Melchiorre Cesarotti

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Cesarotti
Literatur: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste

 

Abhandlung des Herrn Cesarotti über den Ursprung und Fortgang der Poesie.
Aus dem Italienischen übersetzt.

 

[1] Alle die Künste, welche der Bedürfniß oder dem Vergnügen des Menschen gewidmet sind, sprossen, so zu sagen, aus der Wurzel irgend eines natürlichen Vermögens, einer Kraft seiner Seele, die geschickt ist, sie hervorzubringen, und vollkommen zu machen. Aber wie die noch ungebildeten Glieder einer unreifen Frucht im Leibe der Mutter, so sind auch in den Menschen der kaum entstandenen Welt die Kräfte der Seele wie versteckt und ohne Leben, und geben sich der Seele selbst, die sie enthält, nicht zu erkennen. Diejenigen gleichwohl, die uns zur Erhaltung des Lebens dienen, entwickeln sich geschwinder und leichter; weil die Natur, die aufmerksam über die Erhaltung ihrer Werke wacht, alle Triebfedern der Seele in Bewegung setzt, damit sie die Künste erfinde, durch die sie die Bedürfnisse sich verschaffen, und die Uebel entfernen könne, die uns bedrohen. So ist es nicht mit denen Kräften der Seele, deren Bestimmung es blos ist, uns Vergnügen zu schaffen. Da sie uns weniger nöthig sind, so ist es der Zeit und den Umständen überlassen, sie zu entwickeln; und sie pflegen sich nicht eher zu entwickeln, als bis eine glückliche Gelegenheit, oder eine zufällige Beobachtung, wie der Stahl gus dem Kiesel, die frucht[2]baren Samen der verborgnen Flamme hervortreibt. Obgleich also die Künste, die wir vorzüglich die schönen nennen, nur so viel verschiedne Zweige des allgemeinen nachahmenden Vermögens sind, so haben sie dennoch ihren Ursprung keiner innerlichen vorhergängigen Kenntniß von diesem Vermogen, sondern bloß dem Instinkt, einem Zufalle, oder besondern Beobachtungen zu danken.

Ehe die Menschen noch in Gesellschaften verbunden waren, da sie bloß sich überlassen, den Bedürfnissen ausgesetzt, mit dem Hunger, der Kälte, den Unbequemlichkeiten kämpfend, in beständigem Kriege mit wilden Thieren, sich von diesen nur noch durch die Fähigkeit unterschieden, Menschen zu werden, da hatten sie an ganz andre Dinge zu denken, als, zum Exempel, an die Biegsamkeit und den Umfang ihrer Stimme, und die Harmonie, die daher entspringen konnte. Ihre noch rohen und starren Organen machten sie weit geschickter, das Geheule der Wölfe, das Brüllen der Löwen, als den Gesang ber Nachtigallen nachzuahmen. Aber wenn erst einmal die ungestümen Foderungen der Natur, durch die Erfindung der nothwendigsten Künste befriedigt, eine Art von Gesellschaft errichtet, der Grund zu einer Sprache gelegt war, dann mögen die Menschen den Trieb zum Vergnügen Gehör gegeben haben, dann mögen sie auf das Säuseln gelinder Winde, auf das Gemurmel der Quellen aufmerksam geworden seyn, und zuerst die Empfindung von einem angenehmen Tone bekommen haben. Der Gesang der Vögel wird sie entzückt haben, und einige Töne, die [3] sie selbst in der Entzückung der Freude vorgebracht, werden ein angenehmes Gefühl in ihnen erregt, und sie auf die menschliche Stimme und auf diese unvermuthete Lieblichkeit derselben aufmerksam gemacht haben. Dieß mag der Ursprung der Musik gewesen sein. Aber welche Entfernung ist noch von einer Folge, so zu sagen, noch unbeseelter Töne, bis zu jener nachahmenden Harmonie, die mit dem Ausdrucke der Leidenschaften über die Herzen herrschet? Nach meiner Meynung ist sie gewiß nicht geringer, als die Entfernung zwischen einem wilden Geschrey, und der articulirten Stimme; und folglich muß auch von diesen Tönen bis zur Erfindung der Musik nicht weniger Zeit vergangen seyn, als von dem ersten wilden Geschrey bis zu diesen Tönen vergangen war. Ungefähr um dieselbe Zeit werden die Menschen auf die Schatten aufmerksam geworden seyn, welche die festen Körper machen, wenn sie gegen die Sonne stehn; da mag zuerst ein Freund, oder vielmehr ein Liebhaber, der begierig war, das Bild des geliebten Gegenstandes zu erhalten, (wie es eben der Fall ist, den man vom Dibutadis erzählt) sich bemüht haben, den Umriß des Schattens mit irgend einem groben Instrument nachzuzeichnen; diese rohen Zeichnungen werden allmählig vollkommener geworden seyn, bis sie endlich zur wunderbaren Kunst wurden, die Natur zu verdoppeln.

Unter allen nachahmenden Künsten ist die Poesie aus den meisten Theilen zusammen gesetzt; und ob man gleich aus einer genauen Untersuchung der [4] Nachahmung, welche ihr Wesen ausmacht, und der Natur des Werkzeuges, mit dem sie nachahmt, entdeckt, daß sie nicht anders, als durch alle die Theile, aus denen sie itzt zusammengesetzt ist, ihre Vollkommenheit erreichen konnte, so muß man doch bekennen, daß von diesen Theilen jeder ohne die andern bestehen kann, und daß keine nothwendige und unauflösliche Verbindung zwischen ihnen ist. Eben dieses Gefühl der Freude, welches, wie oben bemerkt worden, die musikalischen Töne in dem Munde des Menschen mag hervorgebracht haben, mag sich auch in einigen Worten ausgedrückt haben, die zufälliger Weise in eine gewisse Ordnung gestellt, das Ohr ergötzten; die Tone, die aus den Hölen wiederschallten, werden ihm eine Idee von übereinstimmenden Tönen gegeben haben; und diese beyden Zufälle konnten ihm zeigen, daß die Worte einer Harmonie fähig sind, die von der Harmonie der Töne verschieden, und so viel schätzbarer ist, als diese, da diese nur an das Ohr reichet, da jene noch weiter, bis in das Herz und in die Seele dringt. Von einer andern Seite treibt uns die Bosheit der Eigenliebe, auch in Kleinigkeiten andre zu erniedrigen, um uns über sie zu erheben; daher forscht man aufmerksam nach andrer Mängeln, man offenbart sie, und um sie fühlbarer zu machen, ahmt man Reden, und Stellungen mit Worten und Geberben nach. Diesem in der That wenig rühmlichen Ursprunge (da wir hier die zufälligen Entwicklungen suchen) haben wir die ersten merklichen Spuren der Nachahmung zu danken. Ein andrer Grund, der natürlicher [5] und allgemeiner ist als jener, obgleich seine Wirkungen weniger merklich sind, bringt sie gleichfalls, aber in einem weitern Umfange, hervor. Dieser ist das Verlangen, das alle Menschen fühlen, andern die Dinge zu erzählen, die sie gesehen oder gehört, und die einigen Eindruck auf sie gemacht haben. Es scheint, daß der Mensch für sich alleine weder denken noch empfinden könne oder wolle; er sucht andrer Hülfe dazu, und glaubt, sich selbst zu vervielfältigen, wann er seine Gedanken und Empfindungen in andre versetzt. Nach dem nun die Sache mehr oder weniger intereßirt, und nachdem die Einbildungskraft mehr oder weniger lebhaft und hell ist, entspringt hieraus entweder die Erzählung, die eine Rede ist, welche uns die Sache erkennen läßt, oder die Nachahmung, die eine Rede ist, welche uns die Sache fühlen läßt. Beyde Gattungen der Nachahmung, sowohl diejenige, die andrer Fehler nachmacht, als diejenige, die uns überhaupt einen Gegenstand, oder eine Sache vorstellt, ergötzen uns; bey der einen gefällt man sich selbst, indem man von den Fehlern frei zu seyn glaubt, die an andern verhöhnt werden, und den Sieg über sie mit dem Spötter zu theilen scheint; bey der zweyten lernen wir ohne Anstrengung, wir werden ohne unsern Schaden gerührt, und erstaunen darüber, wie wir ohne Augen sehen, und fühlen, ohne zu greifen. Dieß ist die Wirkung der Nachahmung, wenn die Einbildungskraft wohl eingerichtet, und glatt und helle wie der Spiegel ist, der die Gegenstände mit allen ihren natürlichen Zügen zurück giebt. Aber wenn die Ein[6]bildungskraft, zwar lebhaft, aber verzogen und in Unordnung ist, oder wann die Leidenschaften mit ihrem dampfenden Feuer sie entzünden und verdunkeln, so wird die Nachahmung sehr verschieden. Gleich einem gefärbten Glase, oder einem unebenen Spiegel, verändert alsdann die Einbildungskraft die natürlichen Farben der Gegenstände, und giebt ihnen ihre eignen; sie vergrößert sie, verkleinert sie, verstellt sie, und verwandelt sie auf tausend verschiedne Weisen; und wie zuweilen cylindrische Spiegel thun, macht sie, aus unförmlichen und zerstückten Umrissen von Gegenständen und Ideen, bald eine regelmäßige, bald eine ungeheure Figur. Wenn nachher die Religion, oder die Unwissenheit, oder die gemeine Tradition diese Werke begünstigen, so bekommen sie eine solche Stärke, daß die Einbildungskraft sich ihnen überläßt, und sie für wirkliche Wesen ansieht. Die Ausdrücke eines Menschen von einer solchen Einbildungskraft haben den Eindruck der Stärke, mit der er sich die Dinge vorstellt; daher dringen sie mit mehr Heftigkeit in die Seelen der andern, und prägen sich tief ein; die Elektricität ber Phantasie geht von dem einen zum andern über, und das wunderbare Glaubliche setzt die Zuhörer mehr in Bewegung, und giebt ihnen mehr Vergnügen. Hier haben wir alle Theile der Poesie natürlich entstehen gesehn: Verfification, Ikastische oder beschreibende Nachahmung, und phantastische oder schöpferische Nachahmung, welche nothwendig die enthusiastische Sprache, das Wunderbare und die Erdichtung mit sich führt. Aber [7] wir haben schon bemerkt, daß diese Theile von einander abgesondert bestehn können, indem jeder für sich ein Vergnügen giebt, welches verhindern kann, daß man nicht an ihre Verbindung denkt. Wir sehen noch alle Tage in Italien, daß Bauern und Leute vom Pöbel ihre natürlichen Empfindungen in rohe Verse ohne alle poetische Farbe bringen, und sich an diesen Versen ergötzen. Auch im gemeinen Gespräche schildern einige eine Begebenheit nach allen ihren Umständen, andre erfinden ein Mährgen, andre reden in einer figürlichen und phantastischen Sprache, alle zum Vergnügen ihrer Zuhörer.

Auf gleiche Weise wird jeder dieser Theile, durch seine ihm eigne Schönheit, lange Zeit diese noch ungeschliffnen Seelen ergötzt haben; bis endlich ein glücklicher Kopf, der mit diesen verschiednen Talenten zugleich begabt war, natürlich, und ohne zu denken, daß daher eine höhere Gattung entstehn würde, die Wirkung und den wechselseitigen Einfluß ihrer vereinigten Kräfte zu fühlen gab. Das Vergnügen mußte in gleichem Verhältnisse steigen; die Entgegenhaltung des Bessern mußte dasjenige itzt mißfällig machen, was vorher angenehm gewesen war; und bald fieng man an, keinen mehr für einen Poeten zu erkennen, der nicht die Seele mit diesen verschiedenen Arten von Vergnügen, in ein einziges vereinigt, entzücken konnte. Hier haben wir endlich die Kunst vollständig. Aber wie sollen wir jeden Theil derselben vollkommen machen? wie sollen wir jedem eine regelmäßige Bewegung geben? wie sollen wir ihn brauchen? in welcher Ordnung? in welcher [8] Verhältniß? mit welcher Wahl der Gegenstände? Das ist es, was das poetische Vermögen, ohne Hülfe der Philosophie, niemals entdecken kann. Eine Kunst, welche den Menschen und die Wesen nachahmt, kann nicht ohne die vollkommne Kenntniß der Natur des Menschen und der Wesen, und der Verhältniß zwischen beyden, vollkommen werden. Da diese Kenntniß in den ersten Jahrhunderten nothwendig fehlte, so mußte folglich die Verbesserung der Kunst dem Zufall, oder dem Instinkte selbst, der sie hervorgebracht, überlassen bleiben. Gleich jenem Amerikaner mußten diese ersten rohen Poeten, sich dieses großen Feuergewehrs wie eines Stückes Holz bedienen, und es blindlings auf andere werfen. Keine Verbindung zwischen den Ideen, keine Feinheit in den Empfindungen, keine Wahl der Worte, kein Plan im Ganzen, kein Verhältniß in den Theilen. Ihre Phantasie war wie ein Chaos, aus dem von Zeit zu Zeit Funken Licht sprangen, die denjenigen, der Augen dazu gehabt hätte, nur gedient haben würden, die Unförmlichkeit des Ganzen besser zu sehn. Nachdem endlich die Menschen sich nach und nach schliffen, wurde auch die Kunst feiner, die Sprache bekam einige Regelmäßigkeit, Stärke und Harmonie; verschiedne neue Arten von Nachahmung wurden erfunden; die Beobachtungen häuften sich. Unter diesen glücklichen Umständen erschienen einige seltne Geister, die mit allem poetischen Genie einige Kenntniß des Menschen überhaupt, die Kenntniß der Charaktere, der Sitten, der Gebrauche ihrer Landsleute, und die Kenntniß andrer Künste [9] verbanden. Diese schufen eine neue Gattung von Poesie, gegen welche diejenige, die vorher gefallen hatte, nichts mehr als ein kindisches Lallen, oder gleich den Träumen eines Fieberhaften war. Diese Genies wurden die Götter der Poesie, jeder wandte die Augen auf dieses neue Licht, jeder ließ sich von einer so ergötzenden Zauberei bezaubern. Hier sehen wir die Wälder und die wilden Thiere vom Orpheus beseelt und gezähmt. Das Beispiel dieser Dichter ward ein Führer für andre; ihre Werke wurden der Probierstein poetischer Sachen; der größte Ruhm war, ihnen ähnlich zu seyn; die Grundsätze des Geschmacks entwickelten sich, und wurden immer feiner; Nachahmer, Beobachter und Ausleger kamen in Menge. Zuletzt kam irgend ein denkender Kopf, der, feiner als die andern, die kleinsten Theile dieser Werke, die Wirkung, die sie thaten, beobachtete, die Ursachen derselben aufspürte, sie unter allgemeine Grundsätze brachte, Regeln festsetzte, die auf Beobachtungen gegründet waren, und, auf diese Weise, so zu sagen, einen poetischen Codex zusammenbrachte, der einem jeden, der nach dem Namen eines Poeten strebte, zur Leitung dienen konnte.

Dies sind die wesentlichen Grundsätze, dies die Entwicklung, der Fortgang, das Wachsthum, sowohl des poetischen Vermögens, als der Kunst, bey allen Nationen, die sie üben; und auf diese Weise kann man glauben, daß sich künftig noch einmal die verborgnen Samen derselben bey denen Völkern entwickeln werden, die sich noch wenig verfeinert ha[10]ben. Aber mit dieser natürlichen und fast nothwendigen Entwicklung entstehen, sowohl im Gebrauche, als in der Theorie der Dichtkunst, eine Menge Vorurtheile, zu deren Ausrottung viele Jahrhunderte und die vereinigten Bemühungen scharfsinniger Köpfe nöthig sind. Und zuerst ist es gewiß, daß ein Poet, (er mag das nachahmende Vermogen auch im höchsten Grade besitzen) niemals mehr als einen unendlich kleinen Theil der Natur erschöpfen wird. Der Gegenstände sind unendlich viel; und ihre Theile, ihre Stellungen, die kleinen Verschiedenheiten, die sie von einander unterscheiden, die alle dem Auge eines guten Nachahmers nicht entwischen dürfen, sind unzählbar. Alle diese Gegenstande haben ferner unendliche Verhältnisse gegen einander. Jedes Ding ist einem andern ähnlich oder unähnlich; eine unsichtbare Kette verbindet alle Geschlechter der Welten, und die Wesen eines jeden Geschlechtes, und unterordnet sie eines dem andern. Aber keine Rechnung kann alle die Beziehungen dieser Gegenstände auf den Menschen erreichen. Diese machen eine neue intellectuale und fühlbare Welt, die noch ausgedehnter und mannichfaltiger ist, als die sichtbare Welt. Welche unendliche Verschiedenheit von Gedanken, Schlüssen und Urtheilen über dieselbe Sache! Wer kann hoffen, mit seinem Geiste alle die möglichen Abartungen der Gesinnungen und der Leidenschaften zu fassen? ihren sich widersprechenden und doch so regelmäßigen Mechanismus, ihre Stufen, ihre Gleichgewichte, ihre unmerklichen Verkleidungen, ihre Verwandlungen der einen in die andre, [11] die bisweilen so unsichtbar geschehen, daß sie der Seele selbst, in der sie geschehn, entwischen, oder durch so gekrümmte und verwickelte Wege, daß der Blick, der ihnen folget, sich verirrt und ihre Spur verliert? Ferner, wenn kein Auge ganz genau denselben Gegenstand sieht, den ein andres sieht, so ist es eben so gewiß, das keine zween Menschen seyn können, welche dieselbe einzle Gesinnung oder Leidenschaft haben. Hieraus folgt, daß die Natur aus unzähligen Gesichtspunkten betrachtet, und aus ihnen allen gleich gut vorgestellt werden kann; aber daß, diesem ungeachtet, jeder, der sie nachahmen will, durch den Trieb und die Bewegung der äußerlichen und innerlichen Kräfte, die auf ihn wirken, gezwungen wird, sie nur aus einem bestimmten Gesichtspunkte zu betrachten, und folglich auch vorzustellen, welches derjenige ist, unter dem sie ihm erscheint. Wenn man also die Kunst der Nachahmung überhaupt nach dem Muster der Nachahmung irgend eines besondern Autors bestimmen will, so wird leicht daher das Vorurtheil entstehn, daß man glaubt, nichts als der kleine Theil der Natur, der dieser Autor vorgestellt, könne glücklich nachgeahmt werden, und dieser dürfe auf keine andre Art nachgeahmt werden, als er ihn nachgeahmt hat. Nichts kann der Poesie nachtheiliger sein, als eine solche Meynung. Dann ist keine Mannichfaltigkeit, keine Neuheit mehr, in den Subjecten, oder im Styl; der besondre Geschmack dieses Autors wird der Geschmack eines ganzen Volkes; eine unschmackhafte Einförmigkeit herrscht in den Werken aller ihrer [12] Scribenten. Fruchtbare Genies vertrocknen, indem sie das Vorurtheil zwingt, mit der Phantasie eines andern zu sehen, mit eines andern Herz zu empfinden, sich selbst zu verleugnen, um ein andrer zu seyn; sie werden nicht mehr die Miene der Wahrheit, den Nachdruck der eignen Empfindung haben, welche selbft Ausschweifungen, Glauben und Gunst erwerben; ihre Werke werden nicht mit denen starken Farben, mit dem Stempel gezeichnet sein, den eine feurige Phantasie auf ihren Ausdruck prägt; sie werden nicht von dem belebenden Feuer entflammt seyn, daß man, wie Prometheus, aus der Sonne schöpfen muß; der schöpferische Geist wird sich nicht durch sie ergießen, der seine Fruchtbarkeit bis in die Seele des Lesers verbreitet; man wird die ersten Nachahmer bewundern, als diejenigen, die aus der ersten Quelle geschöpft haben; aber die nachfolgenden, die wieder Nachahmer von Nachahmern sind, ohne Nerven, ohne Farbe, verkleidet, diese müssen den Zwang, die Mattigkeit, den Frost in jeden bringen, der fähig ist, die Augen auf die lebenden Schönheiten des großen Originals der Natur zu heften. Gleichwohl kann die Nachahmung, so weit sie auch unter der wahren ursprünglichen Nachahmung ist, diejenigen noch ergötzen, die nicht fähig sind, die mannichfaltigen Abartungen des allgemeinen Schönen zu muthmaßen. Alles was einem Gegenstande ähnlich ist, der uns gefällt, hat auch ein Recht, uns zu gefallen. Ein Liebender betrachtet auch den Schatten der Geliebten mit Vergnügen. Die Seele fliegt schnell von dem nachahmen[13]den Gegenstande zum nachgeahmten; die Schönheit des letztern, die uns unerwartet erscheint, wird dem erstern mitgetheilt, und füllt seine Mängel aus; und durch eine angenehme Verblendung glauben wir uns an der Kopie zu ergötzen, wenn wir in der That nur ihre Muster bewundern.

