen zu können.
Aber wenn die erste Religion sich über Begebenheiten des Schicksals nährte: so bekam ihre Dichtkunst Leben und Handlung. Sie schildert jetzt nicht mehr einen Unsichtbaren, der da sprach, und es ward! der dem Laufe der Begebenheiten Grundgesetze der Bewegung eindrückte, die sie nie verfehlen, der die Kette der Dinge mit Weisheit zusammenknüpfte, mit Macht an seinen Thron band und ihr ihren Kreis läßt! Nein! sie sahe die Götter in lauter Handlung; wie dieser die Elemente erregte, jener Zufälle in den Weg schob, dieser schleunige Gefahren sandte, und jener sie eben so schnell abwandte; wie dieser plötzliche Krankheiten, jener Verwüstungen der Länder verursachte. Alles ward in Krieg verwickelt: Loose des Ungefährs mit mächtigem Arm ausgeworfen: überall sahe man unmittelbar wirksame Wesen: überall Aufseher und Auflaurer; Schutz- und feindliche Götter – das machte ihre Hymnen voll Handlung.
Betrachtet die Orphischen Hymnen, die meistens aus Beiwörtern bestehen, und dem ersten
Anblick nach also ein todtes Gemälde ihrer
[112] Gottheit enthalten sollten, näher: jedes Beiwort
lebt; jedes malt die Gottheit handelnd, die wenigsten sind bloße Eigenschaften, die
meisten enthalten Thaten. Ich nehme das erste das beste,
ϑνμίαμα
die Nacht: diese
würde nach der neuern Dichtart mit aller ihr dunkeln Pracht gemalt werden; aber bei
dem Orpheus ist sie die Gebärerin der Götter und Menschen, der Ursprung aller Dinge,
die Hervorführerin der Sterne; die die Stille und die schlafvolle Wüsten liebte, die
vergnügte Schmäuse schenkt, die Mutter der Träume, die Feindin der Sorgen, die Ruhe
nach der Arbeit ertheilt, die Schlaf ertheilt, eine Freundin von allen – – u.s.w. Sein
Aether wacht mit schlafloser Macht in den Hütten Jupiters, zähmt Alles, haucht Feuer,
haucht Glut in alles Lebendige, erscheint hoch in der Höhe mit schimmerndem Glanz und
führt den Mond und die Gestirne hervor. Seine Charitinnen zeigt er als Mütter der Freude,
als unbefleckte vergnügte Tänzerinnen, die sich immer verändern, und immer blühen, die
den Sterblichen erwünscht sind, und Gelübde hören, die schön von Augen und reizend
sind! – Und so viel Handlung kann er in wenige Zeilen, und in jedes Wort eine neue
Handlung legen: glückliche Sprache, die wir trocken und weitschweifig
umschreiben müssen! – Ich habe zwei todte Gegenstände angeführt, die bei ihm so
wirksam werden: nun schließe man auf die nach der Mythologie wirklichen Götter und
Göttinnen: Pan und Herkules, Saturn und Rhea,
Zevs der Donnerer und der blitzende,
Juno und Bacchus: Alles lebt und thut Thaten. Ich habe die Gratien zum Beispiel genannt,
weil diese Göttinnen so sehr das Unglück bei den spätern Dichtern haben, sich von ihnen
bis auf den Nagel am Fuß schildern zu lassen. In allen diesen Hymnen siehet man den
Ursprung der Dichtkunst, wie man die Götter von Gefahren, Veränderungen, von
merkwürdigen Einflüssen abstrahirte: man sieht das, wodurch sie Leben bekam, daß
man alle Dinge gleichsam bei ihrer Einwirkung auf die Menschen ertappte, daß man
sie in ihren Veränderungen beschlich, ihre Kräfte erwischte, und alles das
Interessante, Fruchtbare und Wunderbare in seine Arbeit brachte,
[113] was unsern neuern
Schildereien fehlt, die todt, die gemein, die unfruchtbar werden, wenn sie nicht ein
Genie beschäftigen, und dies Genie könnte von den Alten eine würdigere Beschäftigung
lernen. Hier hat der Ursprung der Dichtkunst freilich vieles vor uns voraus. Bei uns
schläft die Natur, der Lauf der Dinge geht unverrückt, die plötzlichen großen
Veränderungen sehen wir zum Voraus: die unvermutheten suchen wir zu erklären; nichts
bleibt wunderbar, wenn man es still betrachtet, nichts furchtbar, dessen Ursachen man
weiß: so schlummern die Affekte ein, die die Dichtkunst geboren; Furcht, Entsetzen,
Hoffnung: so schlummert die sinnliche wilde Neugier ein, sie wird kalte philosophische
Betrachtung. Aus diesem schlafenden Zustande muß ein dichterisches Genie herausgehen,
sich in das erste Zeitalter versetzen, alle Dinge so ansehen, als wenn sie ihm zum
erstenmal erschienen, alle Veränderungen mit dem Feuer wahrnehmen, als wenn man
Alles von ihnen zu hoffen oder zu fürchten hätte – aber wie schwer ist's, Affekte
nachzuahmen, sich in einen sinnlichen Zustand zu setzen, der eine Folge von Unwissenheit,
und ein Ursprung großer Gefühle ist. – Wer es nicht gefühlt hat, wie schwer dies sey,
kann den Werken der Neuern ansehen, daß es schwer seyn müsse.
Eben von diesem Ursprunge der Gesänge aus Furcht zeigen die
vielen Reinigungsgesänge
(καϑαρμοί)
zur Aussöhnung der Götter, die zu den Hymnen
jedes Hymnendichters gemeiniglich zugesetzt werden. Sahe man von seinen Gebeten und
Gelübden noch keine Wirkung: oder ward die Noth größer, oder fing etwa ein neues
Element, ein neuer Feind in der Natur an zu rasen: so kroch man zu den Füßen des,
den man beleidigt hielt, mit Abbitten, Aussöhnungsliedern, Opfern und Gebräuchen.
Epimenides ist wegen seiner Gesänge so berühmt, daß er in Griechenland für den
allgemeinen Entsündiger galt
(καϑαρτής),
daß er nicht blos Athen, sondern viele
andre Gegenden reinigte: so daß Ammianus die größte Stufe der Versündigung Roms dadurch
anzeigt, daß er ausruft: und wenn jener Epimenides aus Creta von den Todten zu
uns käme: er allein
[114] kann Rom nicht entsündigen. Orpheus und Musäus waren auch wegen
dieser Reinigungslieder berühmt: Abaris und Empedokles, Melampus und Sidon haben in
ihren verlornen Stücken auch
καϑαρμούς
.
Wenn man nun die Vielheit dieser Gesänge,
die große Ernsthaftigkeit bei ihren Aussöhnungen, das Schreckliche ihrer Menschenopfer
und Büßungen, das Fürchterliche ihrer Gebräuche betrachtet: so sieht man leider!
zu sehr, daß ihre Religion eine Tyrannin ihrer Leidenschaften gewesen, und daß also
ihre heilige Poesie es gut gehabt hat, sich jedes Unglücksfalls und jedes Versehens
zu bedienen, um diese Leidenschaften zu erregen, daß ihre Reinigungsgesänge, die
Menschenblut fließen machten, und von allem Fürchterlichen der Natur begleitet wurden,
die unter Wehklagen über das erlittene Unglück, über das vermeinte begangne Verbrechen,
und über die Zukunft ertöneten, doch ohne Zweifel mehr wildes Feierliches haben mußten,
als ein kalter Dankpsalm, weil jene von den Erbebungen des Herzens, von dem Schauder
der Brust, von den Seufzern der ganzen Seele, gleichsam mit Gewalt ausgestoßen wurden.
Ich weiß zwar, daß Viele der Religion und den Gesängen der Heiden einen ganz feinern
Ursprung gegeben: die Dankbarkeit. Die Sonne und der Mond, die Quellen und das Ganze
der Natur seyen wegen ihrer Wohlthaten verehrt worden, wie von den Aegyptern der Nil.
Saturn und Rhea, Japet und Vesta, Thetis und Neptun,
Hyperion und Phöbe, Jupiter und
Juno, Ceres und
Merkur u.s.w. alle sind nach der weitläufigen Homilie des Diodors aus Sicilien
kanonisirte Wohlthäter des menschlichen Geschlechts: dieser Meinung tritt Cicero
auch bei, und Voßius hat sie wiederholt: sind diese Männer nicht wichtig genug,
um ihnen beizutreten? Ja! ohne daß ich von meinem Satz abgehe. Eben der Mangel an
dem, was ihnen diese Wohlthäter zuwandten, zeigte sie in dem Licht der Wohlthäter,
um von rohen Völkern erkannt zu werden. Der Nil mußte bei den Aegyptern manchmal weniger
überfließend seyn; Neptun mußte manchmal verwüsten, die Sonne oft Strahlen der Pest
schießen, der Mond unglücklichen Thau herabsenden,
[115] Jupiter mit seinem Donner Schrecken
und Schaden anrichten, die Erde erbeben und Städte einschlucken: so lernte man sie
kennen, so lernte man ihre Ruhe als Wohlthat empfinden: und dies bitten gemeiniglich
die alten Hymnen. Man lernt endlich, daß sie auch Nutzen schaffen können, daß sie
unentbehrlich sind, man fleht also um ihre Gnade, und Beistand. Es ist ohne Zweifel
der Natur der Menschen gemäßer, das, was da schadet, zu entfernen: eben durch Schaden
lernt man Klugheit: durch Unglücksfälle sieht man den Nutzen: Anomalien zeigen, daß
der vorige ruhige Lauf, den man für unveränderlich hielt, nicht schlechterdings
nothwendig sey: und die Furcht und das Schrecken bahnen der Dankbarkeit den Weg.
Ueberdem so sind die Elemente und die personificirte Natur ohnstreitig ältere Götter,
als die deificirten Menschen, deren Erfindungen selbst nichts mehr, als Abtreiberin
der Gefahr, der Bedürfniß des Mangels und der Noth gewesen, und also schon wieder
Bittlieder voraussetzten. Es ist also die Herleitung der Religion aus Dankbarkeit
ein späterer, nicht also ursprünglicher Zustand, eine Verschönerung und Läuterung,
die schon die rohe Masse voraussetzt.
Die zweite Bemerkung ist diese. Wie die unangenehmen Leidenschaften stärker und empfindlicher wirken, als die angenehmen: wie Furcht lebhafter als Hoffnung, und Rache stärker als Dankbarkeit, und Schrecken empfindlicher als Ruhe ist: so sieht man auch, daß die ältesten Religionslieder von diesen mächtigern Empfindungen vorzüglich belebt werden. Die alten heidnischen Religionen sind den armen Sterblichen zu trösten erfunden: seine Furcht zu stillen, sein Schrecken zu beruhigen; oder vielmehr sie veränderten blos die Gegenstände des Schreckens, daß es jetzt nicht mehr die Dinge der Welt, sondern die unsichtbaren Dämonen blieben, die die Dinge der Welt lenkten. Vor diesen zitterte man und flehte: statt zu erforschen, und sich selbst zu helfen und sein eigner Gott zu seyn: hat Lukrez nicht ganz recht in der Stelle, über die man ihn so sehr verketzert hat:
Humana ante oculos foede cum vita jaceret
In terris oppressa gravi sub relligione:
[116] quae caput a coeli regionibus ostendebat
Horribili super adspectu mortalibus instans:
Primum Graius homo mortales tollere contra
Est oculos ausus, primusque obsistere contra:
Quem nec fama Deum, nec fulmina, nec minitanti
Murmure compressit coelum, sed eo magis acrem
Virtutem inritat animi, confringere ut arcta
Naturae primus portarum claustra cupiret.
Freilich hat die Weltweisheit und die Kenntniß der wahren Ursachen den Menschen von dieser niedrigen Furcht befreiet, aber der Ursprung der Dichtkunst forderte diese starke Triebfedern, um hervorzukommen.
Wenn ich alle orphische Hymnen durchgehe: so zeigen sich überall Spuren von dieser
heiligen Zaghaftigkeit, die den Namen Götter und Religion von Furcht und Entsetzen
abstammen ließ: die die Ausdrücke heilig und furchtbar, Gottesdienst und Erzittern
zu Synonymen machte. Ueberall sieht man die Grundfäden bei jedem Gesange: Mächtiges
Wesen, du bist furchtbar, wenn du gegen uns bist; wir schmeicheln dir: drum sey auf
unserer Seite, uns wenigstens nicht zu schaden, uns in der Noth beizustehen. So ruft
man die Juno an, als die Schutzgöttin schwerer Geburten, um den Gebärenden beizustehn:
das himmlische Feuer, damit es unschädlich und mäßig wirke: die Sterne, vor denen man
als Boten des Schicksals zittert, damit sie glücklich erscheinen mögen: die allmächtige
Natur, daß sie Frieden hielte: den Herkules, daß er die Ungeheuer von Krankheiten und
bösen Vorbedeutungen vertriebe: den Gott der Zeit, daß er einen guten
Tod bescheren möchte: die Erde, das sie Friede hielte, den nöthigen Vorrath hervorbrächte
und keine ansteckende Dünste hervortriebe u.s.w. Friede bat man sich von allen Elementen
und Göttern und personificirten Wesen aus: damit sie nur nicht schadeten. So wie wir
nun nie andächtiger sind, als bei melancholischen Aussichten, bei Empfindungen oder
Vermuthungen des Unglücks, bei Vorstellungen der Trübsal: so ist die Dichtkunst nie
wirksamer, als wenn sie sich dieser Leidenschaften bedienen kann. Daher ist das
Trauer[117]spiel ohnstreitig die stärkste Poesie, welcher die Epopee mit ihrer kalten
Bewunderung weit nachstehet. Welchen Vortheil hat also ein Gesang gehabt, der diese
gewaltige Leidenschaften in seiner Hand gehabt.
Für unsre Zeiten ist dieser Vortheil verloren: weil sich bei unserm ruhigen Leben
die Gefahren unstreitig vermindert haben: weil unsre Kenntniß der Natur durch
Erfahrung und Wissenschaft gleichsam den fürchterlichen Dämon jedes Vorfalls vertrieben
und eine natürliche Ursache an seine Stelle gesetzt hat, die sich durch Gebet nicht
ändern, aber durch Klugheit vermeiden läßt. Uns treibt also weniger Noth vor den Altar
der Gottheit: wir sind angewiesen, unsre eigne Götter zu seyn, ohne sie durch Bitten
um Wunderwohlthaten versuchen zu wollen: unserm Gott ist sein furchtbares Kleid
ausgezogen; Güte ist die Beziehung, in der wir ihn kennen lernen: wir sehen in der
Natur seine Gesetze, und alle Veränderungen mehr im Licht des Natürlichen,
als Göttlichen. – Und bei dieser Ruhe verliert die Dichtkunst ohne Zweifel,
die gleichsam aus einer Erschütterung unsrer ganzen Seele entspringt und im
Sturm unsrer Leidenschaft herrschet. Der Weltweise, der meine Gebete auf
Danksagungen einschränken will, kann recht haben, wenn er mir sinnliche
einzelne Gebete untersagt; aber dem Dichter windet er hiemit seinen Zauberstab
aus den Händen, Herzen zu rühren. Der feurigste Dank reicht an einen mäßigern
Grad von Furcht und Schrecken, und ein Dank, der weniger sinnliche als geistige
Dinge betrifft, der über Wohlthaten entspringt, die uns durch langen Genuß leider!
zu nothwendigen Gesetzen der Natur geworden zu seyn scheinen, Wohlthaten, die ihrem
Urheber so wenig kosten, die allgemein, die Folgen des Universum sind, die
mehr fortgesetzt als neu scheinen; ein Dank über diese Wohlthaten kann wohl eine
stille Demüthigung der Seele, eine tiefe andächtige Ehrerbietung veranlassen; nicht
aber den sinnlichen Aufruhr der Seele, der die erste feurige Hymnen
gleichsam hervorgährte.
Nicht wenn das menschliche Herz Gutthaten empfangen hat, wird es mit dem Feuer zum
Tempel eilen, als wenn es in Ungewißheit
[118] zwischen Furcht und Hoffnung schwimmt:
alsdenn nimmt es seine Zuflucht zu einem Mächtigern, es fleht seine Erbarmungen an.
Ein rohes Volk ist ohne Zweifel mehr in dieser Ungewißheit, da Träume und Ahndungen,
Vorboten und Unwissenheit dasselbe in Verlegenheit setzen: da ihre Verrichtungen
Krieg und Jagd, Reisen und Rauben, seine Nahrung suchen, und sein Leben erhalten,
gleichsam einem Spiel von Zufällen ausgesetzt sind, die der Sterbliche selbst
nicht vermeiden kann. Es muß also auch, wie Spieler und Schiffer und Jäger und
Krieger und unversuchte Reisende noch heute zu Tage, und alle die vom Zufall
abhangen, abergläubischer seyn, und um doch nicht ganz müßig zu bleiben, wenigstens
durch Gebete wirken wollen. Es wird also wünschen und geloben, und flehen und um
Abwendung des Bösen bitten: sehet! daher sind auch die ältesten Hymnen weniger
Danklieder gewesen, als Herausforderungsgesänge;
(κλητικοι)
Gelübde
(εὐκτικοι)
Bitten um Abwendung des Uebels
(ἀπευκτικοι)
die doch alle Hymnen genannt wurden:
so sind die meisten des Orpheus, und Proclus, die sich mit einem Anruf anfangen
und einer Bitte endigen.
Daß alle diese Bittlieder und Reinigungsgesänge so sehr mit dem Lobe ihrer Götter
beschäftigt waren, führt mich auf die dritte Bemerkung des Ursprungs ihrer Hymnen:
daß sie nichts weniger, als moralisch, sondern blos sinnlich waren. Ihre Gottheiten
waren damals noch nicht moralische Wesen; sie waren Kräfte der Natur: nicht ihre
geistige Gesinnungen, ihre Macht lehrte sie kennen, und dies war auch der
Gesichtspunkt ihrer Hymnen: sie besangen nicht den moralisch Vollkommenen,
sondern den Mächtigen (non optimum sed Maximum). Ich will es nicht weitläufig
erweisen, daß sie in ihren prächtigsten
Hymnen die Lasterthaten der Götter mit anführen: der ganze Anblick jeder Hymne
zeigt genugsam, daß das damalige Zeitalter oder die Reihe von Menschen, denen
sie in den Mund gelegt wurde, sich noch nicht bis zum Begriff der Vollkommenheit
erheben konnte! Alle ihre Gesänge ruhen auf der Folge von Schlüssen: "diese
unsichtbare Ursache ist mächtig, es muß ihr also
[119] nicht zuwider seyn, wenn man
ihre Macht preiset; es wird ihr lieb seyn, wenn man sie erhebt, so hoch man kann:
und da wir kein andres Mittel haben, diesen Mächtigen Gefälligkeiten zu thun: so
wollen wir sie ehren und loben:" eine Schlußfolge, die schon genug beweiset, wie
wenig Begriff man von der wahren göttlichen Vollkommenheit gehabt, für welcher
ein elendes menschliches Lob im Staube verschwindet, und die sich so wenig durch
Schmeicheleien lenken läßt, als durch Gebräuche. – Selbst wenn man die Wohlthätigkeit
ihrer Götter in den Hymnen pries: so war dies nichts weniger, als moralische Güte;
es war eine Handlung, um ihre Macht zu zeigen, um ihre Ehre zu retten und sich ihrer
Diener anzunehmen, oder gar um ihren Feinden zu widerstehen: es war also Ehrsucht,
Partheilichkeit, oder gar Rachbegierde, daß sie Wohlthaten erwiesen. Man gehe die
Hymnen des Alterthums durch: kein Fußstapfe dieser moralischen Vollkommenheit, kein
Gedanke durch wirkliche Tugend den Göttern ähnlich und also gefällig zu werden: ein
Preis über ihre Gewalt, Schmeichelein über ihre Wohlthätigkeit, waren die Ketten,
sie auf die Erde zu ziehen, und den ganzen Himmel in Bewegung zu setzen: die Tugend
der Götter war Stärke, Leidenschaften ihre Gesinnungen und Lob der Lohn ihrer Werke:
wie Hektor sein Pferd und der Schäfer seinen Hund lobt: priesen sie ihre Götter.
Es scheint im Anfange, daß durch diese Unsittlichkeit ihrer Religion ihre Gesänge
verloren haben, allein dies scheint blos so. Der Dichter ist weder ein theoretischer
noch praktischer Philosoph, der die Reinigkeit der Vollkommenheit sucht: er ist ein
Dichter, der rühren und Leidenschaften erregen will. Das Wahre und Moralische der
Vollkommenheiten ist für jenen ein großes Feld zu stillen Betrachtungen, es ist für
den wirklichen Verbesserer der menschlichen Herzen eine Quelle, sie den Reiz der
Tugend anbeten zu lehren, in Bewunderung sie zu erhöhen, und durch diese Bewunderung
sie selbst zu Nachahmern dieses Moralischen, und zu Dienern der Tugend umzuschaffen.
Allein diese Bewunderung ist nur kalte Empfindung, diese stille Betrachtungen sind
nicht Leidenschaften: und vielleicht also zu
[120] kalt, um ein wildes Volk in Flamme zu
setzen, zu still, um eine sinnliche Nation zu beschäftigen. Da ihre Religion nach
ihrem ganzen Zuschnitt nichts minder, als eine Lehrerin der wahren Tugend seyn
konnte, von welcher das damalige Zeitalter weder Begriff noch Wort hatte: so war
also auch das Geistige und Sittliche in ihren heiligen Gesängen nicht zu missen,
die eine ganz andre Absicht haben mußten, man betrachte den Angebeteten oder den
Anbeter. Wenn wir also auch diese Stücke drinn vermissen – sie sind ja nicht für uns
und unsre Zeit geschrieben. – Aber ich gehe noch weiter! würde dies Sittliche ihren
Gesängen wohl im Ganzen neue Schönheit gegeben haben? man betrachte genau die
damalige Zeit, und man wird Nein! antworten. Je mehr ich meinen Gott von den
Geschöpfen abstrahire, desto mehr erhebe ich ihn über die Dichtkunst, weil das
Höchste sich nicht durch ein Bild sagen läßt. Alle die geistigen hohen Eigenschaften,
die der spekulative Weltweise in Gottes Vollkommenheit findet; müssen erniedrigt
werden, um sie zu schildern, oder sie bleiben metaphysische Subtilitäten, in einem
Gedicht unausstehlich. Von Gottes Verstande muß nach der längsten Nachforschung der
Dichter sagen: er ist unbegreiflich! von seinem Willen: er ist unbegreiflich! von
seinem Namen: er ist unnennbar! und muß er nicht bei diesen Ausrüfen seine Hand und
Pinsel sinken lassen? Unsere feurigste und erhabenste Hymnen, selbst die wir den
Engeln in den Mund legen, müssen singen: ich kann dich nicht nennen! oder sie müssen
in Gott menschliche Eigenschaften, aber auf den höchsten Grad veredelt, preisen. Der
zweite Punkt einer philosophischen Religion: Gott ist der Schöpfer und Regierer einer
guten Welt, in der sich Alles nach seinen Gesetzen und dem freien Willen der Menschen
fortbewegt! ist gleichsam wiederum über die Sphäre der schöpferischen Dichtkunst.
Je mindere Arbeit die Schöpfung und die Erhaltung der Welt einer Gottheit verursacht:
desto minder kann sie der
Dichter in Handlung setzen, desto minder kann seine Einbildungskraft sich in diese
Handlung mischen; sie ist so hoch, daß sie unnennbar ist. Alles im Lauf der Welt
hat entweder seine natürliche Ursachen, oder
[121] der Weise verhüllt sich und wagt es
nicht zu sagen: "hier wirkte Gott unmittelbar! hier war ein Wunder, weil ich es
nicht erklären kann." In dem ersten Fall werden dem Dichter seine unmittelbar und
sinnlich wirksame Götter genommen, im zweiten sein sinnliches Zutrauen gemildert,
und das zu errathen verboten, was er sehen will. Endlich wenn Gott der Heiligste
und Gütigste ist, so daß er eine Nachahmung seiner Vollkommenheit als den einzigen
Weg, ihm zu gefallen und seine Güte zu genießen, setzt: so schwächt dies auf's Neue
die sinnliche Begeisterung, daß Gesänge und Dienste und Handlungen ihn unmittelbar
bewegen können. – Ich gebe es zu, daß durch diese philosophische Religion alle
geistliche Gesänge in ihren Schönheiten verfeinert worden; ich glaube aber, daß
dies Feinere dem Stärkeren entgegen gewesen, bei einem rohen Volk die Wirksamkeit
der heiligen Dichtkunst aufgehoben, und darf ich es sagen, ihren Ursprung unwahrscheinlich
gemacht hätte. Ein Volk, bei dem blos das Gesetz der Nothwendigkeit herrscht, wird nicht
auf Gesänge fallen, die ihm entbehrlich, oder in verschwindendem Grade nützlich sind:
einen unsichtbaren Gott wird es im Geist anbeten, den Höchsten und Vollkommensten
nicht zu nennen wagen, den ohne Leidenschaft Gerechten nicht durch Geschrei versöhnen,
den ohne Vorurtheil Gütigen nicht durch Schmeichelei lenken, die weisesten Gesetze des
Allmächtigen nicht durch Gesänge verdrehen wollen: es wird moralisch gut vor ihm
leben, physisch klug handeln, und höchstens vor ihn mit Dankgebeten kommen, die gewiß
nicht trunkne Poesie seyn dürften. Wäre also in diesem verdünneten Luftraum der Religion
die Poesie gekeimt? Dies müssen die Deisten beantworten, die selbst bei den ältesten
Dichtern auf die Mythologie schimpfen, und in dem Spiritus ihrer philosophischen
Religion alle sinnliche Künste wollen hervorsprießen lassen.
Allein nun setze man die ungeistige und unmoralische Religion der Heiden! – Sie
sieht Gott von innen in Leidenschaft, von
außen beständig in Handlung; und also ganz menschlich, (wenn ich den Menschen in
seinem damaligen Zeitalter der rohen Stärke
[122] nehme) Leidenschaft und Handlung ist
die Seele der Dichtkunst; Menschlichkeit in beiden gleichsam der einnehmende Körper
dazu. Ein Gott voll Zorn rächend ist in dem Gedicht selbst noch schrecklich; ich
sehe nicht blos die traurigen Handlungen, sondern die mächtige Triebfeder dazu. Da
ich diesen Gott noch nicht moralisch kenne: so muß eine sinnliche Beleidigung seine
Rache erregt haben; und durch eine sinnliche unmoralische Demüthigung vor ihm werde
ich seine Flamme der Leidenschaft wieder abkühlen. Wir wollen ihm also abbitten, ihm
Ehre erzeigen, nichts als dies kann ihn versöhnen und versöhnt ihn gewiß: mit welcher
Begeisterung mußte man also eine Hymne anstimmen, die von so vieler Gewalt über eine
blinde Leidenschaft war! Eben so ist ein Gott aus Partheilichkeit, aus Ehrsucht, aus
Erkenntlichkeit gegen die Verehrung, aus Rachsucht gegen die Feinde, wohlthätig, ein
großer Gegenstand der Hymnen. Mit welchem Zutrauen stimmte man sie an, vor einer
Gottheit, die mit ihren Anbetern gleichsam verwandt, die ihnen ihren Beistand wegen
der Verehrung schuldig war, deren Ehre bei ihrer Diener Unglück litte und bei ihrem
Glücke sich hob, die in jede öffentliche Begebenheit mit interessirt, ein Feind
ihrer Feinde und ein Schutzgott, ein Rächer und ein Vergelter ihrer Anbeter seyn
mußte. Wie feurig ward die Hymne, die ihre Götter an dies Selbstgefühl, an diese
Pflichten, die sie ihrer Ehre schuldig wären, erinnerte, sie gegen ihre Feinde in
Wuth brachte, und ihnen die Wohlfahrt ihres Volks gleichsam in's Herz schrieb! Wie
würdig ward diese Anflehung einem Gotte, der gegen keinen geringern Feind, als gegen
einen andern Gott zu streiten hatte, wo er Gelegenheit bekam, seine ganze Macht zu
zeigen, und seinen Feind zu überwinden! Wie gewiß ward also bei diesen Menschlichkeiten
der Lohn der Hymne, die ihre Angebeteten so gut zu fassen wußte! – Nun setze man statt
dieser Rachsucht, Partheilichkeit, Ehrbegierde, Geschäftigkeit; Heiligkeit, uneigennützige
Güte, und mühlose Allmacht eines Gottes über alle Nationen, eines Regierers des Ganzen,
eines Allgnugsamen: so ist dies ein Feld, das der Weltweise ausgejätet, auf dem er
betrachtungsvoll spaziert; aber
[123] der Dichter kann nicht drauf wandeln, noch weniger es
für seinen Geburtsort ausgeben.
Alles zusammen genommen, sieht man: Die heilige
Dichtkunst sproßte auf dem Boden der rohen Denkart, unter dem Schatten der Unwissenheit,
von Furcht und Hoffnung hervorgetrieben: sie malte Handlungen, sollte von bösen
Schicksalen retten, und durch Schmeichelei Glück gewinnen: ein Ursprung, der dem
Anfange der Völker, der Geschichte des menschlichen Verstandes, und der Mehrheit
der Fälle gemäß ist.
Hier muß ich die älteste Hymnendichter gegen eine Menge Schriftsteller vertheidigen,
die ohne genugsame Kenntniß der menschlichen Natur, der alten Zeiten, und am meisten
ohne alles Gefühl für poetische Schönheit über sie haben urtheilen wollen. Entweder
aus theologischem oder historischen Eifer hat man auf sie gelästert, einestheils,
daß sie die Herrlichkeit Gottes so erniedrigt, anderntheils, daß sie die erste
Geschichte der Welt in so viel Fabeln verhüllet haben. Ich eifre über die Sache
selbst mit: denn freilich pflanzten sie Aberglauben auf viele Geschlechter nach
ihnen, und setzten die angenehmste und nothwendigste Periode der Geschichte in
eine undurchdringliche Dunkelheit: ein doppelter und wichtiger Schade für das
menschliche Geschlecht.
Aber wider die Personen mag ich nicht eifern, und ihnen zu Bewegungsgründen
ihrer poetischen Gebete, Eitelkeit, die Sucht zu glänzen, die Begierde, was mehr,
als ungeschmückte Wahrheit zu sagen, ihre studirte Kunst zu zeigen, die niedrigste
Schmeichelei einzuernten, schuld geben. Unter vielen Andern, die diese Vorwürfe
auf die Erfinder der Götter-Fabeln gewälzt, führe ich blos Banier an, weil sein
Uebersetzer in den alten Reisebeschreibungen seine Gründe dadurch zu verstärken
glaubte, daß er diese Anschuldigungen grob und pöbelhaft übersetzte. Ich für
meine Person könnte diese Eitelkeit weit eher den Ausschmückern, als den Erfindern
der Fabeln beilegen, ich kann aus ihr wohl den Ursprung der spätern Mythologie
erklären; aber den Ursprung der ältesten heidnischen Religion
[124] (da sie noch nicht
Lehrgebäude war) mit Mühe. Ich muß schon die Wahrheit selbst haben, wenn ich sie
lügenhaft verbergen will: der menschliche Geist müßte, wie ein extrafeiner
französischer
Kopf vielleicht aus Erfahrung weiß, eine Sympathie mit der Lüge haben, wenn er
nie eine Wahrheit ohne Fabel, wohl aber eine Fabel ohne Wahrheit annehmen wollte:
und dann haben sie auch nicht bedacht, ob man immer wollen darf; ob man
nicht öfter muß.
Nehmt einem Menschen das Glück, durch eine höhere Offenbarung über seine Sphäre
der Blindheit erhaben zu seyn: lasset ihm blos seine natürliche, rohe Talente,
und Empfindungen; setzet euch selbst in diesen Zustand, doch so daß ihr nicht
blos die erlangte Kenntnisse, sondern auch den höhern Grad Bildung ableget, den
diese Kenntnisse bei euch gewirkt haben: in dieser Nacktheit tretet von eurer
Höhe zu einem ungebildeten Volk: und ihr werdet eben so ungeläuterte Begriffe
als sie haben. Warum gebt ihr ihnen, oft ohne Beweis, das Wort Tradition zu;
blos um sie züchtigen zu können.
Was ist's denn Unerhörtes, daß ein Volk zwischen Furcht und Hoffnung, von Sorge
und Bekümmerniß umhergejagt, jedem in die Arme läuft, das es antrifft, daß es,
da Alles ihm noch bis auf einen gewissen Grad unbekannt ist, da es bei den
wenigsten Gegenständen noch das Verhältniß auf sie selbst kennen gelernt: da es
noch lange nicht das Was? und Wie? entdecket hat, sich bei dem Woher? irret. Was
ist's denn Unwahrscheinliches, daß man bei den nächsten Ursachen stehen bleibt,
wenn man noch nicht Schärfe genug hat, Entfernte zu erblicken? daß man, da zehn
gute und zehn schlechte Zufälle sich begegnen, sich oft aufheben, und unwirksam
machen, auch zehn gute und zehn böse Ursachen anflehet, weil man noch nicht Fähigkeit
genug hat, diese Wirkungen zu vergleichen, und auf eine Hauptursache zurückzuführen?
Lügt man denn, damit man doch etwas sage; oder muß man nicht etwas sagen, selbst
wenn man lügen sollte? Wenn ich etwas nothwendig habe: so nehme ich, was mir am
nächsten zur Hand ist, wenn es nur zu meinem Zwecke dienet:
[125] so ging es mit ihren
sinnlichen und polynomischen Hymnen! Schrieben sie sie denn für uns? Und daß wir
darin Wahrheit und Geschichte suchen sollten? Und wenn sie auch der poetischen
Rührung Wahrheit und Geschichte aufgeopfert hätten, thaten sie es denn, blos um
sie aufzuopfern? Sie sagten die Wahrheit nicht, weil sie
ein andres Gesetz hatten; die spätere Mythologie, die die Geschichte verdarb,
sagte nicht blos keine Wahrheit, sondern Unwahrheit! –
"Aber daß ihre Hymnen so unmoralisch waren?" ich habe es schon gesagt, weil sie
ihre Götter der ersten Bekanntschaft nach, blos als Mächtige und nicht weiter kannten!
"Aber sie hätten doch mit Gott die höchste Moralität verknüpfen sollen, wer wird an
Eins denken, ohne das Andre?" Freilich nennen wir das höchste Moralische göttlich,
und Gott also den höchsten Moralischen; aber jene kannten weder Gott, noch wirkliche
Moralität. "So waren sie Atheisten, und Gottlose?" Wenn wir den hohen Begriff
unsers Gottes und der Moralität, die er fodert, zum Maasstabe nehmen, allerdings!
Alsdenn sind ihre Götter und Tugend nichts! Aber so wie sie die Wörter nahmen,
waren ihre Götter doch wenigstens wirksame Dämonen, man nenne sie Feldteufel,
Poltergeister, oder wie man will – und die Tugend war nach ihrer Höhe in
Denkungs- und Lebensart, Heldentapferkeit, Macht und menschliches Gefühl;
diese legten sie den Göttern bei, und suchten sie anzunehmen, um den Göttern
ähnlich zu seyn; mehr forderte ihre Denk- und Lebensart nicht. Die damalige
Hymnen waren also blos weniger moralisch, wenn wir schon den fremden Maasstab
unsrer Zeit annehmen sollen; tugendhaft nach ihrer Art waren sie; aber wenn
die spätere Hymnen ihren Göttern unmittelbar Laster beilegen, wenn sie der
poetischen Schönheit die Tugend nicht blos aufopfern, sondern gar das Abscheuliche
mit diesem Schmucke behangen: so würde ich dies nicht anders als aus der
Zusammenmischung von Geschichte mit der alten reinern Mythologie entschuldigen,
und an sich immer für schädlich halten.
Allein den ältern Hymnen getraue ich in Betracht dieser weniger moralischen
und bloßen Heldentugend noch einen größern Grad von
[126] Nützlichkeit nach dem
damaligen Zeitalter beizulegen. Da die Tugend ihrer Götter nicht über ihre
Kräfte erhöhet, und ihrer Lebensart gemäß war: so fühlten sie desto mehr Muth
und Gelegenheit, den Göttern gleich zu werden. Den Nothleidenden, Flehenden
beizustehen, gastfrei und patriotisch, voll Gefühl der Ehre und des Mitleids,
voll Bestreben nach
großen Thaten zu seyn, und in diesem Bestreben den höchsten Grad der Wirksamkeit
zu erreichen, war göttliche Tugend, ward in ihren Hymnen gesungen, und also zur
Nachfolge vorgestellt. Eine Tugend, die sie weit leichter erreichen konnten,
als Reinigkeit der Seele, Zähmung der Affekten, und unbefleckter Wandel: die
in ihrem Zeitalter weit nöthiger und brauchbarer war, als Demuth, Bescheidenheit,
Mäßigkeit und Geduld; Namen, die in schwächern Perioden der menschlichen Natur
gelten und herrschen. – Und was können wir von Hymnen mehr fordern, als daß sie
die Tugend ihres Zeitalters, die Tugend, die sich am stärksten singen läßt,
singen! Aber freilich! weil sie auch mit starken Leidenschaften, Rachsucht,
Partheilichkeit, Ehrgeiz und Grausamkeit verwandt war: so muß man sie auf keiner
Schale, als der damaligen Stufe der Kultur, und mit keinen andern Gewichten,
als der politischen und poetischen Tugend abwägen.
Jetzt wollen wir Beispiele anführen, daß diese Geschichte des Ursprunges der
Hymnen den meisten Völkern gemein gewesen sey: so viel wir durch eine Spalte
in das Unermeßliche ihres Anfanges sehen können. Bei einem Volke müssen wir
doch den Anfang der Kenntnisse suchen, und die Religion zeigt uns hier auf
das Jüdische, so wie es schon der Geschichte nach ein Morgenländisches seyn
muß. Da bei diesem Volk die natürliche Bedürfniß immer durch göttliche
Unterweisung ausgefüllet wurde: so dürfen wir bei ihm eine Ausnahme in dem
Ursprunge der Dichtkunst machen, selbst wenn man denselben blos natürlich
betrachtet. Er kann in historischen Liedern, in Tänzen der Freude, in
Hirtenliedern oder Dankpsalmen
be[127]standen haben; jene gehören in meine
künftige Betrachtung, und wenn ich das Letzte annehme: so finde ich folgendes
Bemerkbare:
Wir haben von dem Ursprunge der hebräischen Dichtkunst nicht das geringste Ueberbleibsel in dieser Art, weil der Lobgesang Moses am rothen Meer das erste in dieser Gattung, aber offenbar schon aus dem goldnen Zeitalter der Poesie ist: wir müssen also aus dem spätern Gebrauch auf den frühern Anfang schließen.
Ich nehme es an, daß den Patriarchen die übernatürliche
Schöpfung bekannt war, weil die Väter dies auf die Kinder fortpflanzten,
und da sie also im Adel der Begriffe von Gott unendlich weit über den Heiden
stehen: so müssen ihre erstere Loblieder einen großen Vorzug haben, da sie
den Einzigen, Allmächtigen, Weisen und Gütigen über sein Werk, wodurch er
erkannt seyn will, über die Schöpfung priesen: da sie seine geistige
Vollkommenheiten, wenn gleich in Bildern, dennoch reiner sangen, und ihr
moralisches Verhältniß gegen ihn, obgleich nach ihrer damaligen Natureinfalt,
ausdrückten.
So mag eine Hymne der Patriarchen gewesen seyn: voll erhabner Ehrfurcht,
wenn sie an Gott dachten, statt der sinnlichen Leidenschaft der heidnischen
Götter, womit sie auf Kosten des Gottanständigen rührten: voll Betrachtung
der Natur, statt voll von heidnischen Götterthaten: voll Dank und stiller
Frömmigkeit, statt des heidnischen Angstgeschrei's und der sinnlichen Schmeicheleien.
– Vielleicht würde ich aus diesem Ursprunge den Unterschied der orientalischen
Hymnen erklären können, daß sie auch in der spätern Zeit voll hoher abgebrochner
Ausrüfe: voll Naturbilder, und voll sanfterer Affekten geblieben sind, weil bei
ihrem Ursprung Ehrfurcht, Bewunderung Gottes aus seinen Geschöpfen, und Dank sie
hervorgebracht hätten. Aber ich halte diese Erklärung späterer Lobgesänge zu
entfernt: weil ich, was den Ursprung anbetrifft, folgende Einschränkungen
beifügen muß.
[128] Zuerst: Die übernatürliche Mittheilung der Kenntnisse an sie, muß man nicht
blos nach der Vollkommenheit des Mittheilenden, sondern nach der Fähigkeit
des Empfangenden beurtheilen. Wenn man blos aus der Vollkommenheit Gottes,
als des Allwissenden, Allgütigen und Allmächtigen schließen will, was er
durch seine Offenbarung gleich alles entdeckt habe: so muß der Mensch, der
seine Offenbarung genießt, beinahe selbst ein Allwisser werden, und man hat
gleichsam der Macht und Güte Gottes keine Gränzen zu setzen. So bildet man
sich die ersten Patriarchen, und Adam insonderheit mit den reichsten
Kenntnissen, als Pansophen; als Theologen, als Naturkenner, als ascetische
Frömmlinge, wenn man mir dies Wort erlaubt. Dem Adam legt man die
prächtigste Hymne in den Mund; den Patriarchen von Abel und Seth bis Noah,
von Noah bis Jacob überall hohe Lobgesänge in den Mund, die nur zu oft nach
einem neuern Kompendio schmecken. Man glaube nicht, daß ich hiemit auf Milton
stichle, der Adam eine Hymne singen läßt, noch auf die Schweizer, die solche
Gesänge dem Abel, Elihu und seinen Brüdern in den Mund legen: denn Dichter
erheben jede Person ihrer Epopee zu einem Glanze, der dem ganzen Idealgemälde
gemäß ist, das sie nach den Augen und dem Geschmack ihrer Zeit entwerfen. Die
Regel, der Zeit und den Charakteren, die man schildert, treu zu bleiben, steht
unter einer andern Hauptregel: ein schönes und würdiges episches Ganze zu liefern:
und da diese Schönheit und Würde nach dem Grade des Geschmacks bestimmt wird;
der in der Zeit herrscht, für die man schreibt: so kann dies schon Ursache genug
für den Dichter seyn, sich den gemeinen Begriffen zu bequemen, seine Maschinen
in Kleidern zu zeigen, in denen man sie erwartet, wenn diese Kleider insonderheit
poetische Dekoration seyn können. Ein Geßner und Klopstock haben über ihren epischen
Adam so viel Gewalt, als Buffon über seinen philosophischen Adam, in welchem sich
die Sinne entwickeln.
Aber bei Untersuchern der Wahrheit klingt nach meinem Ohr diese Sprache fremde: "Kaum war der Mensch aus den Händen [129] seines Schöpfers gekommen, so bewunderte er das erstaunende Weltgebäude, welches die Güte und Herrlichkeit des Schöpfers verkündigt. Er nimmt die Stimme zu Hülfe – eine gemeine und niedrige Sprache würde sich zu diesem Ausguß des Herzens wenig reimen. – – – Der Mensch macht seine allerlebhaftesten Bilder, seine kühnsten Ausdrücke aus den Reichthümern der Natur. Er gibt den Wörtern Klang und Wohllaut: so ist der Ursprung der Dichtkunst." Ein Ursprung, der an sich schon der Natur der menschlichen Rührung zuwider ist, da auf das Starren Staunen, auf's Staunen Furcht, auf die Furcht sehr spät Bewunderung, auf die Bewunderung Betrachtung der Gegenstände folgt – an die Ursache, an die Bewunderung, an die Anbetung, an den Dank gegen sie, ist spät zu denken.
Ein andrer Ton-, aber nicht Wortverständiger Schriftsteller hat eine ganze Abhandlung dazu verdorben, daß Musik und Poesie schon in Adam gewohnt; daß dieser bei seiner Entstehung so gedankenvoll gewesen, daß er die Musik der Vögel nicht gehört, bis er selbst in einen prächtigen Lobgesang ausgebrochen: er beweiset dies aus zehn Zeugnissen, die nichts beweisen, und gibt sich so viel Mühe, diesen Adamischen Gesang zu bestimmen, daß er fast sein q.e.d. herunterschreiben, und ihn komponiren kann. Wenn ich die Menge Abentheuer indessen betrachte, welche eine Schaar Rabbinen und rabbinisirender Christen ihrem Adam zuschreiben: so ist gewiß diese prächtige Hymne noch am ehesten zu glauben, die ich schon bei allen jüdischen und christlichen Geschichten der Dichtkunst zu finden gewohnt bin.
Sobald ich den Allmächtigen und Allweisen mit einem Menschen zusammensetze,
dessen Fähigkeiten er sich bequemet: so werde ich eine Laufbahn gewahr, in
die sich seine Unterweisung herablässet. Sie führt ihren Schüler von dem
Einfachen zu dem Zusammengesetzten, von dem Sinnlichen zu dem immer Geistigern,
und eine jede gut angewandte Kenntniß wird mit einer höhern belohnet. Dieser
allgemeine Weg der Haushaltung Gottes muß uns in einem Zeitraume auch zum
Leitpfade dienen, wo wir sonst jeden Fußtritt irren müssen; denn es ist ja
bekannt genug, daß
[130] Moses von allen den Wundergaben des Adam's nicht ein Wort
gedenkt, die seine Geschichte eher widerlegt, und die meistens aus übelverstandnen
Ausdrücken geschöpft sind. Er, der Adam's Worte zu Eva anführte, würde vielleicht
die würdigere Nachricht, von einer Hymne, nicht vergessen haben.
Doch es ist schwer, aus dem, was ein Schriftsteller geschrieben, auf das zu schließen, was er nicht würde ausgelassen haben: lasset uns Adam selbst auftreten lassen, wie Moses ihn schildert. Ein Mann, nach dem Bilde Gottes gemacht, unschuldig, und ohne alle Fehler, weise, mit den Talenten, Alles zu fassen, was ihm gut seyn könnte, wird in die Welt gesetzt, und Gott übernimmt es selbst durch seinen Umgang und Offenbarung seinen Mängeln zu Hülfe zu kommen, ihn zu unterrichten, und ihm die Reihe von Kenntnissen und Erfindungen leicht und angenehm durchlaufen zu lehren, die ihm nöthig waren. Er gibt ihm die Fähigkeit und nächste Anlage zur Sprache, läßt aber seiner Denkart und Zunge freien Lauf, sich dieselbe zu bilden; er gibt ihm blos durch die Zuführung der Thiere Gelegenheit, sich ein Lexicon von sinnlichen Namen zu erfinden, von welchem Moses bei der Anblickung Evens eine Probe anführet. Er ist selbst sein Lehrer in den Gesetzen und gibt ihm den Baum der Weisheit zur Prüfung, ob er sich würde bezwingen, und Gutes vom Bösen unterscheiden lernen – die erste kleine Probe, die er von seiner Weisheit ablegen, und die ihm den Zutritt zu höhern Stufen verschaffen sollte. Und noch vor aller dieser Unterweisung, kaum, da sich der Erdenkloß bildete, und zur lebenden Seele ward – noch kaum von der Hand Gottes ergriffen, auf der ersten Stufe des Lebens in einer unausgebildeten Sprache, mit halbentwickelten Sinnen, noch nicht durch die Erscheinung Gottes zum ersten Denken gleichsam eingeweihet, stieg er bis zum höchsten Gebrauch der Vernunft, der Sinne, der Einbildungskraft, der Sprache, der Töne! sehet! er erhebt sich, die prächtigste Hymne zu singen! Ein Mensch, wie er, dem nicht blos Fähigkeiten, sondern Fertigkeiten anerschaffen sind, bedarf der alsdann wohl noch der Handleitung, des bildenden Umgangs Gottes? [131] Wie sehr widerspricht diese anerschaffne Fertigkeit jeder Handlung Gottes und leider! jeder Handlung des Menschen, der nothwendig nachher in seiner Kultur zurückgegangen seyn müßte.
Die beiden Begriffe selbst, anerschaffne Fertigkeit widersprechen sich, und
hingegen ist nichts natürlicher, als sich Adam als einen Mann voll Unschuld und
mit den größten Fähigkeiten zu gedenken, der unter der Begleitung Gottes den Weg
der Natur gehen sollte, sich immer mehr auszubilden, und sich ausser den sinnlichen
Segnungen, zu denen er damals allein fähig war, (sich zu mehren, und die Welt zu
genießen) noch höhere zu erwerben. Selbst da nach mißlungner erster Probe sich
seine ganze Laufbahn verschlimmert hatte: stand Gott ihm nach mit Rath bei, um
seinen Bedürfnissen aufzuhelfen: übrigens hatte er sich selbst des weitern Umgangs
verlustig gemacht, und mußte jetzt für die sinnlichste Bedürfnisse selbst sorgen:
der Unterricht war abgebrochen, und Adams eigner Beschäftigung blieb der Rest den
gelernten Anfang auszubilden, überlassen: hier gehörte jetzt Zeit
dazu, bis sich seine Sprache, seine Einbildungskraft und Denkart zum völligen
Lobgesange erheben konnte. Eine Höhe, die wenigstens eine ausgebildete sinnliche
Denkart voraussetzt.
Wir haben uns durch diese lange Ausschweifung einen Weg bahnen müssen, "um über den Fortgang des menschlichen Verstandes, nach dem Gange der Natur urtheilen zu können, so daß Gott nur durch ausserordentliche Erscheinungen ihrem Mangel zu Hülfe kam" und es folgt aus diesem Grundsatze sogleich:
"Daß sie Gott auch gleichsam nur mit sinnlichen Augen angesehen, daß sie sich seiner vorzüglich bei den Schicksalen der Welt, und am meisten bei traurigen Schicksalen erinnert, und daß ihre Verehrung auch blos der Stufe ihrer Denkart gemäß habe seyn können."
Sie sahen Gott mit sinnlichen Augen. Da er vermuthlich den Patriarchen in der
Hülle der Schechinach erschien; da sie den Cherub mit seinem flammenden
Schwerte, d.i. das Donnerwetter mit dem fürchterlichen Blitz vor der Gegend
Eden gelagert sahen: da die Gegend der Erscheinung Gottes Jehovahs Angesicht
hieß,
[132] von welchem Kain vertrieben wurde; so waren sie Gott als den Herrn des
Himmels zu sehen gewohnt, und einen nähern Begriff von seiner geistigen
Vollkommenheit müssen sie aus unmittelbarem Unterricht geschöpft haben,
wovon wir aber keine Nachricht finden. – Die Sprache an Gott war also
natürlicherweise auch sinnlich: wenn sie sich gegen diesen Ort der Gegenwart
Gottes kehrten, wenn ihnen die Herrlichkeit des Herrn vor Augen schwebte,
wenn sie bei Abkühlung des Tages im Donner die wandelnde Stimme des Herrn
hörten: so war dies ihnen gleichsam der gegenwärtige Gott: sie sahen und
empfanden ihn mit heiligem Schauder: sie dachten ihn nicht blos mit stillen
geistigen Gedanken.
Durch diese sinnliche Denkart, und durch die sichtbare Erscheinung Gottes
gewöhnt, sahen sie ihn überall in den Veränderungen der Natur. Wenn Kain's
Acker nicht trug: so sahe er die Ungnade dessen, dem er geopfert; wenn er
seinen Bruder erwürget: so mußte die Erde, die unschuldiges Blut getrunken,
auch vergeblichen Schweiß trinken, und ihren Schoos verschließen; wenn Adam
sein Brot im Schweiß des Angesichts aß, und
Dornen und Disteln einerntete; wenn Eva mit Schmerzen Kinder gebar: so sahen
sie den Fluch des Herrn: jede einzelne Begebenheit der Natur leiteten sie
von dem Jehovah her, vor dem sie lebten. Da aber mehr widrige als glückliche
Zufälle ihnen aufstießen, da sie bei jedem unangenehmen Schicksal am meisten
Ursache hatten an den Rächer zu denken: so war ihnen Gott furchtbar, ein Gott
des Donners, und des Feuers, der in alle Elemente den Fluch legen könnte. Sie
brachten ihm dem Wohlthäter also Feldfrüchte und Milch zum Opfer, um ihm das
Beste, was sie hatten, zu schenken: aber bald auch das Blut der Thiere, um
ihn zu versöhnen: ein sinnlicher Gottesdienst, der mehr als Ehrfurcht
bezeigen, der durch die Ehrfurcht ein gnädiges Anschauen Gottes wirken
sollte, und ohnmöglich war dieser allein ein Mittel dazu. Die Noth gab
Gesänge ein; in denen sie Gottes Macht lobeten, um sie nicht gegen sich
zu haben. Daß meistens Furcht und heilige Ehrerbietung die Verhältniß gewesen,
in welcher sie gegen Gott standen,
[133] sollte vielleicht durch die Worte durchscheinen:
zu Enos' Zeiten nannte man sich mit dem Namen des Herrn: Henoch wandelte mit Gott:
selbst Abraham wandelte vor den Augen des Verderbers, und war unbefleckt: dies war
der älteste Gottesdienst in der Welt, der uns auch mit einem stillen
Erzittern durchdringet.
Man gebe mir nicht Schuld, daß ich den Menschen das Anschauen Gottes aus der
Schöpfung raube: denn ich weiß wohl, daß Gott dazu den siebenten Tag geheiligt
hatte, damit die Väter das Andenken des Schöpfers auf ihre Kinder fortpflanzten.
Durch diese nahe Tradition hatten sie unendlich vor allen Heiden zum Voraus;
aber da man sich doch nicht Naturkenner in ihnen vorstellen wird, die schon
alle Gegenstände mit reichen Betrachtungen ansahen; sondern da sehr viel
Erfahrung dazu gehörte, um mit den Dingen der Natur bekannt zu werden, die
einem schwachen Geschöpf natürliche Furcht abzulegen, den Gebrauch, die
Uebereinstimmung, die Vortrefflichkeit, und nach allem erst die Schönheit
der Dinge zu erkennen: so bleibt noch immer das Gesetz bei ihnen: fürchterliche
Begebenheiten machen den größten Eindruck bei Unwissenden. Die Mühseligkeiten
des Lebens, daß sie Tröster auf der verfluchten Erde nöthig
hatten, haben ohne Zweifel mehr in sie gewirkt, als die Begriffe der Schönheit,
von denen der sinnliche Mensch noch nichts weiß, die die spätesten in der Reihe
der Ideen, die nicht eine Folge von Erfahrung, von Nutzen, sondern von einem
stillen prüfenden Geschmack sind. Wer will es nun leugnen, daß Erfahrungen und
bloßer Nutzgebrauch der Dinge lange vorhergehen muß, ehe man ihre Schönheit
und Vollkommenheit kennet – und ich darf also den Schluß hieraus ziehen, daß
ihre Lobgesänge Gott immer mehr als den Mächtigen, als den Nützenden und
Strafenden in den Wirkungen der Natur werden gepriesen haben, als daß sie
ihn aus der Natur als Schöpfer abstrahirten, seine geistige Eigenschaften
priesen, und ihn sich als den Allgenugsamen, Vollkommenen gedachten. Das
zweite Verhältniß war Tradition; das erste lebende Erfahrung; welches wird
das andre überwiegen?
[134] Da man also mehr mit den Dingen der Natur bekannt wurde, da man die
Eigenschaften des Donners und der Erde näher einsahe, oder ihrer gewohnter
ward: da durch die Erfindungen z.E. des Thubalkain's, die Mühseligkeiten
des Lebens vermindert wurden: da sank dies Andenken an den Rächenden und
Nützenden in der Natur: man versüßte sich das Leben, und siehe da! Gott
mußte das Urtheil fällen: sie sind Fleisch (die mich vergessen und leben,
wie das Vieh) ich mag nicht mehr mit ihnen streiten: wohlan! der Untergang
dieses Fleisches ist beschlossen: hier sehen wir den Gott, der durch widrige
Begebenheiten der Natur mit ihnen stritt, und über sie richtete; allein sie
entliefen seiner Richterstrafe, und verdarben ihren Weg. Sie ersannen sich
Naturursachen, und dachten auf Mittel, dieselben sich unschädlich zu machen,
und Gott gleichsam nicht nöthig zu haben; so war ihr Nachsinnen und ihre
Anschläge nur böse von Jugend auf. Es entstanden Abfällige, die durch Erfindungen
und Wunderthaten Männer von großem Namen und gleichsam Götter der Welt wurden:
Gewaltthätigkeit hatte überhand genommen: Gott war in ihrem Herzen vergessen:
es gereuete ihn also der Schöpfung; es kränkte ihn in seinem Herzen, daß
er nicht verehret würde: er beschloß zu verderben. Ueberall erscheinen hier
die einfachsten Bilder von einem sinnlichen Alter der Welt, in welchem man
sich
Gott nach seinem Einfluß in das Glück und Unglück als den Mächtigen denkt,
und selbst der heilige Schreiber bequemt sich dem Charakter dieser Zeit,
und schildert Gott als einen Mächtigen, der darüber eifert, daß man seine
Macht nicht erkennet und fürchtet: der auf Noah mit gnädigen Augen sieht,
und sich über ihn freuet, weil er ohne Gewaltthätigkeit, ohne Befleckung
mit ungeweihten Dingen, das Andenken von ihm seinen Zeiten unterhielt. Ueberall
erblicken wir Spuren von einer sinnlichen Verehrung, die der Unschuld der
damaligen Zeit gemäß war.
Aus alle diesem schließe ich, daß vor der Sündfluth das Geschlecht Gottes auch
Lobgesänge gehabt haben muß, die sein Andenken fortpflanzten, die bei den
Opfern und ihren Ruhetagen
er[135]schallten. Und wie waren diese beschaffen: sie
sangen Gott als den Schöpfer der Welt, als den Herrn der Elemente, als den
Erzürnten und Versöhnten, als den Wohlthäter und Rächer in der Natur, der
auf der Erde verehrt, mit unbefleckten Händen und stiller Seele verehrt seyn
wollte, ohne die wilde Gewaltthätigkeit, die ihn vergißt und beleidigt: lauter
sinnliche Gegenstände, die in ihrer bildervollen einfachen Sprache schon eine
natürliche Poesie hervorbringen mußten. Ich habe mich so lange in dieser
unbekannten Gegend jenseit der Strafgewässer aufgehalten, und blos dem Leitfaden
des Moses gefolget. Wenn ich auch mit meiner Erzählung es kaum hoffen darf,
die vielen rabbinischen Fabeln zu zernichten, die so oft die Erklärungsart der
Christen bestimmen, und die diese dunkle Zeit uns in einem so neumodischen
Bilde malen, daß Moses das lange nicht mehr sagt, was er wirklich sagt; so
hoffe ich auch, daß man meine Meinung blos als eine philologische Hypothese
ansehen, und aus ihr keine Folgerungen erzwingen wird, die ich verbitte. So
wie ich diese Geschichte blos in dem Gesichtspunkt einer sinnlichen alten
Erzählung betrachte, die sich nach der bildlichen und (man erlaube mir den
Ausdruck) poetischen Denkart richtet, welche der Zeit, für die man schilderte,
und der Zeit, welche man schilderte, (vielleicht waren beide nicht sehr verschieden)
eigen war: so kann ich als philologischer und poetischer Ausleger meine Meinung sagen.
So wenig es hier aber meines Orts und Zwecks wäre, andre Ausleger zu widerlegen,
die diesen poetischen Gesichtspunkt ganz aus den Augen gelassen, und diese historische Stücke der
ältesten Zeit so bearbeitet, als wären sie zu Luther's Zeit geschrieben: so wenig
dies hier meines Orts und Zwecks ist: so sehr verbitte ich mir auch, aus diesem
Gehege einer Geschichte der Dichtkunst in andre Gegenden gerissen zu werden,
denen ich hiemit nicht zu nahe trete.
Vielleicht wird man mir einwerfen, ich betrachte einen Zeitraum von mehr als
tausend Jahren, nach der Länge der zwei Kapitel, die ihnen Moses schenkt,
da ich ihren Fortgang des Geistes
[136] so langsam schildere. Und ich antworte,
daß ich diesen unstreitigen Fehler eben zu vermeiden suche, weil er mir bei
vielen Auslegern anstößig gewesen, die diesen Zeitpunkt nach der Länge betrachten,
die er in ihrem Auszuge der Kirchengeschichte einnimmt. "Der menschliche
Verstand hatte in dem großen Zeitraum von mehr, als anderthalb tausend Jahren
vor der Sündfluth zu allen nützlichen Erfindungen Zeit genug; und die tägliche
Beschäftigung der ersten Menschen mit der Natur, ihre Aufmerksamkeit auf dieselbe,
ihre simple Lebensart, ihre muntre Gesundheit und ihr längres Leben, mußten sie,
so weit ihre Sinne reichten, in Erforschung der Natur nothwendig noch schneller
fortgehen lassen, als wir thun, die wir durch so viele Zerstreuungen, Vorurtheile
und falsche Systeme beständig aufgehalten werden. Der Zeitraum von so viel hundert
Jahren war demnach auch zur Erfindung der Metalle, der musikalischen Instrumente
und andrer Künste vollkommen hinreichend." Aber eben diese tägliche Beschäftigung
der Menschen mit der Natur, ihre sinnliche Aufmerksamkeit auf dieselbe, und ihre
simple Lebensart mußte einen voreiligen Fortgang der Vernunft bei ihnen verhindern.
Mit ihren Gedanken dem Boden treu, der sie nährte, in ihrer Einbildungskraft mit
dem Gott umgeben, der ihren Augen erschien, eingeschränkt in die unschuldigen
Vergnügungen der Sinne, mit ihrer Erfindungskraft allein mit nützlichen Entdeckungen
beschäftigt: konnte freilich ihre Vernunft sich nicht in's Reich der Ideen erheben,
konnte freilich ihr innerer geistiger Sinn nicht die Sprache des Körpers überschreien.
Man muß sich von einer solchen sinnlichen Nation nicht so ein häßliches Bild malen,
als man es auch noch von einigen
unserer Zeit sich macht. Je langsamer, desto sicherer waren die Fortschritte ihres
Geistes: je minder ihre Vernunft, desto mehr war ihr guter Verstand ausgebildet:
ihre Einbildungskraft lebte: ihre Sinnen waren munter, und genau: ihr sinnlicher
Scharfsinn, ihre Erfindungskraft blühete: ihre Sprache malete und sang: kurz eben
eine sinnliche Nation von diesem Charakter lebet in dem Zeitalter der Dichtkunst,
je minder sie das Jahrhundert der Philosophie erreicht. Eine
bild[137]liche, typische
Religion, die diesem Volk eigen ist, enthält den Samen zu den prächtigsten heiligen
Gedichten, wenn man nur dies Prächtige, dies Heilige, dies Dichterische nicht nach
einem fremden Maasstabe mißt, und in der Pracht Regelmäßigkeit, in dem rührenden
Heiligen trockne Wahrheit, und in der Dichterei spielende Kunst sucht. Ich nehme
also Elihu's, und heilige Dichter an, nur sie singen nicht, wie wir, in ihren
Hymnen.
Man kann mir zwar noch einwerfen, daß Moses sich der Kultur seiner Zeit bequeme;
daß einige Ausdrücke, Sitten und Bilder aegyptisch sind, und daß man vor der Sündfluth
geschriebne Schriften haben müßte, um die Höhe ihrer Denkart gleichsam zu messen.
Auf den ersten Zweifel antworte ich: Ja! und glaube wohl, daß Moses bei der
Beschreibung der ersten Zeit gewisse Worte anticipirt hat, die erst später üblich
geworden. Er hat dies vielleicht thun müssen, um seinem Zeitalter verständlich zu
werden, dessen Sprache und Denkart sich freilich anders ausdrückte. Allein dies
ist nichts als ein Vielleicht, weil wir die ältere Zeit blos aus Moses kennen,
und noch Niemand tüchtige Beweise angeführt hat, daß z.E. der Sabbat, der Name
Jehovah u. dgl. anticipirt sey: und wenn Moses sich seiner Zeit auch bequemte,
um verständlich zu seyn; in den Redensarten, die eigentlich Sitten und Charakter
einer Zeit schildern, erwartet man selbst von dem historischen Dichter nicht einen
Zeitgeschmack: sondern ein Bild nach der Wahrheit, und eben in dieser Schilderung,
die den Kern der Geschichte ausmacht, haben wir uns seiner Worte bedient. Aegyptische
Bilder finde ich in ihr nicht: denn das Wandeln vor Gott, seinen Augen gefallen,
u. dgl. lässet sich eher aus dem Ort der Erscheinung Gottes, und aus günstigen
Naturbegebenheiten, als aus aegyptischen Hieroglyphen erklären;
das Uebrige, was man für aegyptisch ausgibt, gehört nicht zur
Denkart der Zeit. Ueberhaupt, wenn allein Schriften aus demselben Zeitraum ein
gewisses Bild desselben sind: so habe ich vor meinem Gegner, der gar nichts für sich hat,
noch immer etwas Großes zum Voraus: – die Analogie der Natur!
[138] Den ganzen Faden dieses sinnlichen Zeitalters bricht die Sündfluth, und wenn gleich mit
Noah freilich die heilige Muse in die Arche gestiegen seyn, und mit ihm gesungen
haben mag: so mußte die Sündfluth doch immer für die Erfindungen, für Künste, und
den Anfang der Wissenschaften fatal seyn. Acht Personen wird alles Das in die
Hand gegeben, was einige hundert Hände beschäftigt: sie sollen alles Das in
eine neue Welt überbringen, was in der alten erfunden war? Ohnmöglich! denn so
wenig als ich, wenn ich sogleich auf eine wüste Insel verbannt würde, den
Gebrauch aller Künste auf dieselbe nehmen, und einführen könnte: so wenig
haben acht Personen die ganze Welt der Erfindungen erhalten können. Man wende mir
nicht ein, daß der allmächtige Erhalter dieses Geschlechts auch mit ihnen die
Produkte des menschlichen Geistes hat retten können; ohne eine Reihe von Wundern
war dies so unmöglich, als die ganze Schöpfung unschuldiger Lebendigen in einem
Kasten zu erhalten. Von jedem reinen Thiergeschlecht sieben; von den übrigen
Hauptgattungen ein Paar; das Uebrige mußte ersaufen. – Eben so, von dem, was
zur Verehrung des Rächers und Erhalters gehörte, sieben, und von jedem
Uebrigen Eine Erfindung wurde erhalten – das Uebrige ging in dem Wasser unter:
denn wie viel Erfindungen werden dem frommen Geschlecht völlig unbekannt
gewesen seyn, das abgesondert, still, treu den Bedürfnissen der Natur lebte,
und sich nicht in den Schlamm des Luxus und Vergnügens wagte, in welchem die
Erfindungen, wie in einem fetten Boden keimten. Es sank also durch die Sündfluth
der menschliche Geist von der erreichten Stufe seiner Kultur merklich tief
herunter: mit den nothwendigsten Bedürfnissen umschränket, und von dem
äußersten Mangel niedergedrückt, konnte sich die Denkart ohnmöglich erheben
und ausbreiten.
In dieser Zeit der Dämmerung war der heilige Gesang gewiß
einer von denen, die bei diesem allgemeinen Schiffbruche noch am mindesten
litten. Das Andenken des Schöpfers und Erhalters brachten sie durch Gesänge
der Tradition in die Arche, und das Andenken des Rächers und Erhalters ist
vielleicht der einzige
[139] geistige Gegenstand gewesen, der ihnen in diesem
Trübsalskasten vor Augen schwebte. Das Einweihungsopfer, mit welchem Noah
die entsündigte Erde heiligte, und die abgebrochne Antwort Gottes, die die
Bibel anführt: ich will nicht mehr die Erde um der Menschen willen verfluchen,
zeigt deutlich, daß Noah mit seinem Geschlecht, kniend um seinen Altar, den
Gesang dem Herren angestimmet, den sie in der dunkeln Zeit der Sündfluth zu
sammlen Gelegenheit gehabt: einen Gesang, der ihm das Elend der einbrechenden
Ueberschwemmung, die Schwachheit der menschlichen Natur, und die Schrecklichkeit
seiner Rache schilderte: einen Gesang, der ihm für die Rettung dankte, und weitere
Verwüstungen des Weltalls verbat: einen Gesang, der in der höhesten Bedeutung
ein Reinigungs-, ein Dank- und Bittlied seyn konnte:
(καϑαρμος, ὑμνος
εὐκτικος
und
ἀπευκτικος.)
Da dieser Zeitpunkt zugleich der Anfang eines neuen Bundes war: so setzt dieser Umstand auf's Neue einen Gesang zum Grunde, der, wie bei allen alten Völkern, das Andenken dieses feierlichen Friedensschlusses auf die theilnehmenden Nachkommen fortpflanzen sollte, und den diese vielleicht nachher bei jeder Erblickung eines Regenbogens wiederholten. Sofern dieser Bundesgesang auch Gesetze (νομους) so wie die Lieder der alten Griechen enthält, gehört er in ein andres Kapitel: hier sey es gnug, zu bemerken:
Zuerst, daß in diesem Zeitpunkt die heilige Begriffe von Gott mehr als jemals
der sinnlichen Denkart treu geblieben, ihn als den leiblichen Rächer und Wohlthäter,
durch Lob und Geschenke zu gewinnen, durch rührende Abbitten und blutige Opfer
zu besänftigen, durch Bundesgebräuche auf ihrer Seite zu erhalten.
Als den leiblichen Rächer und Wohlthäter: der sich durch die Abwechselung der
Jahrs- und Tageszeiten, durch Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter,
Tag und Nacht den Menschen zeigte; von dem der Fluch der Erde käme; der
Erwürger des Lebendigen, der sein Andenken durch
[140] Zerrüttungen und Verwüstungen zu
erneuren suchte. Der Wohlthäter, von dem die leibliche Fruchtbarkeit herrührte,
der Speise und Nahrung darreichte, der vor den wilden Thieren, und vor den öfters
noch wildern Menschen schützte: der das Schrecken des Menschen war, so wie sein
Bild, der Mensch, die Furcht der Thiere seyn sollte: so kannten sie Gott!
Durch Lob und Geschenke suchten sie ihn also zu gewinnen:
.........................................................................................
Druckvorlage
Herders Sämmtliche Werke.
Hrsg. von Bernhard Suphan.
Bd. 32. Berlin: Weidmann 1899, S. 85-140.
Editionsrichtlinien
Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Johann_Gottfried_Herder#Werkausgaben
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006916109
Erster Druck
Johann Gottfried von Herder's Lebensbild.
Hrsg. von Emil Gottfried von Herder.
Ersten Bandes dritte Abtheilung, erste Hälfte.
Erlangen 1846, S. 98-186.
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10309670
URL: https://archive.org/details/johanngottfried01herdgoog
Eine sichere Datierung der Fragment gebliebenen Abhandlung ist nicht möglich;
wahrscheinliche Entstehungszeit: 1766/67.
Zur Entstehungsgeschichte vgl.
Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Wolfgang Proß.
Bd. 1: Herder und der Sturm und Drang 1764 – 1774. Darmstadt 1984, S. 693-696.
Kommentierte Ausgabe
Werkverzeichnis
Verzeichnisse
Günther, Johannes / Volgina, Albina A. / Seifert, Siegfried:
Herder-Bibliographie.
Berlin: Aufbau-Verlag 1978.
Kuhles, Doris: Herder-Bibliographie 1977 - 1992.
Stuttgart u. Weimar: Metzler 1994.
[Herder, Johann Gottfried]: Ueber die neuere Deutsche Litteratur.
Erste Sammlung von Fragmenten.
Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend.
[Riga: Hartknoch] 1767.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10733673
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767
[Herder, Johann Gottfried]: Ueber die neuere Deutsche Litteratur.
Zwote Sammlung von Fragmenten.
Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend.
[Riga: Hartknoch] 1767.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10733674
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL: https://archive.org/details/bub_gb_kPxLAAAAcAAJ
[Herder, Johann Gottfried]: Ueber die neuere Deutsche Litteratur.
Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend.
Dritte Sammlung.
Riga: Hartknoch 1767.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10733675
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL: https://books.google.fr/books?id=svxLAAAAcAAJ
[Herder, Johann Gottfried]: Ueber die neuere Deutsche Litteratur.
Fragmente. Erste Sammlung.
Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe.
Riga: Hartknoch 1768.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10733676
URL: books.google.fr/books?id=LJVLAAAAcAAJ
[Herder, Johann Gottfried]: Kritische Wälder.
Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend,
nach Maasgabe neuerer Schriften.
Erstes Wäldchen. Herrn Leßings Laokoon gewidmet.
[Riga: Hartknoch] 1769.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573995
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
PURL: https://hdl.handle.net/2027/ien.35556005514120
[Herder, Johann Gottfried]: Kritische Wälder.
Oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen.
Zweites Wäldchen über einige Klotzische Schriften.
[Riga: Hartknoch] 1769.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573996
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL: https://hdl.handle.net/2027/ien.35556005514120
[Herder, Johann Gottfried]: Kritische Wälder.
Oder einige Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend,
nach Maasgabe neuerer Schriften.
Drittes Wäldchen noch über einige Klotzische Schriften.
Riga: Hartknoch 1769.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10573997
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769
URL: https://hdl.handle.net/2027/ien.35556005514120
Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache,
welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften
für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat.
Berlin: Voß 1772.
PURL: http://diglib.hab.de/drucke/ka-76/start.htm
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00074551
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
[Herder, Johann Gottfried u.a.]: Von Deutscher Art und Kunst.
Einige fliegende Blätter.
Hamburg: Bode 1773.
URL: https://archive.org/details/vondeutscherart00herdgoog
PURL: https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t7pp2rp4k
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00070543
PURL: http://diglib.hab.de/drucke/lo-2882/start.htm
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
[Herder, Johann Gottfried]: Volkslieder.
Erster Theil. Leipzig: Weygand 1778.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110906
URL: https://books.google.fr/books?id=D5Y6AAAAcAAJ
URL: https://archive.org/details/HerderVolkslieder177892Bde
[Herder, Johann Gottfried]: Volkslieder.
Nebst untermischten andern Stücken.
Zweiter Theil. Leipzig: Weygand 1779.
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110907
URL: https://books.google.fr/books?id=JZY6AAAAcAAJ
URL: https://archive.org/details/HerderVolkslieder177892Bde
Herder, Johann Gottfried: Terpsichore.
Zweiter Theil. Lübeck: Bohn 1795.
URL: https://archive.org/details/terpsichore00baldgoog
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10110898
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-506995
S. 397-442: Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst.
S. 443-485: Alcäus und Sappho. Von zwei Hauptgattungen der lyrischen Dichtkunst.
[Herder, Johann Gottfried]: Homer und Ossian.
In: Die Horen, eine Monatsschrift.
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URL: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/214402-5
URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/toc/2104386/0/LOG_0000/
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/012361589
Literatur: Herder
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Vgl. S. 281-286.
Cullhed, Anna: Original Poetry: Robert Lowth and Eighteenth-Century Poetics.
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Hrsg. von John Jarick.
New York u.a. 2007 (= Library of Hebrew Bible / Old Testament Studies, 457), S. 25-47.
Dembeck, Till: Der Ton der Kultur.
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Greif, Stefan u.a. (Hrsg.): Herder Handbuch.
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Hilliard, Kevin: Die 'Baumgartensche Schule' und der Strukturwandel der Lyrik in der
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Aufklärung. Hrsg. von Achim Aurnhammer u.a.
Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit, 98), S. 11-22.
Krummacher, Hans-Henrik: Pindar – Horaz – Ossian.
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In: Ders., Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert.
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Michler, Werner: Kulturen der Gattung.
Poetik im Kontext, 1750 – 1950.
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Piirimäe, Eva: Herder and Enlightenment Politics.
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Proß, Wolfgang: Die Ordnung der Zeiten und Räume.
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In: Vernunft · Freiheit · Humanität.
Über Johann Gottfried Herder und einige seiner Zeitgenossen.
Festgabe für Günter Arnold zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Claudia Taszus.
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Sauder, Gerhard: Herder's Poetic Works, His Translations, and His Views on Poetry.
In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Hrsg. von Hans Adler u.a.
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer