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Editionsbericht
Literatur
[1] Die Dichtkunst überhaupt, und deren besondere Gattungen, die Wirkungen einer jeden von denselben, die Einrichtung der Fabeln, in einem regelmässigen Gedichte; die Anzahl und Beschaffenheit der Theile dieser Wissenschaft; und was sonst in diese Materie einschlägt; soll der Vorwurf unserer Abhandlung seyn. Wir wollen nach der Vorschrift der Natur, von den ersten Grundsätzen den Anfang machen.
[2] Das Heldengedicht, das Trauer- und Lustspiel, die Dithyramben 1. und die meisten Stücke der Flöte und Leyer, 2 sind überhaupt Nachmungen. Jedoch mit einem dreyfachen Unterscheide: welcher durch die Verschiedenheit der Werkzeuge und Mittel, oder der Materie, oder endlich der Art der Nachahmung bestimmet wird 3. Denn wie die Maler vermittelst der Farben und Figuren, theils durch die Kunst, theils durch die Uebung allein, Schildereyen machen, zum Theil aber beydes (Kunst und Uebung) mit einander verknüpfen 4 so geschehen auch in den oberwähnten Künsten alle Nachahmungen durch die Abmessung, Rede und Wohlklang einzeln, oder zusammen genommen. 5
1.)
[69] Dithyramben. Eine Art Lieder, die ihren Namen vom Bacchus haben, als welcher
unter fast unzählbaren Namen auch Dithyrambus hieß. Die Grammatici haben sich große
Mühe gegeben, den Urpsrung dieser Benennung zu erforschen: nach vielen
unwahrscheinlichen Muthmaßungen aber lassen sie uns in der vorigen Ungewißheit.
Der Ursprung der Dithyramben kömmt von den Festen der Landleute, auf welchen
man das Lob des Bacchus in ungekünstelten Liedern, und gemeiniglich mit trunkenem
Munde erhob. Auch in den spätern Zeiten blieben das Unregelmäßige, und die einer
Raserey gleichkommende Trunkenheit die wesentlichen Eigenschaften dieser Gedichte.
Epicharmus saget uns
a)
Keiner wird einen Dithyramben machen, der Wasser trinkt:
und Plato fodert ausdrucklich in den Dithyramben eine Begeisterung, und etwas
Göttliches
b).
Die wirkliche oder verstellte Trunkenheit rechtfertigte den Gebrauch
schwülstiger
Redens[70]arten, und ungewohnter Wörter: insbesondere aber bedienten sie sich
ungeheurer Zusammensehungen, wovon im Aristophanes Beyspiele sind. Nächstdem
waren sie von der Musik und dem Tanze vergesellschaftet, und ward insbesondere
die phrygische oder stärkste Melodey daben gebraucht. Mir scheint glaubwürdig, daß,
wie sie die erste Gelegenheit zur Tragödie gegeben, so auch aus ihnen der erste
Begriff der Ode, insbesondere der pindarischen, entstanden sey. Wenigstens erkennet
Horaz selbst an dem Pindar die neuen Worte und Kühnheit der Dithyramben. Man ist
streitig wegen der ersten Erfinder dieser Gedichte. Svidas
und der Scholiast des
Pindars geben diese Ehre dem Philoxen:
Herodotus aber schreibt sie dem zärtlichen
Delphinenfreunde Arion zu
c).
Wir können wenig Zuverläßiges von der wahren
Beschaffenheit dieser Gedichte sagen, weil alle Dithyrambendichter so wohl, als
Demosthenes Buch von dieser Art Gedichten, verloren gegangen. Bey den Römern
waren diese Gedichte wenig bekannt, denn die Stelle des Cicero, woraus das
Gegentheil zu erhellen scheint, ist billig nach des Lambinus
und Voßius Leseart
zu verbessern, und minus für magis zu lesen
d).
Herr Dacier hat sich bemühet, den Scheinwiderspruch zwischen
dem Plato und Aristoteles
zu heben. Der letztere nennet die Dithyramben eine Nachahmung; der erstere aber leugnet
es
e).
Sieht man aber die Worte Platons in ihrem ganzen Zusammenhange an, so versteht
er durch die Nachahmung nur die Einführung redender Personen, und kennet also keine
nachahmende Gedichte, als nur das Trauerspiel, Lustspiel, und die Stücke des
Heldengedichts, wo der Poet nicht selbst redet: Aristoteles hingegen leget
diesen Namen der Abbildung eines jeden Urbildes bey, das die Natur enthält,
oder enthalten kann.
[71] 2) Die meisten Stücke der Flöte und Leyer.
Ueberhaupt betrachtet, ist alle Musik eine Nachahmung der natürlichen Folge der Töne.
Allein bey den Griechen schrieb man ihr noch eine andere Art der Nachahmung,
und einen kräftigen Einfluß in die Gemüther der Menschen zu. Nach dem Theophilus
f)
ist die Bildung der Sitten, und Besänftigung der Leidenschaften, ein Werk der Musik.
Herr Dacier glaubet, Aristoteles habe mit dem Zusatze,
die meisten Stücke, sein Absehen
hierauf gerichtet: und also der Musik, die nicht mit Leidenschaften umgeht, den Namen
der Nachahmung abgesprochen. Vielleicht aber könnte man auch sagen, daß Aristoteles
in diesen Worten eine schlechte Musik zum Augenmerk gehabt, die die natürliche Folge
der Töne nicht beobachtet, und folglich auch den Namen einer Nachahmung nicht verdienet.
3) Jedoch mit einem dreyfachen Unterscheide — bestimmt wird.
Die vom Aristoteles
angegebene Ordnung ist in dem Wesen der Dinge gegründet. Denn die Nachahmung
muß entweder 1. mit verschiedenen Werkzeugen, oder Mitteln geschehen z. B. den
Beyschlaf des Mars und der Venus kann der Maler mit dem Pinsel,
und der Dichter
mit Worten abschildern, ja, wo wir dem Lucian glauben, kann man durch die
Bewegung der Füße oder durch den Tanz die ganze Geschichte lebhaft abbilden.
2. Die Nachahmung kann verschiedene Vorwürfe zum Grunde haben: Virgil sang
einen Heiligen, und Homer einen Unsinnigen. 3. Die Art der Nachahmung ist
verschieden, indem sie entweder durch die Erzählung des Poeten, oder durch
die Ausführung anderer Personen geschieht.
4) Denn wie die Maler — mit einander verknüpfen. Die Anwendung dieses
Gleichnisses von den Malern auf die nachahmenden Künste ist im Terte klar
genung. Der griechische Text aber ist hier großen Schwierigkeiten unterworfen.
Die Worte desselben lauten in der
[72] du Vallischen Ausgabe also: ὥσπερ γὰρ και χρώμασι καὶ σχήμασι πολλὰ μιμῦνται
τινες ἀπεικάζοντες, ὁι μὲν διὰ τέχνης, ὁἱ δὲ διὰ συνηθείας, ἕτεροι δὲ διὰ τῆς φωνῆς;
ἕτω κἂν ταῖς εἰρημέναις τέχναις, ἅπασαι μὲν ποιῦνται τὴν μίμησιν ἐν ῥυθμῷ καὶ λόγῳ
καὶ ἁρμονία τέτοις δ ̓ἢ χωρίς ἢ μεμιγμένοις.
Diese Worte haben unterschiedliche Streitigkeiten erreget. Der Unterscheid zwischen
τέχνην und συνήθειαν hat dem Madius Mühe gemacht, solches von den Malern zu
erklären. Er nimmt also an, daß hier von den Phonascis geredet werde, die durch
die Gewohnheit zur fertigen Nachahmung der Stimmen gelangen; welches aber offenbar
dem Texte Gewalt gethan heißt. Denn obgleich das Wort ἀπεικάζοντεs auch auf die
Nachahmung durch die Stimme könnte gezogen werden, so leidet doch der Zusammenhang
solches nicht: denn die Mittel, wodurch die Nachahmung vollzogen wird, sind Farben
und Figuren; diese aber sind Vorwürfe der Maler und Bildhauer. Die Gewohnheit ist
auch hier der Kunst nicht so ungereimt entgegen gesetzet, weil sie sich auf die
natürliche Geschicklichkeit gründet, und also hier einen Maler bedeutet, der
durch natürliche Geschicklichkeit und Uebung die Bilder der Dinge trifft. Averroes
hat in Betrachtung dessen, in seiner Umschreibung des Aristoteles, συνήϑεια
durch habitum et dispositionem übersehet. Die größte Schwierigkeit macht das Wort
φωνή. Victorius hat sich zwar große Mühe gegeben, es zu erklären, und Madius
nimmt gar zu einer Versehung der Worte seine Zuflucht. Allein die Stelle wird
allemal unendlich dunkel bleiben, weil die Nachahmung durch die Stimme sich zu
dem Maler und Bildhauer nicht schicket. Alle diese Schwierigkeiten fallen weg,
wenn man, anstat διά φωvῆς (durch die Stimme,) lieset δἰ ἀμφοῖν (durch beyde:).
d. i. durch die Kunst und Uebung zugleich.
Du Val und Dacier versichern, daß
dieses die Leseart verschiedener Exemplare sey; wenigstens hat Riccobonus ein
solches Exemplar vor Augen gehabt; denn er hat übersetzet
[73] vtrisque. Die Folge des aristotelischen Gedankens ist also folgende:
Die Nachahmung der Maler geschieht durch Kunst oder Natur.
Diese beyden Mittel sind bey ihnen entweder verknüpfet oder getrennet.
Die Nachahmung der Dichtkunst, und anderer dergleichen Künste, geschieht durch Abmessung, Rede und Wohlklang.
Diese drey Mittel sind entweder einzeln oder zusammengenommen.
Die Absicht des aristotelischen Gleichnisses kommt also vornehmlich auf die Begriffe
einzeln und zusammengenommen an. Die Ausleger des Aristoteles, als Madius,
Lombardus, Victorius, fehlen daher, wenn sie diese Worte in den folgenden
Verstand ziehen. Dacier findet noch eine andere Schwierigkeit. Er will an Statt
διὰ τέχνης geschrieben wissen διὰ τύχης von ungefähr; welches den Ursprung der
Malerey erklären würde. Allein mit aller der Ehrerbietigkeit, die man einem so
großen Manne schuldig ist, muß ich sagen, daß der Zweck Aristoteles keines
Weges erfodere, ja nicht erlaube, den Ursprung der Malerey zu erklären: sondern
er setzet die wirklichen Mittel, und Werkzeuge der malerischen Nachahmung den
wirklichen Mitteln und Werkzeugen der poetischen Nachahmung entgegen, und geht
ihn der Unterscheid der Maler weiter nicht an.
5) So geschehen auch alle Nachahmungen durch die Abmessung — zusammen genommen.
Das griechische Wort ῥυθμὸς hat einen sehr allgemeinen Verstand, und bedeutet
überhaupt ein Maaß, wie es denn von dem Pulse in der Medicin, dem Tacte in der
Musik, und dem Falle in den Gedichten gebrauchet wird. Aristoteles aber versteht
hier durch Rhythmus die Bewegung des Leibes, wie Victorius gründlich bemerket. Es
erhellet dieses daraus, weil er ihn, von der Harmonie unterscheidet,
[74] und zum wesentlichen Theile des Tanzens machet. Rede bedeutet einen jeden
Ausdruck durch Worte, und kann gebunden oder ungebunden seyn. Harmonie ist hier
so viel als Gesang oder Musik. Dacier führt eine Stelle Platons
an, wo ausdrücklich
diese Erklärung der Harmonie gegeben wird.
[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]
[69] a) Athenaeus Lib. XIV. p. 628. ex edit. Casaub.
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[69] b) Plato in Phaedro p. 341. ex edit. Marsil. Ficini.
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[70] c) Plutarch, Clio, c. 4.
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[70] d) Cicero in Orat. perfect. Vossius de Institut. poet. Lib. II.
c. 1. §. 7. et Lib. III. c. 16. §. 8.
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[70] e) Lib. III. de republ. p. 435.
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[70] f) Athenaeus Lib. XIV. c. 5. conf. Aristot. Lib. VIII. de republ.
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Druckvorlage
Aristoteles Dichtkunst,
ins Deutsche übersetzet, Mit Anmerkungen, und besondern Abhandlungen versehen,
von Michael Conrad Curtius.
Hannover: Richter 1753, S. 1-2 u. 69-74.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://books.google.fr/books?id=zaZeAAAAcAAJ
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10234945
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Lyriktheorie » R. Brandmeyer