Unter dieser eingeschränkten Art zu denken wird die Poesie schmachten, wenn der herrschende Poet auch vollkommen seyn sollte: Aber wenn oder wo ist je einer vollkommen gewesen? Wenn nichts Menschliches vollkommen ist, wie wird es je ein Autor seyn? Man kann beweisen, daß es Talente giebt, die sich nothwendig einander ausschließen. Eine große Einbildungskraft vereinigt sich nicht mit einer starken Urtheilskraft; der Witz ist der Empfindung schädlich; die Erhabenheit erträgt nicht die Bande der Regelmäßigkeit; wer die kleinen Umstände glücklich schildert, ist ungeschickt einen großen Plan anzulegen, und wer mit einem ausgedehnten Geiste einen großen Umriß zu zeichnen und zu ordnen weiß, ist matt im Colorite. Und wo ist überdem der Dichter, der beständig den Gott in sich findet, der ihn begeistert, der niemals den Menschen fühlt? dem jeder Tag heiter ist, der nie schläfrig wird, nie sich vergißt, nie schlaff wird, nie wenigstens seine herrschende Tugend übertreibt? der wie ein vollkommner Feldherr (ein eben so chimärisches Wesen, als ein vollkommner Poet) das kalte Blut, welches ordnet, und die Hitze, welche schafft, beständig in richtigem Gleichgewicht hält? Sind Fehler dieser Art bey den Dichtern jeder Zeit und jedes Volks noth[14]wendig, wie vielmehr bei den Dichtern der ersten Jahrhunderte? Aber was wird die Folge dieser Fehler seyn, wenn die Kunst nach der oben angezeigten Art sich entwickelt? Man wird lange Zeit sie gar nicht bemerken. Das zu starke Licht läßt uns die Flecken der Sonne nicht sehn. Wenn die Augen sich an dasselbe gewöhnt haben, so werden sie viele leicht etwas von den Flecken gewahr werden; aber man wird nicht darauf achten; die Seele, die von der angenehmen Seite eines Gegenstandes ganz eingenommen ist, denkt sich kaum das Daseyn der andern. Aber man lasse sie die fehlerhafte Seite beobachten; was folgt daraus? sie wird wenig dadurch beleidigt werden, sie ist schon daran gewohnt; die Fehler, die uns anfänglich nicht anstößig waren, weil wir sie nicht kannten, werden es nachher auch nicht mehr seyn, weil wir scon daran gewöhnt sind. Aber dieß ist noch zu wenig; man wird gar so weit gehn, daß man sie in Schönheiten verwandelt. Die überwiegende Schönheit oder Unförmlichkeit eines Gegenstandes verbreitet ihre herrschende Kraft auch über die andern Theile, und nimmt ihnen fast ihre Natur. Kommt noch gar die Leidenschaft der Bewunderer hinzu, so ist nichts natürlicher, als die Verblendung. Die Fehler einer Geliebten werden Reizungen, weil sie Theile von einem Ganzen sind, das wir lieben, und das uns gefällt. In diesem Fortgange werden allmählig felbst die Fehler eines Autors vergöttert, wie die alten Helden mit ihren Lastern zusammen vergöttert wurden. Die Fehler werden immer mehr Nachahmer finden, als die [15] Schönheiten, und durch diese werden sie zur Gewohnheit werden. Wenn nach langer Zeit endlich jemand von einem feinern Geschmack, und weniger vom Vorurtheile beherrscht, sich einfallen läßt, mit einer überlästigen Vernunft die Mängel aufzudecken, so ist es zu spät. Das Vorurtheil, der Name kämpft wider ihn; könnte der Genius der Poesie sich irren? Je ausschweifender der Fehler scheint, desto weniger scheint er glaublich. Man wetteifert in Thorheit mit dem Autor, durch Vertheidigungen, durch Allegorien und geheimen Sinn, die man erfindet; und zum Beschlusse geht man auf den Tadler los; als auf einen Unglaubigen und Beleidiger der poetischen Majestät.

Aber noch weit größer ist der Nachtheil, den die Poesie von dem besondern Geiste des Volkes leidet, welches sie übt. Jedes Volk hat seine Religion (*), seine Gesetze, Sitten, Meynungen, Gebräuche, seinen Wahn. Wer in diesem Chaos Grundsätze, Zusammenhang, Vernunft suchen wollte, würde sich sehr irren. Wie können diese sich in Dingen finden, die der Zufall, die Leidenschaft, die Unwissenheit hervorgebracht? Gleichwohl sieht jedes Volk seine Sitten als die vollkommensten und edelsten an; und wie soll es sie anders ansehn, da es die seinigen sind? Ein Poet, der seinen Lands[16]leuten gefallen will, muß sich zu diesen Umständen bequemen; aber eine gesunde Philosophie, die sich über Nationalvorurtheile erhübe, die sich unter andre Völker zu versenken, ihre Sitten in der Nähe zu betrachten, und mit den unsrigen zu vergleichen wüßte, die müßte uns lehren, mit den Vorurtheilen unsers Volkes Nachsicht zu haben, nicht sich ihnen zu unterwerfen; zum Gegenstand der Nachahmung die Gebräuche zu wählen, die weniger wider die Vernunft sind, nicht sie ohn Unterschied alle vorzustellen; die Augen des Lesers auf die schöne Seite derselben zu heften, und die unförmliche zu verbergen oder zu verschönern; endlich die großen Veränderungen vorher zu sehn, welche die Cultur der Vernunft endlich in der Masse des menschlichen Denkens hervorbringen würde; zuweilen einen Blick auf die Nachwelt zu werfen, das Vergnügen der Zeitgenossen zu suchen, ohne die Bewundrung der Nachkommen aus dem Gesicht zu verlieren; zu versuchen, ob man nicht schon seiner Nation einen Vorschmack von dieser glücklichen Verändrung geben könne, und indem man die Wahrheit in die schönsten und lebhafteften Farben kleidet, die Menschen durch Verblendung vernünftig zu machen. Dies würde der höchste Grad des Ruhms seyn, nach welchein ein Poet streben könnte; und der Lorbeer würde ihm ganz anders gebühren, als den Helden und den Eroberern. Aber zu einem solchen Endzwecke ist ein zu durchdringender Geist, ein zu zartes Gefühl, eine zu edle, zu große Seele nöthig. Die Fabeln mögen dies immer von einem Dichter rühmen, ein abergläubischer [17] Commentator kann diese moralischen und politischen Absichten seinen Lieblingsautor zueignen; aber der Autor selbst widerlegt seinen Lobredner. Entweder haben die alten Dichter nie darauf gedacht, die Seelen ihrer Landesleute zu heilen; oder haben sie diesen guten Endzweck gehabt, so muß man bekennen, daß sie sehr ungeschickte Aerzte gewesen, und daß sie sehr sonderbare Arcana gehabt haben. Die ersten Poeten mußten also ihrer Nation schmeicheln, ihre Vorurtheile nähren, so ausschweifend sie auch seyn mochten, sie durch das Wunderbare noch vergrößern und zum Wachstuum bringen. Eine solche Poesie, so vortrefflich sie auch in den andern Theilen seyn mag, ist nicht nur fehlerhaft von der Seite des Subjects, welches mit der Abgeschmacktheit, dem Barbarischen, wovon es voll ist, nie wohlgemachten Seelen gefallen kann, sondern widerstrebt auch dem innern Wesen der Nachahmung, deren richtig erkannte Regeln vollkommen mit der gesunden Vernunft übereinstimmen. Das Volk, welches alle seine Gesinnungen gebilligt sah, war indeß nicht sparsam mit Lobsprüchen und mit Ehrerbietung. Bald darauf wurde eine Menge von Manieren, von Ideen, von Bildern, die sich auf diese Gebräuche beziehen, gesammlet, welche die Elemente der poetischen Sprache ausmachten. Man sah die Natur aus keinem andern Gesichtspunkte mehr, als aus dem Gesichtspunkte der Nation, man glaubte die Leidenschaften keiner andern Bestimmungen mehr fähig, als die sie von ihr und ihren Umständen bekommen hatten. Was ist hiervon die Folge? Entweder erheben sich [18] verschiedne Völker zu gleicher Zeit in der Poesie, und eifern um den Ruhm derselben, oder eine einzige übt diese Kunst glücklich, mitten unter einer allgemeinen Barbarey. In beyden Fällen äußern sich zwo sehr schäbliche Wirkungen. Streiten zwo oder mehre Nationen um die Ehre der Poesie, so wird jede ihren Nationalgeschmack bekommen, deren einer den andern verwerfen wird. Man wird die Natur nicht aufnehmen, wenn sie nicht nach der Mode des Landes gekleidet ist. Wir allein, wird jedes Volk sagen, schildern nach der Natur, die Gemälde der andern sind nichts als Caricaturen, Mißgeburten, Ausschweifungen. Wie sind doch die Leute auf solche Charaktere, auf eine solche Sprache, solche Sitten gefallen, wenn nicht eine unordentliche Phantasie sie ihnen eingegeben hat? Welcher Mensch denkt, empfindet, oder spricht so? und bey diesen Fragen merken sie nicht, daß sie sich für das ganze menschliche Geschlecht ansehn. Daher kommen tausend falsche und ungerechte Urtheile zum Schaden der gesunden Vernunft, und des allgemeinen guten Geschmacks; daher ein Abscheu, eine Verachtung der einen gegen die andre, ein wechselseitiger Krieg, der vielleicht noch heftiger ist, als derjenige, der aus dem Streite politischer Interessen entspringt; und die Vernunft wird es langsam und mit großer Mühe dahin bringen, daß den Scribenten jeder Nation der Theil Ruhm, dessen rechtmäßige Vertheilerinn sie allein ist, unparteyisch zugetheilt werde. Im andern Falle aber, wenn nur ein einziges Volk in der leuchtenden Laufbahn dieser Kunst glänzet, und [19] vermittelst seiner Waffen und seiner Handlung auch in den Augen andrer Nationen glänzet, so wird dieses Volk allenthalben despotisch über den Geschmack herrschen. Die andern Völker, die nicht bemerken, daß die Natur den Saamen der Poesie über alle Länder auf gleiche Weise vertheilt hat, aber daß, nach der verschiednen Art des Erdreichs, die Pflanze auf verschiedne Arten sprosset und wächst, werden nicht darauf denken, das einheimische Gewächs nach den Foderungen des Clima zu ziehen und zu pflegen, welches durch diese Wartung eben so stark und fruchtbar geworden seyn würde, sondern werden dieselbe Pflanze, die unter einem andern Clima gewachsen, in ihr eignes versenken wollen, und sie als ein Geschenke betrachten, das die Natur diesem fremden Clima nur mitgetheilt hat. Diese versetzte Pflanze, die nicht mehr dieselbe Nahrung findet, wird nothwendig herbe oder unschmackhafte Früchte bringen müssen, die von ihrer ursprünglichen Natur ausarten. Ein Irrthum, der in der That seltsam ist, daß man in einem fast gänzlichen Mangel aller Dinge, die das Subjekt der Nachahmung ausmachen, und ihre Art bestimmen, sich eine besondre Art von Nachahmung zur Regel machen will, die man auf so ungleiche Grundlagen stützet. Eine Nachahmung nach dieser Regel kann niemals ihren wahren Endzweck erhalten, wäre sie auch mit aller möglichen Stärke ausgeführt, wären auch ihre Gemälde noch so richtig; die Leser werden die Originale suchen, und, da sie diese nicht finden, eher verwirrt als gerührt werden. Die vollkom[20]menste Poesie wird, in diesem Falle, nichts als ein schöner Leichnam seyn; sie wird Bilder ohne Körper, todte Leidenschaften, Schatten von Vergnügen hervorbringen. Das Vorurtheil wird durch die Gewohnheit zu der Stärke gelangen, daß, wenn mit der Zeit das System der Religion und der Regierung sich ändert, doch noch immer die alten Manieren, das alte Wunderbare behalten werden, eben so, wie meistens in einem Staate, dessen Sitten sich verändert haben, die alten Gesetze noch beydes halten werden. Das Vergnügen der Poesie wird allmählig sich immer vermindern; wie ein köstlicher Spiritus, der verraucht ist, wird die alte Poesie nicht mehr das belebende Feuer einflößen (*); man wird fühllos dabey staunen, aber man wird sich nicht unterstehn, es sich selbst, geschweige denn andern zu sagen; man wird sich selbst zu beweisen suchen, daß man Vergnügen empfinden muß, und wenn man es lange genug geglaubt, wird man sich endlich einbilden, es zu empfinden, aber man wird es nie wahrhaftig empfinden. Wenn irgend ein guter Kopf, durch die Abgeschmacktheit der Sache bewegt, eine Reformation wagen sollte, und es fehlt ihm an Feuer und poetischen Genie, sie glücklich auszuführen, so wird man, statt die praktische Ungeschicklichkeit dieses Autors zu beschuldigen, seinem Vorhaben selbst die Schuld geben; und man wird den Schluß machen, daß, alles gerechnet, [21] mehr zu gewinnen ist, wenn man bey der alten Manier bleibt. Erhebt sich endlich bey der Nation ein großer, zugleich poetischer und philosophischer Geist, (ohne welche Mischung nie eine vollkommene Poesie seyn kann) und wagt er, der schmachtenden Kunst ein neues Leben zu geben, und thut es auch glücklich, so wird er doch noch wider das langweilige und oft schädliche Geschrey des großen Haufens der falschen Kunstrichter ringen müssen.

Es ist noch ein andrer Umstand zu bemerken, der zwar der Kunst nicht unmittelbar schadet, aber doch Gelegenheit giebt, die Dichter zu fesseln und mit unnöthigen Regeln einzuschränken. Unter den Irrthümern, die nach des großen Bacons Urtheil der Philosophie schädlich find, ist dieser einer, daß die berühmtesten Autoren ihrem Vortrage dieser Wissenschaft einen Anstrich von andern Wissenschaften gegeben haben, die ihnen besonders am Herzen lagen, wie Plato, sagt er, gethan hat, der die Theologie, Aristoteles, der die Logik, Proklus, und die andern von der zweyten platonischen Schule, welche die Mathematik eingemischt haben. Eben dies wird auch in der Poesie geschehen. Ein Dichter, der zugleich eine andre Kunst oder Wissenschaft mit Beyfall übt, wird einen gewissen Geschmack derselben in seine Werke bringen, und wird ihn den Lesern angenehm machen. Ueberdem wird sich bey der ersten Entwicklung der Poesie irgend ein blos zufälliger Umstand mit ihr vermengen, der mit dem Wesen der Kunst nichts zu thun bat. Das Publicum, welches sich an diesen Werken ergötzet, die mit dieser [22] fremden Farbe gefärbt, oder mit diesem Umstande verbunden sind, und nicht bemerkt, daß es verschiebne Dinge sind, mit einem Umstand gefallen, und durch einen Umstand gefallen, wird sie der Poesie als nöthig und wesentlich ansehn, und wird gewohnt werden, sie von allen Dichtern zu fodern. Daher wird ein persönlicher oder örtlicher Gebrauch, der seiner Natur nach willkührlich oder gleichgültig ist, die Allgemeinheit und die Kraft eines Gesetzes erhalten.

Auch die Regeln und die Vorschriften der Kunst sind der Poesie nicht weniger schädlich, als was wir bisher bemerkt haben. Eben dieser Baco beobachtet mit seiner gewöhnlichen Scharfsinnigkeit und Gründlichkeit, daß eine Wissenschaft wenig oder gar nicht mehr zunimmt, wenn man ihre Wahrheiten zu frühzeitig in Lehrgebäude und in Methoden einschließt; eben so, sagt er, wie der Körper eines jungen Menschen nicht mehr zu wachsen pflegt, wenn seine Bildung und seine Glieder zu früh ein männliches Ansehn und ihre volle Rundung bekommen, so kann auch eine Wissenschaft, die einmal durch Methoden zusammen gedrängt, und in ein System eingeschlossen ist, vielleicht noch ausgeschliffen und zum Gebrauche bequemer gemacht werden, aber sie wird nicht mehr wachsen, noch sich erweitern. Und diese Wirkung folgt so viel sicherer, je mehr die Lehrer der Wissenschaft einen dogmatischen Ton annehmen, der dem Verstande gebietet, ohne ihn zu erleuchten, und ihre Lehren wie Machtsprüche geben, ohne den Weg zu zeigen, durch den sie zu [23] denselben gekommen; in welchem Falle die andern auf ihren Spuren zurück gehn, und untersuchen könnten, ob dieses der geradeste Weg ist, und ob nicht vielleicht ihre Führer selbst ein wenig in der Irre gegangen sind. Aber gesetzt daß sie auch nicht geirrt haben, so können sie doch mit diesem entscheidenden Tone nicht unterrichten, und was bey ihnen vielleicht Wissenschaft ist, wird Glauben bey ihren Zuhörern. So wird auch die Poesie, die man zu eilend in ein Kunstgebäude schließt, das man auf den Grund einiger weniger Beobachtungen errichtet; (denn nur wenige Beobachtungen werden es immer seyn, wenn sie aus den Werken einiger Poeten, oder aus dem Genie einer Nation, und nicht aus einer philosophischen Untersuchung des Menschen, oder aus der Entgegenhaltung der verschiednen Nachahmungsarten verschiedner Nationen entspringen;) die Poesie, sage ich, wird in diesem Falle keine Fruchtbarkeit, keine Freyheit mehr haben; da ihr der Zugang zu neuen Beobachtungen verschlossen ist, wird ihr ihre eigentliche Nahrung fehlen; alle ihre Werke werden eine langweilige Einförmigkeit unter sich haben; ihre Bildung wird regelmäßig werden, aber der Körper wird seine Kraft, seine Größe, seine Geschmeidigkeit verlieren. Die systematische Methode und der entscheidende Ton der ersten Lehrer wird zwo Gattungen Menschen hervorbringen, die dieser Kunst gleich beschwerlich und gleich schädlich sind; ich meyne die mittelmäßigen Poeten, und die pedantischen Kunstrichter. Jene werden glauben, daß die Regeln hinreichen einen Poeten zu ma[24]chen, sie werden ohne Flügel fliegen, ohne Feuer entzünden wollen; und wenn sie nur vermittelst einer mechanischen Befolgung der Vorschriften einen richtigen Plan entwerfen, und den Ruhm sich erwerben, ihre Leser nach den Regeln zu ermüden, so werden sie das Monopolium des Geschmacks sich anmassen; ein eben so gegründeter Anspruch, als wenn man verlangte, daß wir uns in Mumien und anatomische Skelette verlieben müßten, weil man den ganzen Bau des menschlichen Körpers in ihnen sieht. Die zweyten aber werden, wie die Wächter der sibillinischen Bücher, den heiligen Text ihres Tutors nie aus der Hand lassen, den sie mit einem Dornengesträuche sophistischer und eitler Untersuchungen und abgeschmackter Auslegungen umwinden; sie werden mit höhern Genies in einem beständigen Kriege leben, sie werden nach ihrer Willkühr die Hochachtung der Welt leiten, und nicht erlauben wollen, daß ein Werk gefalle, wenn es nicht zu ihren magern Grundsätzen paßt; und wenn alle Stimmen sich zum Vortheile dieses Werkes vereinigt haben, werden sie die Empfindung, als incompetenten Richter, vor ihren Richterstuhl fodern, und in gehöriger Form beweisen, daß dieses Werk nicht gefallen darf. Durch ihre stets wiederholten und so zuversichtlichen Machtsprüche werden sie endlich die kleinen Geister sich unterwerfen, die den großen Haufen ausmachen; die höhern Genies werden einige Zeit ihren Ruhm entbehren müssen, und zuweilen werden gar, aus Furcht vor diesen Wespen, die Bienen nachlassen, ihr Honig zu zeugen.

[25] Eine unendliche Menge Beyspiele beweist was wir gesagt haben. Homer machte die Ilias. Die Lehrer der Kunst nahmen aus ihr die Regeln des epischen Gedichtes. Aber er machte auch die Odyssee, ein Gedicht von einer ganz verschiednen Art. Homer konnte nicht irren; es war also nöthig, ihn itzt mit sich selbst zu vereinigen; man mußte die Regeln, so gut es sich thun ließ, drehen, und ihnen eine andre Gestalt geben, wie ein Töpfer, der denselben Thon bald dehnt, bald drückt, aus einem Topf eine Schüssel macht. Laßt uns itzt annehmen, Homer habe nichts als den Zorn des Achilles besungen; können wir glauben, daß nach der Vollendung des Kunstgebäudes ein andrer den Muth gehabt haben würde, die Reisen des Ulysses zu besingen? und wenn er es gewagt hätte, würden die Kunstrichter ihm diese Freyheit nachgesehn haben? Wie viel scheinbare Gründe, ihm den Titel eines epischen Dichters abzusprechen! Ohne des großen Unterschiedes des Orts, der Zeit, und der Handlung der beyden Gedichte zu erwähnen, Dinge, die den Kunstrichtern so wesentlich sind, was für ein armseliges Subjekt, (würde man gesagt haben) das der Majestät der Epopee ganz unwürdig ist! In der Ilias belagert die Blüte der griechischen Helden die Hauptstadt ganz Asiens; in der Odyssee reist ein Mann, der eher ein Hausvater als ein König ist, in Gesellschaft eines Haufens unedler Leute, unbekannt, in elenden Umständen, um sein magres Vaterland wieder zu sehn; dort ziehen Götter und Helden zum Streit, hier schlägt sich ein verkleideter [26] König auf Faustschläge mit einem Bettler; dort besiegt der Sohn einer Göttinn, der tapferste der Menschen, in dem einzigen Hektor ganz Troja, hier tödtet der Held mit Beystand eines Schweinhirten einige Nichtswürdige, die sein Haus plündern. Sicherlich ist zwischen der Ilias und der Odyssee der Unterschied nicht kleiner, als zwischen der Komödie und der Tragödie. Wie viele Kunstrichter sind nicht gewesen, und wie viele sind noch, die sich es lächerlich in den Kopf gesetzt haben, Milton sey kein epischer Dichter, aus keinem andern Grunde, als weil Adam nicht Achilles, und die Verbannung aus dem Paradiese nicht die Belagerung von Troja ist? Wäre Dante nach dem Tasso geboreu worden, in dem Jahrhunderte, da die Regeln und die Exempel der Alten zu einer Religion geworden waren, so würde der weite Umfang und die Stärke seiner Einbildungskraft Ausschweifung und Tollheit geschienen haben. Der Titel allein würde den Kunstrichtern zu einem Folianten Kritiken Materie gegeben haben. Aber da er in einer Zeit geblüht hat, da es ein Beweis einer ungemeinen Gelehrsamkeit war, den bloßen Namen der Poetik des Aristoteles zu kennen, da er in der allgemeinen Barbarey, aus der nur Italien eben anfieng sich zu heben, sich als den größten Dichter der Erde betrachten konnte, da endlich, wenn er gleich sagte, daß die Aeneis seine Säugamme sey, sehr wenige fähig waren, das Kind gegen die Amme zu stellen, so haben diese Umstände weit mehr noch, als sein innerliches Verdienst, ihm einen dauerhaften und allgemeinen Ruhm verschafft. [27] Tasso hingegen, der regelmäßigste ailer italienisden Dichter, und der mehr, als alle die andern, den Spuren der Alten gefolgt, weil er in der Zeit des zu seiner Vollkommenheit gediehnen gelehrten Aberglaubens lebte, wurde selbst von den Götzendienern des Ansehns und des Exempels getadelt. Die Vorurtheile achten es nicht, daß sie gegen sich selbst kämpfen, wenn sie nur der Vernunft Abbruch thun können. Die Tragödie war bey den Griechen meistens nichts anders, als die Vorstellung eines verhängten und unvermeidlichen Unglücks, welches mehr schreckte als intereßirte. Der Aberglaube für das Alterthum hat eine Menge Subjekte vom Theater ausgeschlossen, die feiner, interessanter, lehrreicher gewesen wären, und uns eine neue Art von Vergnügen hätten geben können. Italien hat sich besonders noch nicht recht, weder in der Theorie noch in der Praxis, aus diesem groben Irrthume gerissen, und man sollte Mühe haben, vier Kunstrichter zu finden, von denen, die auf guten Geschmack Anspruch machen, die nicht anstehn würden, vielen vortrefflichen Werken des Corneille und des Racine den Namen wahrer Tragödien zu geben, und die nicht einem Mahomet die fehlerhafteste Tragödie des Euripides vorziehen würden. Die Komödie war zur Zeit des Plautus und des Terentius, ein oft übertriebnes Gemälde der gröbsten Fehler und Lächerlichkeiten der Menschen, oder höchstens eine Nachahmung gewöhnlicher Begebenheiten unter Personen vom mittlern Stande. Da viele Jahrhunderte nachher Herr de la Chaussee in Frankreich [28] das Theater mit einer neuen Art von Komödien bereicherte, indem er sie auf die Nachahmung einer interessanten und lehrreichen Begebenheit im Privatleben richtete, wie viel Tadler giengen nicht da auf ihn los. Sie erfanden für ihn den höhnenden Namen des weinerlichen Komischen, und sahen dergleichen Werke als Ungeheuer an, die aus uns gleichartigen Theilen zusammen gesetzt, und dem Alterthume wegen seines äußerst feinen Geschmacks unbekannt geblieben waren. Petrarca, der das feinste Gefühl, eine edle und tugendhafte Seele, einen durchdringenden und durch die Wissenschaften aufgeklärten Verstand, und die anmuthigste Phantasie hatte, empfand eine Art seltsamer, oder wenigstens sehr seltner Liebe, von der man bey den griechischen und lateinischen Dichtern nicht eine Spur findet. Er schilderte sie, wie er sie fühlte, er gab sein großes poetisches Genie seiner Leidenschaft zum Werkzeuge, nicht die Leidenschaft seinem Genie, und konnte dadurch eine Sache glaublich machen, die nach der allgemeinen Art zu denken beständig für chimärisch war gehalten worden, und seine Poesie Lesern reizend machen, die kaum die Möglichkeit einer solchen Liebe geträumt, geschweige sie jemals empfunden hatten; die stärkste Wirkung, wie mich däucht, deren die Poesie fähig ist. Da Petrarca der einzige lyrische Dichter in Italien war, so glaubte man bald, daß man in Versen nicht anders, als nach seiner Manier, lieben könnte; und hier sehen wir Italien auf einmal mit einer Sündfluth von Reimern überschwemmt, die [29] alle den Petrarca auf der Feder, aber keiner vielleicht im Herzen hatten. Da diese Leidenschaft nicht bey ihnen entstanden, sondern anders woher geholt war, so konnten sie folglich nicht in ihrem eignen Vorrathe die Gedanken, die Empfindungen, die Ausdrücke finden, die geschickt sind, sie lebhaft zu schildern. Daher waren sie gezwungen, zum Petrarca selbst zurückzukehren, und bey ihm die Farben zu entlehnen. Aber diese geborgten und angeflickten Zierrathen, die sie bisweilen gar auf der unächten Seite sich ansetzten, machten bey ihnen eine seltsame Figur, eben wie ein schönes Kleid, das einem ansehnlichen und wohlgebildeten Körper angemessen ist, selbst seine Schönheit verliert, wenn ein kleiner und ungestalter Mensch sich es anzieht. Der zierliche Gang und die unnachahmbaren Stellungen des Petrarca wurden bey ihnen convulsiv und grimaßirend; die Gestalt eines gemeinen Weibes schien unter der Kleidung einer Gottheit hervor. Man liebte wie Anakreon, und wollte reden wie Plato; kein andrer Weg war mehr zum Himmel, als auf der Leiter der Augen der Schönen, und diese platonische Sprache, welche, in die Poesie des Petrarca versetzt, so reizend ist, weil man sieht, daß sie der natürliche Ausdruck seiner Empfindung ist, wurde bey seinen Nachahmern ein frostiges und dunkles Schulgeschwätze, das Lesern ohne Vorurtheil nicht weniger lächerlich war, als die metaphisische Galanterie, mit welcher viele Franzosen selbst die ernsthaftesten und pathetischsten Subjekte schmücken. Daher ist auch der größte Theil der petrarchischen [30] Poeten, die sich, vorzüglich vor allen Poeten ihrer und andrer Nationen, die wahre Feinheit des Geschmacks in verliebten Materien anmaßen, und immer von Natur reden, dem ungeachtet unnatürlicher, als alle die andern, weil die Leidenschaft, die sie nachahmen, weder in ihnen noch in andern ist, und nur so viel zeigt, daß vor vier Jahrhunderten ein Mann lebte, der nicht weniger ein außerordentlicher Liebhaber als Poet war.

Wenn man nachher gerne sehn will, wie die Fehler eines Autors zu Tugenden erhoben werden, so darf man nur einen Blick auf die Daciers, die Bossus, die Mazzoni, und die andern unzählbaren kritischen Alchimisten werfen, welche in der Poesie den Stein gefunden haben, mit dem sie Eisen in Gold verwandeln; nur Schade, daß man dieser so wie der andern ihren Betrug über kurz oder lang entdecket.

Was die Fehler betrifft, die aus den Sitten und Gebräuchen der Nation in den Poeten übergehn, so kann jeder sie leicht gewahr werden. Der Charakter der Götter und Helden des Homer, die, so zu sagen, noch rohen Leidenschaften der tragischen Dichter der Griechen, die romanischen Abentheuer und die Zaubereyen des Ariost, das Leere, die weitschweifigen Ausdrücke der italienischen Reimer, die schwülstigen Ausschweifungen der Spanier, die langweilige Galanterie und die übertriebne Feinheit der Franzosen, die Unregelmäßigkeit und die Mörderey des englischen Theaters, dieß sind alles Dinge, [31] deren Grund in der Religion, dem politischen und moralischen System der verschiednen Völker liegt.

Ein Nationalgeschmack, in andre Länder versetzt, ist noch niemals glüclich gewesen. Man kann den Italienern den Ruhm nicht absprechen, daß sie die Künste und Wissenschaften wieder erweckt haben. Sie gaben dem alten Griechenlande ein neues Leben, welches sie vollkommen kannten, aber sie kannten ihr eignes Vaterland nicht genug. Wären ihre tragischen Dichter des sechzehnten Jahrhunderts nach Athen versetzt worden, so würde Griechenland nicht geglaubt haben, daß es seine Sophokles und seine Euripides verlohren hätte; aber Sophokles und Euripides, nach Italien versetzt, fanden da keine Athenienser. Gleichsam als wenn eine Nation der andern ihre Thorheiten zu beneiden, und nicht jede genug an den ihrigen hätte, wollten die komischen Dichter der Italiener ihren Landsleuten die Fehler der Griechen und Römer mittheilen, und eine Begebenheit, als zu ihren Zeiten geschehen, vorstellen, die aus weit ältern Jahrhunderten war. Italien fehlte noch die enthusiastische Poesie, deren Endzweck die Bewunderung ist. Das Vorurtheil hatte den Wahn ausgebreitet, das Genie der Sprache nähne diesen Styl nicht an. Chiabrera zeigte das Gegentheil, und Italien bekam in ihm seinen Pindarus. Man hat ihm ohne Zweifel eine sehr große Verbindlichkeit; aber sie würde noch großer seyn, wenn er lieber diese Art Poesie hätte schaffen, (und er war der Mann dazu) als sie erneuern wollen; wenn er nicht so ganz in die [32] Nachahmung seines Original sich versenkt, wenn er seine Werke nicht mit so viel Fabeln angefüllt hätte, die mit der Religion, dem Interesse des Volkes keine Verbindung haben, die bey ihm keinen Glauben finden, und folglich den größten Theil ihrer bezaubernden Kraft verlieren; wenn er sparsamer mit gemeinen Moralen, mit allgemeinen Sentenzen, mit weitschweifigen Lobsprüchen gewesen, wäre. Ronsard, mit weit weniger poetischem Genie, that zuerst in Frankreich, was Chiabrera in Italien that. Er blendete einige Zeit; aber da der Geschmack volkommner wurde, schien seine Poesie so barbarisch und seltsam, als sie anfangs wunderbar geschienen hatte. Desportes, und andre französische Dichter der Liebe trugen kein Bedenken, mit den Italienern um die Wette den Petrarca zu plündern; aber die pathetische und feine Zärtlichkeit dieses Dichters, mit der Art Witz vermengt, die beständig der herrschende Geschmack der Franzosen gewesen, machte ein sehr seltsames Ganzes. In unsern Zeiten, da Europa, wie in philosophischen Sachen schon gänzlich, so in den schönen Wissenschaften großentheils, das Joch der sklavischen Anbetung der Alten abgeworfen hat, streiten drey Nationen um den poetischen Sieg, die Italiener, die Franzosen, und die Engländer. Einige wenige erhabne Genies ausgenommen, welche, den Geschmack ihrer Nation zu reinigen, sich besonders an die allgemeinen Schönheiten der Natur gehalten haben, die das Recht haben, allen Nationen zu gefallen, und überall erkannt und hochgeschätzt werden, welche Verachtung haben nicht wechsels[33]weise die einen für die andern?. Den Franzosen scheint die englische Poesie gigantesk, unregelmäßig und verwegen, die italienische mager, reich an Worten, und leer von Gedanken. Die Engländer sehen von ihrer Seite die Franzosen für Petits Maîtres, in der Poesie so wohl, als in den Manieren, an; und die Italiener glauben, daß die einen und die andern, obschon auf verschiednen Wegen, gleich weit von der Bahn der Natur entfernt sind, die sie allein, nach den Griechen und Römern, betreten haben.

Der größte Theil dieser Fehler ist verstärkt, und auf lange Zeit unheilbar gemacht worden, durch die Regeln der Kunst, die ein sehr ehrwürdiger Philosoph, der aber deswegen weder die Natur noch die Vernunft war, mit zu viel Eile gebildet, und in einer systematischen Methode mit einem entscheidenden Tone vorgetragen. Diese waren die Ursache der Sklaverey poetischer Genies; sie verschlossen den Zugang zu jeder neuen Beobachtung und Erfindung, daher kamen die ausschließenden Ansprüche auf den guten Geschmack, daher die ungerechten Aussprüche über das Verdienst der Dichter, die eitlen gelehrten Cabalen, die bisweilen grausame Verfolgungen wirkten, daher ganze Bibliotheken, um eine Stelle von zwo sehr gleichgültigen Zeilen zu entziffern, die gleich lächerlichen Commentaren, Kritiken und Schutzschriften, voll gelehrter Einfalt, und subtiler Kleinigkeiten, welche die gesunde Vernunft in einem Meer von Dinte ersäuften, und so viele Pedanten zu großen Männern machten. Ob außer[34]dem die Regeln zureichen, einen Poeten zu machen, kann uns das Beyspiel des Herrn Aubignac zeigen, der nach einem gelehrten Werke über die Kunst, Tragödien zu machen, selbst eine ziemlich frostige machte. Da er zu ihrer Vertheidigung anführte, daß sie nach den Regeln des Aristoteles gemacht wäre, sagte der Prinz von Conti mit Vernunft und Lebhaftigkeit, ich muß nothwendig den Herrn Aubignac rühmen, daß er dem Aristoteles gehorcht hat, aber ich will es niemals dem Aristoteles verzeihen, daß er den guten Herrn Aubignac eine so elende Tragédie hat machen heilfen. Aber wie viel Aubignacs hat nicht Italien gehabt! Welcher Vergleich zwischen den Regeln des Gravina, und seinen Tragödien! Jene sind von einem Philosophen, diese von einem Juristen.

So vielem Nachtheil würde gänzlich, oder großentheils vorgebeugt worden seyn, wenn bey der ersten Entwicklung der poetischen Nachahmung ein ausgebreiteter, durchdringender und feiner Geist es unternommen hätte, sie wahren Quellen des Vergnügens, das sie hervorbringt, die Natur ihrer Gegenstande, den Zustand des Menschen, für sich betrachtet, und seinen Zustand in verschiednen Gesellschaften, zu erforschen. Er würde bey dieser Untersuchung deutlich gesehn haben, daß die Natur unerschöpflich ist, daß die unendliche Verschiedenheit der Gegenstände, aus verschiednen Gesichtspunkten betrachtet, verschiedne Eindrücke in den menschlichen Seelen macht, nach der unendlichen Verschiedenheit ihres innerlichen und äußerlichen Zustandes, und [35] daß, obgleich diese Eindrücke, die so verschieden bestimmt sind, wegen der äußersten Dürftigkeit der Sprachen, nur unter einem einzigen Namen begriffen werden, sie dem ungeachtet von einander innerlich unterschieden sind, wie alle Thiere von einander unterschieden sind, ob sie gleich unter einem einzigen Geschlechtsnamen begriffen werden; er würde gesehn haben, daß jede Leidenschaft ihre eigne Sprache, ihre eignen Farben hat, und daß sie allzeit gefallen wird, wenn sie lebhaft mit diesen Farben geschildert ist; daß das menschliche Herz ein Recht auf alle die verschiednen Ergötzungen hat, die aus der Nachahmung der verschiednen Leidenschaften entspringen können, und daß eine Art der Nachahmung die andre nicht ausschließen, noch von ihr die Farben entlehnen muß; das folglich die Epopee und die Tragödie in die Gränzen gewisser bestimmter Subjekte einzuschränken, und, zum Exempel, zu behaupten, daß die verschiednen Arten der Liebe, wie sie durch einen Mißbrauch nur einerley Namen haben, so auch nur einerley Ausdruck und einerley Farben haben müssen, nichts anders ist, als wenn man sagte, ich habe ein schön gemaltes Pferd mit Vergnügen gesehn, folglich kann die Malerey entweder kein andres Thier schildern, als das Pferd, oder alle Thiere müssen so geschildert werden, wie dieses Pferd. Er würde eben so wohl gefunden haben, daß die Ergötzung der Nachahmung in zusammengesetzter Verhältniß der Schönheit der Nachahmung selbst, und der Schönheit der nachgeahmten Gegenstände besteht; daß die Dinge der Natur, oder die [36] den Menschen betreffen, niemals oder selten vollkommen sind, und daß folglich, zu Hervorbringung des größten möglichen Vergnügens, es nothwendig ist, zu wählen, oder zu verschönern; daß, da die Unvollkommenheit von zweyerley Art ist, deren eine in der Mittelmäßigkeit des Schönen, die andre in der Einmischung des Häßlichen besteht, man in diesen beyden Arten nicht weniger die Gegenstände, als die Charaktere, die Leidenschaften, die Handlungen vollkommen machen muß. Er würde endlich entdeckt haben, daß in den Dingen, die uns in der Nachahmung ergötzen, zwo Arten von Ergötzung sind, deren eine von der Natur, die andre von der Erziehung, der Gewohnheit, von Vorurtheilen kommt. Die erste ist unbedingt, allgemein, unveränderlich, die andre wirkt nur in gewissen Verhältnissen bey einem gewissen Volke, und ist tausend Verändrungen unterworfen. Jene glänzt unausbleiblich, wie die Sonne, der ganzen Welt; diese schimmert, wie ein Meteor, kurze Zeit, in einem Lande, und verschwindet. Auf diese letztere gründet sich großentheils die Erdichtung und das Wunderbare. Jede Nation hat ihre von andern verschiedne Religion, Sitten und Meynungen, und folglich auch ein verschiednes Wunderbare, welches, in die Poesie eines andern Volks versetzt, ausschweifend und seltsam scheinen muß. Derjenige folglich, der nach dem Ruhme eines allgemeinen Dichters aller Völker und aller Jahrhunderte strebt, muß sich an die großen und allgemeinen Schönheiten der Natur halten, und sich der andern nur, wie einer Kleidung [37] bedienen, die eine schöne Gestalt nicht verbirgt, sondern vielmehr zu ihrem Vortheile zeigt; er muß uberdem die rohe Masse der Meynungen und Gebräuche des Volkes untersuchen, sie reinigen, unter ihnen diejenigen wählen, die am meisten mit der Vernunft, die allen Menschen gemein ist, übereinstimmen, und folglich allgemeiner gefallen können. Und da die allerseltsamsten Gebräuche nicht ganz ohne einen vernünftigen Grund sind, muß er diesen lebhaft fühlen lassen, und mit Geschicklichkeit das Abgeschmackte, das ihn begleitet, verbergen, und endlich die Vorurtheile selbst verschönern und veredeln, und sie so bestimmen, daß sie entweder sich in Tugenden verwandeln, oder, wenn sie mit der Zeit für das erkannt werden, was sie sind, diejenigen selbst, die sie mißbilligen, von der Schönheit der Poesie bezaubert und gerührt, den glücklichen Irrthum segnen, der ihnen ein so vernünftiges Vergnügen verschafft hat. Wenn auf diesem Wege die schönsten Genies, der verschiednen Nationen, jeder nach seinem Geschmacke, dieser einen, jener einen andern Theil der Natur zur Nachahmung gewählt hätte, so würden sie bald eine unendlich verschiedne, aber allgemeine Poesie hervorgebracht haben, die mitten unter den unzählbaren Veränderungen der Religionen und der Regierungsformen immer ihren vollen Glanz erhalten hätte; ein vollständiger Cursus poetischer Erfahrungen würde die Wahrheit der ächten Grundsätze bestätigt, die Kritik geordnet, und den Künstlern und Liebhabern zu einem sichern Führer gedient haben.

[38] Diese philosophische Entwicklung scheint einem großen Denker unsrer Zeit, dem Herrn Hume, unmöglich. Es ist offenbar, sagt er in seinem vortrefflichen Discurs über die Regel des Geschmacks, "daß keine von den Regeln, denen man in der Ausarbeitung folgt, a priori entdeckt werden konnte; diese Regeln sind nicht von denen abstrakten Folgerungen, die der Verstand aus den ewigen und unveränderlichen Verhältnissen der Ideen zieht; ihr Grund ist kein andrer, als der, den alle praktische Wissenschaften haben, die Erfahrung; sie sind nichts anders, als allgemeine Beobachtungen über dasjenige, was zu allen Zeiten und in allen Ländern gefallen hat." Mich däucht, man hätte von jedem andern eher eine solche Meynung erwarten sollen, als von einem Scribenten, der sich der Philosophie in Materien des Geschmacks so glücklich zu bedienen, und mitten unter so viel scheinbaren Widersprüchen standhafte Grundsätze festzusetzen gewußt. Wenn er unter Erfahrung die Beobachtungen verstünde, die man über die Natur und über die menschliche Seele gemacht hat, so ist es in der That offenbar, daß ohne diese keine Regeln der Kunst jemals existirt hätten; aber wenn er glaubt, wie es scheint, daß die Kunst, um sich zu entwickeln, nothwendig den Gebrauch und das Exempel der Scribenten erwarten muß, so gesteh ich frey, daß ich diese Nothwendigkeit nicht entdecken kann. Obgleich die Kunst der Poesie eine praktische Wissenschaft ist, so ist sie gleichwohl von andern sehr unterschieden. Die Heilungskunst, die Kunst der [39] Seefarth, die Kriegskunst, gründen sich in großentheils auf zufällige Beobachtungen, die es unmoglich war, vorher zu muthmaßen. Aber so ist es nicht mit der Poesie; sie hat keine fremden Werkzeuge nöthig, sie hat ihren Grund in nichts Aeußerlichem, er ist ganz in der menschlichen Seele, aus der sie stammt; die Leidenschaften erwecken sie, die Einbildungskraft bekleidet sie. Wer seine Seele und sein Herz recht erforscht, wird alle die Regeln der Poesie in sich selbft geschrieben finden, und wird sehn, daß sie, ohne fremde Hülfe, ganz gebildet und vollkommen, wie Minerva aus dem Haupte des Jupiters, hervortreten kann. Ueberdem bestreitet die Erfahrung selbst diese Meynung. Man wird gewiß nicht glauben, daß Homer die Ilias ohne Plan verfertigt habe. Ohne ihm die moralischen und politischen Absichten der Ausleger zuzuschreiben, kann man versichert seyn, daß in Homers Seele das Modell vor dem Gebäude da gewesen, wie der Kanon des Poliklet vor seinen Statuen. Er hat ohne Zweifel von der Maschine und den Theilen seines Gedichtes Rechenschaft geben, und sie aus gewissen Gründen herleiten können. Er hatte also die Regeln der Kunst gefunden, eh er sie ausübte. Aber wo hat er sie gefunden? Nicht in den Exempeln andrer Dichter, weil vor ihm keiner war, welcher der Meister eines solchen Schülers hätte seyn können; und war einer, so müssen wir bey diesem die Frage thun, wo hat er die Regeln gefunden? In der Beobachtung der Natur, in der mehr oder weniger richtigen Erforschung der ewigen und unver[40]änderlichen Verhältnisse zwischen den Gegenständen und dem Menschen. Wäre Homer so sehr Philosoph als Dichter gewesen, so ist es offenbar, daß er das vollkommene System der Kunst hätte finden können, da er in jedem Falle immer ein System gefunden hat. Wie also der Instinkt die Poesie hervorgebracht hat, so konnte und mußte die Kunst von dem philosophischen Geist hervorgebracht werden; und der geschwindern oder langsamern Entwickelung dieses Geistes muß man den Fortgang und den Verfall, die Rauhigkeit und die Feinheit, die Verfinsterung und Wiederherstellung dieser Kunst zuschreiben.

Diesem zu Folge war es unsern Zeiten vorbehalten, in denen dieser Geist, durch den nahen Umgang mit verschiednen Völkern und durch die Cultur der Sitten verfeinert, seinen beseelenden Hauch durch den ganzen Körper aller Gelehrsamkeit athmet, eine für das Herz so interessante Kunst von den Vorurtheilen befreyt, gereinigt, und auf ihre wahren, allgemeinen und fruchtbaren Grundsätze befestigt zu sehn. Hier, däucht mir, wird es nicht weniger nützlich als angenehm seyn, den Ursprung und den Fortgang der Kunst wieder zu übersehen, und den Charakter der vornehmsten Lehrer derselben zu bemerken. Plato ist der erste, der von der Poesie gesprochen hat, aber weitschweifig und zweideutig. Um deutlichsten erklärt er sich in seiner Republik, wo er die poetische Nachahmung mit Gründen verkleinert, die seiner Philosophie nicht viel Ehre machen. Er kannte die Unschicklichkeiten der Göt[41]ter und der Helden des Homer; aber indem er sie von der theologischen und moralischen Seite verwirft, billigt er sie als poetische Geschöpfe, und zeigt dadurch, daß er keinen richtigen Begriff von der wahren poetischen Nachahmung hatte; und thut nachher nicht weniger der Philosophie, als der Poesie, Unrecht, da er die Epopee und die Tragödie aus seiner Republik verbannt, diese Dichtungsarten die durch ein wohlgeordnetes Spiel der Leidenschaften die wirksamsten Triebfedern der Tugend seyn können. Aber man kann ihn entschuldigen. Die Odyssee war nicht der Telemach, und der Oedipus nicht die Alzire.

Aristoteles gab ein System der Kunst, das aber, die Wahrheit zu sagen, sehr unvollkommen, dunkel und verwirrt ist. Die lyrische Poesie ist vernachläßigt, von der Epopee kaum der Umriß gezeichnet; fast überall findet man Gebote statt Gründen. Seine Idee von der Tragödie ist unvollständig; seine Lehren über das Subjekt, den Protagonisten, sind mehr aus seiner Phantasie als aus der Vernunft gezogen. Seine Reinigung der Affekten ist seltsam und wunderlich. Er ist ein Arzt, der nur eine oder zwo Krankheiten heilen will, und der sie vermittelst der Krankheit selbst heilen will. Sein Ton ist entscheidend, die Methode nur anscheinend. Er hat, in der That, richtige, feine Beobachtungen, über die Einheit, die Vertheilung und Regelmäßigkeit der Fabel; aber im Ganzen ist sein Werk voll von grammatikalischen und scholastischen Kleinigkeiten, von weitschweifigen und verwirrten Be[42]griffen, von nominalen und ausschließenden Erklärungen, von überflüßigen Distinktionen und Divisionen, und geschickter, das Genie zu fesseln und zu erkälten, als es zu leiten, den Verstand zu verwirren, als ihn aufzuklären, den Geschmack eigensinnig ekel zu machen, als ihn zu reinigen und zu erleuchten. Gravina bezeigt dem Aristoteles mehr Verehrung, als alle seine Lobredner; er glaubt nicht, daß die Poetik ein Werk dieses Philosophen ist, oder er hält sie höchstens für einen Haufen noch unbearbeiteter Materialien.

Horaz, ein schöner Geist, und ein Hofmann, berührt in seinem Briefe, der nach meiner Meynung eine Antwort auf die Fragen zween seiner edlen Schüler ist, die gemeinsten, aber deswegen nicht die unwichtigsten Regeln der Kunst, mit Lebhaftigkeit, mit gesunder Vernunft, und mit Richtigkeit. Aber da er sie nicht aus ihrer Quelle herleitet, nicht sie mit Gründen bestärkt, (eine Methode, die sich besser in einen Traktat, als in einen Brief schickt) so sind seine Lehren wohl zureichend, das Urtheil und das Gefühl eines Weltmannes zu leiten, aber nicht, einen philosophischen Kenner zu bilden, der den ganzen Umfang der Materie in seinem ganzen Lichte sehen muß.

Die Wiederherstellung der Wissenschaften in Italien ist dem Fortgange der Kunst nicht sehr günstig gewesen. Versichert, daß Aristoteles schon genug gedacht hatte, wollten seine Ausleger sich die Mühe nicht nehmen, selbst zu denken, und ihre Fähigkeiten erhielten sie bey dieser Gesinnung; sie er[43]laubten auch nicht andern, zu denken, die Auslegungskunst diente statt der Philosophie, die Regel statt des Genies. Da der Despotismus in Anarchie entartet, so folgte auf diese Zeit des Aberglaubens eine Zeit der Unbändigkeit und der Ausschweifung, die noch schlimmer war, als die erste Sklaverey. Jeder machte sich selbst seine Regeln, oder erkannte vielmehr gar keine mehr, und die übertriebne Strenge der falschen Kunst wurde der rechtmäßigen Herrschaft der wahren Kunst nachtheilig.

Der erste, der ein philosophisches Licht über diese Kunft verbreitet, ist Gravina, einer der erhabensten Geister unter den Italienern. Er bemühte sich nicht weniger, die Kunst von dem verderbten Geschmacke seiner Zeit zu reinigen, als sie von der Sklaverey der magern und willkührlichen Regeln zu befreyen. Er veredelte und verschönerte die Poetik, und machte sie aus einer pedantischen Kunst zu einer Wissenschaft für Philosophen, indem er durch sein Beyspiel zeigte, daß ein wahrer Kenner nicht weniger Lob verdient, als ein vortrefflicher Dichter, und daß ein richtiger Beurtheiler schwerer zu finden ist, als ein mittelmäßiger Scribent. Sein Werk ist voll scientifischer, Heller und fruchtbarer Grundsätze, und voll von denen zuversichtlichen und starken Zügen, die selbst in Irrthümern einen erhabnen Geist, von ungewöhnlicher Einsicht, bezeichnen. Ueberdem ist es beständig von einer Hitze des Styls belebt, welche zur Poesie begeistert, indem das Werk sie lehret, so daß man, mit Erstaunen und Vergnügen, den Autor, der in Versen mittelmäßig und prosaisch [44] schrieb, in Prosa zu einem edlen Poeten werden sieht. Aber wenn ich mich nicht irre, so hat dieses Werk an verschiednen Stellen mehr einen prangenden philosophischen Anstrich, als wahre Philosophie, mehr Enthusiasmus als Richtigkeit, mehr Heftigkeit als Ordnung. Statt des dialektischen Geschmackes des Aristoteles braucht der Autor von Zeit zu Zeit ein metaphisisches Geschwätze; er zerstört einige Vorurtheite, aber er befestigt andre, und macht sie so viel schädlicher, als sie von ihm durch philosophische Gründe verstärkt, und mit poetischer Pracht verziert, eindringender und reizender werden. In seinen Urtheilen könnte man bisweilen weniger Parteylichkeit, und eine feinere Zergliederung wünschen. Seine majestätische Beredsamkeit, die aber etwas trüb ist, blendet und erhitzt mehr, als sie erleuchtet. Bey allen diesem macht seine Poetik Italien und der Kunst Ehre; und seine Irrtümer haben so viel Schein, sie gränzen so nah an die Wahrheit, daß der Leser, der sich von ihnen hinreissen läßt, nicht weniger Hochachtung, als derjenige Ruhm verdient, der sie widerlegt.

Mit einem mäßigern Vorrathe von Kenntnissen, aber mit viel gesunder Vernunft spürte Muratori die Quellen des poetischen Schönen auf, und entwickelte vortrefflich die ganze Arbeit der Einbildungskraft und des Verstandes in denen Theilen, wo der Poet sich ganz zeigen kann. Aber da er durch eine Wirkung seines Temperamentes sowohl, als seines Standes, die Leidenschaften mehr verstund, als aus Erfahrung kannte; da ihm überdem [45] das zärtliche und feine Gefühl fehlte, welches die kleinsten Verschiedenheiten bemerkt, und gleichsam die Blüte des Geschmacks kann genannt werden; so wußte er auch wenig von der Poesie der Empfindung, und, was noch mehr ist, verwechselte sehr oft die Sprache der Leidenschaft mit der Sprache des Verstandes und der Einbildungskraft, welche nur über die Leidenschaft nachdenken und arbeiten, aber nicht sie ausdrücken. Er liebte die Schönheiten des Styls; aber mehr diejenigen, die an die Fehler gränzen, mehr die lebhaften als die schicklichen Farben, die prangende und unbescheidne Kunst, mehr als diejenige, die mit einer reizenden Bescheidenheit sich hinter der Natur zu verbergen und in sie zu verkleiden weiß; sein Werk scheint, in der That, oft mit dem üblen Geschmacke seiner Zeit zu capituliren.

Kurz vorher hatte Frankreich, an Peter Corneille den Vater seiner Tragödie nicht weniger, als den Stifter der tragischen Kunst gehabt. Seine kritischen Untersuchungen über seine eignen dramatischen Werke verdienen das Ansehen der Commentare des Cäsars, und der militärischen Betrachtungen des Marschalls von Sachsen. Er ist ein Feldherr, der mit offenherziger Großmuth nicht weniger von seinen Niederlagen, als von seinen Siegen spricht, und mit den einen so gut unterrichtet, als mit den andern. Es wäre zu wünschen, daß alle große Künstler uns mit gleicher Aufrichtigkeit von ihren Werken hätten Rechenschaft geben wollen. Aus ihrer eignen Erfahrung hätten sie uns die gemeimen Vortheile der Kunst, und die unerwarteten [46] Wendungen lehren können, welche die feinsten Beobachter nur undeutlich muthmaßen, und von fern anzeigen können.

Das Beyspiel des Corneille ist in Italien zum Theil vom Abt Conti nachgeahmt worden, in dessen gelehrten Vorreden man sieht, wie sehr ihm eine tiefe Kenntniß des menschlichen Herzens, der Geschichte und der Politik genügt hat, um in seinen Tragödien die drey verschiednen Perioden und Charaktere des römischen Reiches, mit einer Würde, mit einer Simplicität des Styls vorzustellen, die sich weder über das Subjekt erhebt, noch unter ihm bleibt.

Aber wenn wir wieder nach Frankreich zurück sehen, so finden wir da, durch die anfangenden Streitigkeiten zwischen den Bewunderern und den Verächtern der Alten, alle Geister in Bewegung, die Gründe der Kunst zu erforschen. Der Streit zwischen Perrault und Boileau war nur ein Scharmüzel zwischen Vortruppen. Perrault, mit einer, zuweilen wenig feinen, gesunden Vernunft, verstund weder die Sprache, noch die Gebräuche der Griechen; er war ein Fremder, der ein Land beurtheilen wollte, eh er es kannte. Aber Boileau, von der andern Seite, glaubte, daß ein witziger Einfall, eine zuweilen ein wenig boshafte Bemerkung eines oft gleichgültigen Fehlers seines Widersachers, schon genug wäre, seiner Partey den Sieg zu erstreiten.

Die Partey des Perrault wurde nachher von weit tüchtigern Anführern unterstützt. Herr de la Motte wagte über die Poesie viele kühne Urtheile, [47] und vertheidigte sie mit einer starken Vernunft. Er wußte die Logik, aber er wußte nicht, daß die Poesie ihre eigne Logik hat; er hatte viel Witz und Verstand, aber er war unempfindlich für alles andre, und schien nicht einzusehn, wie weit eine sinnreiche, ja die lebhafteste Prosa noch von der Poesie entfernt ist. Der wahre Homer, mit seinen angenehmen Fehlern, wird allzeit mehr gefallen, als des Herrn de la Motte verfeinerter Homer, mit seiner frostigen und gezwungnen Artigkeit.

Die kritische Abhandlung des Herrn Terrasson, über die Ilias, enthält die vollkommensten Regeln des epischen Gedichts; er zeigt vortrefflich die Fehler des Homers, aber sein großer Fehler ist es, daß er die Schönheiten nicht fühlt. Aus dieser Ursache vielleicht sagt Herr von Voltaire von seiner Kritik, ein wenig streng in der That, daß sie ohne Geschmack sey. Ueberhaupt kann man von den erklärten Tadlern des Homers sagen, daß sie zu viel messen und rechnen, und zu wenig fühlen. Die fanatischen Bewunderer hingegen glauben, daß sie mehr fühlen, als sie wirklich fühlen, und zeigen, daß sie weniger verstehn. Jene verfahren mit dem Homer immer, wie mit einem neuern Poeten, und einem Franzosen, sie machen einem Amerikaner seinen Proceß nach den europäischen Gesetzen. Diese mißbrauchen zu sehr die Entschuldigung, die keine Zeit und ihre Sitten ihm in der That geben; aber die Gesetze der Vernunft sind Gesetze aller Zeiten und aller Länder. Wer sie übertritt, kann vielleicht Ver[48]zeihung verdienen; aber wer Verzeihung verdient, ist der Verdammung schon nahe.

Eines der besten Bücher, die wir über diese Materien haben, ist das Werk des Abt du Bos über die Poesie und die Malerey. Seine Beobachtungen sind eben so fein als vernünftig; sie zeigen ein fühlendes Herz, und einen denkenden Kopf. Keiner hat jemals besser gewußt, als er, welches die wesentlichen Eigenschaften eines Poeten sind, und ihm die Unsterblichkeit versichern, noch auf welche Gründe die Beurtheilung poetischer Sachen gestützt werden müsse. Er wagte, an das Gericht des Volkes, das von der Natur unterrichtet ist, von dem unrechtmäßigen Richterstuhle frostiger Kunstrichter zu appelliren. Diese, denen es an Empfindung fehlt, welche die Seele des Geschmacks sowohl als des Genies ist, können nicht anders urthellen, als wie der blinde Philosoph, welcher entschied, daß die rothe Farbe dem Schall der Trompete ähnlich sey. Gleichwohl scheint es, daß Herr du Bos, da er einen Fehler ausrotten will, bisweilen in den entgegengesetzten fällt, daß er bey den Scribenten gar zu leicht die Flecken unter den Schönheiten übersieht, und das durch übermüthigen Köpfen Gelegenheit geben kann, sich dem Instinkt und der Phantasie zu überlassen. Poeten müssen in der That nicht, wie kleine Vögel, am Faden gehalten werden; sie mögen immer frey, wie der Falke, die Luft durchstreichen, aber sie müssen nur bey dem ersten Winke auf die Hand zurückkehren.

[49] Des Herrn Fontenelle Betrachtungen über die Poesie sind von diesem Fehler frei, sie sind methodischer, und eben so vortrefflich. Man merkt in ihnen den philosophischen Geist, den man sich hüten muß mit dem geometrischen, wie viele thun, zu verwirren. Das Urtheil des Herrn Clement, welcher sagt, daß in Fontenellens Poetik kein Geschmack der Poesie ist, kann nicht anders als seltsam und ungerecht scheinen.

Des Herrn von Voltaire Versuch über die epische Dichtkunst ist des Dichters der Henriade würdig. Die richtige Vernunft in seinen Grundsätzen, die Unparteylichkeit und Feinheit in seinen Urtheilen, sind geschickt, einen Poeten aller Nationen zu bilden, wie er selbst es ist, wenn nämlich ein poetisches Genie sich findet, das dem seinigen gleich ist.

Das Werk des Herrn Batteux ist äußerst nützlich, den Geschmack der Anfänger zu bilden, und der Discurs, den er dem Werke vorgesetzt, kann die Erfahrnen aufklären. Aber in der Anwendung seiner Grundsätze, besonders auf die Tragödie, und das epische Gedicht, zeigt er sich ein wenig zu eingenommen für die gemeinen Meynungen.

Viele Grundsätze des Geschmacks, viel philosophisches Licht, viele feine und richtige Beurtheilungen sind in des Herrn Pamiers Theorie der angenehmen Empfindungen verstreut, in den Discoursen und Vorreden des Abts Conti, in dem englischen Zuschauer, in des Herrn Pope Versuch über die Kritik, und seinen Anmerkungen und Abhandlungen über den Homer, in dem Discours des Ritters Tem[50]ple über die Poesie, in dem Buche des Herrn Helvetius, und in der Abhandlung des Herrn Hume über die Regel des Geschmacks, die ein wahrer Leitfaden durch dieses verwickelte Labyrinth ist, in welchem, beym ersten Anblicke, sich der Ausgang unmöglich zu finden scheinet.

Durch die Bemühungen dieser berühmten Männer scheint die Poetik, in unsern Zeiten, den höchsten Grad ihrer Vollkommenheit erreicht zu haben. Diesem ungeachtet däucht mir, daß noch, besonders in Italien, ein mehr methodisches, allgemeineres Werk, von einem weitern Umfange, fehle, in welchem, unabhängig von allen Exempeln, von aller Authorität, und allem eingeführten Gebrauche, die ersten Spuren der Poesie in der Seele und in dem Herzen des Menschen aufgesucht, Schritt vor Schritt, unter Anleitung der Vernunft, die man nie aus den Augen verlieren dürfte, verfolgt, und die Regeln aus ihrer ersten Quelle hergeleitet werden müßten, indem man dabey die wesentlichen, in der Natur liegenden, von denen unterschiede, die erst ein feineres Nachdenken und die Schicklichkeit hervorgebracht. Diese Regeln müßten in eben der Ordnung vorgetragen werden, in der sie entdeckt worden sind, ohne die Seele des Lesers, durch Definitionen einzuschränken, oder zu unsern Meynungen vorzubereiten, da Definitionen, ohne vorhergehende Beobachtungen, weder richtig gemacht, noch verstanden werden können. Ein solches Werk müßte die allgemeinen Schönheiten der Natur nach ihrem innerlichen Werthe schätzen, und von den örtlichen und besondern un[51]terscheiden lehren; es mußte endlich einmal die lächerlichen Vorurtheile für Alte und Neuere, für Fremde und Einheimische, verbannen, die Religion, die Gesetze, die Sitten aller bekannten Völker untersuchen, und den Einfluß, den sie nothwendig auf die Poesie haben müssen, die Vorurtheile, und die Vortheile, die daher entspringen, und den vernünftigen Gebrauch, der davon gemacht werden kann, anzeigen. Und diesen Gebrauch der verschiedner Sitten, nicht die Sitten selbst, müßte eine vernünftige Kritik der vornehmsten Poeten treffen, eine Kritik, welche das Genie leiten, und den Geschmack so bilden könnte, daß mitten unter dem Kampfe so viel verschiedner Meynungen und Sitten, und in der weiten Entfernung der Länder und der Zeiten, die vollkommne Poesie durchgehends erkannt und empfunden würde, und dasjenige, was sie Fremdes hat, nicht uns abscheuchte, sondern vielmehr diente, ihr in unsern Augen den Reiz der Neuheit zu geben, sie lehrreicher und ergötzender zu machen. Vermittelst einer solchen Methode würde man über die wahren Regeln ein Licht streuen, das dem Zweifel, der Zweydeutigkeit einer ungewissen Kunst keinen Raum mehr ließe, die sich auf weitschweifige und erbettelte Grundsätze stützt; man würde eine Wissenschaft daraus machen, die der Demonstration fähig wäre; man würde sich gleich weit von der Ausschweifung entfernen, die alle Regeln verwirft, und von der, die mit dem Zirkel in der Hand poetische Schönheiten messen wil; von der, die alles durch fremde Sitten zu rechtfertigen glaubt, und von der [52] die von allem nach den Sitten unsrer Nation urtheilt; man würde tausend wilkührliche Regeln verwerfen, und tausend eitlen Streitigkeiten vorbeugen; man würde die lächerlichen ausschließenden Ansprüche, und den eklen Geschmack verbannen, und dadurch tausend ungerechte Urtheile verhindern; man würde endlich jedem Dichter den verdienten Grad des Ruhms sichern, dessen ihn das Vorurtheil gemeiniglich bey seinem Leben beraubt, und den wenige, selbst nach ihrem Tode, in gerechtem Maaße erhalten.

Unter solchen Aussichten habe ich mir den Plan eines Werkes entworfen, von welchem ich mich itzt begnüge, der Welt den bloßen Umriß vorzulegen. Das Werk sollte in zwey Bücher, und das erste Buch in zween Theile getheilt werden. Im ersten würde man von dem Fall anfangen, da noch keine Poesie, keine Poetik existirt, und würde sich bemühen, die Spur zu erforschen, auf welcher ein aufgeklärter denkender Kopf, (von welcher Nation ist gleichgültig,) die Moglichkeit einer solchen Kunst hätte gewahr werden, und wie er auf demselben Wege sie zur Vollkommenheit hätte bringen können. Jeder würde die Poesie sich, so zu sagen, in den Händen entstehn und wachsen sehn, und sich von der Wahrheit der Grundsätze durch das Zeugniß seiner eignen Empfindung versichern können. Im zweyten Theile würde man, unabhängig von allem was wirklich geschehen, bloß vermittelst der Vernunft erforschen, welche Bestimmungen die Poesie von den verschiednen Religionen, den verschiednen [53] moralischen und politischen Systemen verschiedner Völker bekommen muß. Das zweyte Buch würde, die Geschichte der Poesie aller Nationen, und eine unparteische Zergliederung der Werke der berühmtesten Dichter enthalten, die zum Exempel und Beweis desjenigen dienen würde, was im vorhergehenden Buche blos durch Schlüsse entdeckt worden wäre. Den Vorsatz, eine philosophische Geschichte der Poesie zu entwerfen, hatte schon der Abt Conti gefaßt, welcher in der Vorrede zu seinen Werken einen prächtigen Prospekt dieser Geschichte eröffnet, der seiner ausgebreiteten Litteratur, und seinem systematischen Geiste gleich ist. Auch noch itzt würde unter uns die gelehrte Feder des vortrefflichen Herrn Sebastian Molino fähig seyn, diese weite Laufbahn zu durchlaufen. In einem Manuscripte, das er vor vielen Jahren entworfen, und sehr würdig ist, der Welt bekannt zu werden, handelt er von dem Ursprung der Poesie, mit Erhabenheit in den Grundsätzen, in einer edlen Schreibart, und mit einer ungewöhnlichen Gelehrsamkelt. Man würde wünschen müssen, daß er wieder ganz zu diesen Studien zuruckkehren möchte, wenn ihn nicht seine Würde bey wichtigern und heilsamern Gegenständen zurückhielte.

Was mich betrifft, so erkenne ich wohl, daß ein solches Unternehmen weit mehr Genie und Gelehrsamkeit erfodert, als ich besitze; doch ist es nicht unmöglich, daß ich mich nicht einmal noch zur Ausführung entschließe. Diesem ungeachtet soll es mir nicht verdrüßlich seyn, wenn ein andrer mir zuvor[54]kömmt, und ich werde mich befriedigen, den Weg angezeigt zu haben, den ich für den besten und den sichersten halte.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[15] *) Man darf nur die Ideen, die uns die alten Poeten, welche die Gottesgelehrten des Heydenthums gewesen, von der Gottheit gegeben, mit den Ideen der hebräischen Poesie vergleichen. In dieser allein sieht man Gott, in den andern die Ausschweifungen der Menschen.   zurück

[20] *) Der Autor kann, auch in der größten Strenge, dieses unmöglich anders als mit Ausnahmen verstehn.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste.
1766, Bd. 2, Stück 1, S. 1-54.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

Übersetzt: Johann Nikolaus Meinhard.


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Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: Cesarotti

Cullhed, Anna: The Language of Passion. The Order of Poetics and the Construction of a Lyric Genre 1746 – 1806. Frankfurt a.M. u.a. 2002 (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 18, 104).

Luserke-Jaqui, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung Stuttgart u. Weimar 1995.

Michler, Werner: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750 – 1950. Göttingen 2015.

Regan, John: Poetry and the Idea of Progress, 1760-1790. London 2018.

 

 

Literatur: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste

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Habel, Thomas: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007 (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 17).

Klingenberg, Anneliese: Ein Projekt zur Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. In: Sächsische Aufklärung. Hrsg. von Anneliese Klingenberg u.a. Leipzig 2001, S. 173-196.

Kuhles, Doris: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik. Bibliographie der kritischen Literatur von den Anfängen bis 1990. 2 Bde. München u.a. 1994.

Schürmann, Inga: Die Kunst des Richtens und die Richter der Kunst. Die Rolle des Literaturkritikers in der Aufklärung. Göttingen 2022.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer