Johann Adolf Schlegel

 

 

Von der Eintheilung der Poesie.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Johann Adolf Schlegel

 

Nichts scheint natürlicher und ungezwungner zu seyn, als der Grund, den Herr Batteux von der Eintheilung der Poesie in ihre verschiedne Gattungen angiebt *, "Wie es Götter, Könige, bloße Bürger, Schäfer, und Thiere giebt, und die Kunst ihren Gefallen daran gefunden hat, dieselben in ihren wahren und wahrscheinlichen Handlungen nachzuahmen: So giebt es auch Opern, Trauerspiele, Lustspiele, Schäfergedichte, und Fabeln." Man wunschte, daß diese Eintheilung eben so wahr seyn möchte, als natürlich sie klingt; aber eben das, daß sie allzunatürlich klingt, eben das macht sie verdächtig.

Diejenigen Regeln der Sprachkunst sind gemeiniglich nur halb wahr, die ein allzuleichtes Ansehen haben; und die Poesie ist eben so wenig, als die Sprachen, methodisch erfunden worden. Das Genie hatte zu der Zeit, da es die Gattungen der Poesie entdeckte, vielleicht nicht einmal den Vorsatz, zu erfinden; es such[307]te nicht mit einem philosophischen Auge auf, was es wohl für Gegenden in der Poesie geben könnte; es fand, ohne zu suchen; die Gelegenheit, die Beschaffenheit seines natürlichen Charakters, ein gewisses glückliches Ohngefähr lenkten seine Blicke eher auf diese, als auf jene Seite; es ließ sich an der Entdeckung und Anbauung Einer Gegend begnügen; und wie manchmal die fernsten unbekannten Länder eher gefunden werden, als die nahgelegnen, so bemerkte es vielleicht eher die Untergattung, als es die Hauptgattung wahrnahm.

Unsre Vorfahren theilten die ganze bewohnbare Erde in drey Welttheile ab, und glaubten fest, daß es weiter keinen geben könnte. Zum Erstaunen aller ist noch einer erfunden worden, der fast von einem eben so großen Umfange ist, als alle übrigen dreye zusammen. Und wer weis, nöthigt nicht unsre Nachkommen einmal ein besondrer Zufall, der unsre Seefahrer mehr gegen den Süderpol zuführt, noch einen fünften hinzuzufügen? Laßt uns eben dieß von der Poesie sagen! Nichts läßt sich bey ihr schwerer bestimmen, als eine gewisse Anzahl von Gattungen, auf die sie sich einzuschränken genöthigt seyn soll. Die Alten wußten bis auf die Zeiten Lucils von der poetischen Satyre wenig, oder nichts. Unsre Zeiten haben die Oper, das Schäferspiel, die poetische Allegorie, die Cantate, und verschiedne andre besondre Gattungen von Schauspielen und Liedern erfunden, welche neue Namen [308] verdienten; und laßt uns so gerecht seyn, und glauben, daß unsre Nachkommen vielleicht noch andre Gattungen hinzufügen, und sich wundern werden, daß sie den Genien unsrer Zeiten verborgen geblieben sind.

Eine so nothwendige Anzahl dieser Gattungen, daß keine mehr, und keine weniger, möglich sey, wird sich niemals bestimmen lassen. Vielleicht würden wir in Erfindung derselben noch glücklicher seyn, wenn wir nicht zu schüchtern wären, von den Fußtapfen der Alten manchmal abzuweichen, da wir öfters nicht dazu gemacht sind, ihnen auf ihrer Bahn zu folgen, und durch neue Wege vielleicht eher zu dem allgemeinen Ziele gelangen würden. Noch schïchterner macht die guten Köpfe das ängstliche Geschrey derer, bey welchen die so gerechte Hochachtung gegen die Alten sich in einen gewissen abergläubischen Eigensinn verwandelt hat. So bald sie eine Arbeit eines neuern Dichters erblicken, die nicht der Arbeit eines ältern ähnlich sieht, ja fast eine Copie derselben ist: So beschuldigen sie den Urheber derselben, daß er den Geschmack verderbe. Und wer wird gern diese Beschuldigung auf sich kommen lassen wollen? Oder welcher Dichter wird so uneigennützig, und gegen die Belohnung, die er in dem Genusse des Beyfalls sucht, so gleichgultig seyn, daß er sich von seinen Zeiten geruhig schmähen lassen sollte, in der ungewissen Hoffnung, daß die Nachwelt unparteyischer seyn werde?

Wie viel Stürme hat nicht die Oper auszuhalten gehabt, ehe sie ihren Platz behaupten können! Der beißende Boileau war dem sanften Qvinault ein allzufurchtbarer Gegner. Die Stärke, die er in der Kritik besaß, war ein so mächtiges Vorurtheil für seinen Ausspruch, daß er so gar die Kenner mit hinriß; und durch die Satyre zog er den großen Haufen auf seine Seite. Selbst die Aussöhnung der beiden Dichter konnte die übeln Begriffe nicht auslöschen, die man einmal wider den Qvinault gefaßt hatte. Nur erst nacher, nachdem die Parteyen ausgestorben waren, haben die neuesten besten Kunstrichter, ein du Bos, ein Remond von Saint Mard, ein Batteux auf das Grab dieses Lieblings der Grazien mit vollen Händen Blumen gestreut, und die Kenner mit seiner Muse wieder ausgesöhnt.

Die Poesie ist ein Stamm, der sich nicht auf einmal in alle seine Aeste ausgebreitet hat, und dessen Kräfte auch noch nicht so erschöpft sind, daß nicht vielleicht noch künftig neue Aeste, die wir nicht vermutheten, daraus hervorsprießen könnten. Seine Aeste haben sich in so viele Zweige zertheilt, welche wieder manchmal die Stärke der Aeste erlangt, oder sich so fest in einander verschlungen haben, daß nichts schwerer ist, als ihre Anzahl festzusetzen, oder die Hauptgattungen von den Untergattungen zu unterscheiden.

[310] Es ist wahr; die Dichtkunst muß den Grund zu allen ihren Werken aus der Natur schöpfen. Nach den Stufen der Wesen, die ihre Gegenstände seyn müssen, würden sich alsdann wenigstens die Hauptgattungen festsetzen lassen, wenn der Gegenstand allein die Beschaffenheit einer Dichtungsart bestimmte. Alsdann würde richtig seyn, was Herr Batteux sagt: daß, nämlich, die Verschiedenheit, die sich in einerley Art unter den Gegenständen selbst findet, der Grund einer zweyten Eintheilung jeder Dichtungsart werden könne *. Aber so hat das Genie, wenn es eine erfunden, nicht bloß den Gegenstand vor Augen gehabt, sondern es hat sich den Gesichtspunkt, aus welchem es ihn zeigen will, zugleich dazu gedacht, und selbst die Art, wie es den Gegenstand aus diesem Gesichtspunkte vorstellen will, ob sie episch oder dramatisch seyn soll; selbst diese hat einen Einfluß in das Wesen derselben. Ja, ich glaube, daß es so gar darauf ankommt, ob das Auge, das den Gegenstand betrachtet, fröhlich oder schwermuthig, muthwillig oder sanft sey. Dieser Unterschied kann manchmal selbst einerley Gegenstände, aus einerlen Gesichtspunkte auf einerley Art gezeigt, so verschieden machen, daß ganz verschiedne Gattungen daraus werden, von denen jede ihre besondern Regeln fodert.

Wenn die Eintheilung des Herrn Batteux die Hauptgattungen der Poesie festsetzte: So [311] müßten in der Oper allezeit Götter sprechen; so müßte die Lobode auf Könige und Helden ein Zweig des Trauerspiels, und die Satyre ein Zweig des Lustspiels seyn; folglich müßten die Lobode und die Satyre sich auf die Regeln des Trauerspiels und Lustspiels gründen, mit denen sie doch nicht einmal so viel Aehnlichkeit haben, als beide untereinander; und so müßten ein Phädrus, ein la Fontaine, ein Hagedorn, ein Gellert dem Wesen und den Hauptregeln der Fabel zuwider gehandelt haben, wenn sie bald Menschen mit Thieren zugleich, bald Menschen allein darinnen aufgeführt. Daß das Schäfergedichte keine Nachahmung von dem Stande des Bauern sey, glaube ich, in der letzten dieser Abhandlungen erwiesen zu haben. Und wenn ja der erste Gedanke, der zur weitern Ausbildung desselben Anlaß gegeben, aus der existirenden Natur geschöpft worden: So ist er vielleicht mehr aus einer dunkeln Erinnerung der ältesten Zeiten, wo der Schäferstand einer der angesehensten war, als aus der Betrachtung des mühseligen Standes des Landmannes, hergeflossen. Unter welche Gattung aber soll ich die Elegie; wohin soll ich die Ode rechnen, die doch Herr Batteux selbst in dem ruhigen Besitze ihrer Stelle läßt?

Wie es Götter giebt, sagt er, so giebt es auch Opern; und dieser Schluß ist sein Leitfaden, den er nicht verläßt, wenn er die Gesetze der Oper erklären will. Also sind das keine [312] Opern, in denen keine Götter reden? Eben so wie die ersten Bestreiter der Oper sich die Regeln des Trauerspiels von den Mustern der alten und neuern großen tragischen Dichter abzogen, und darum das lyrische Trauerspiel verwarfen, weil es kein Trauerspiel in der Form des Sophokles oder Corneille war: So bildet sich Herr Batteux seinen Begriff von der Oper bloß nach den Arbeiten des Qvinault; und folgert daraus, daß die Personen, die uns die Oper vorstellt, Götter oder Halbgötter seyn müssen. Dieser Umstand war gleichwohl etwas zufälliges. Qvinault wählte vielleicht nur darum Götter, damit sich die Pracht seines Königs in ihrem vollen Glanze zu zeigen im Stande wäre; und die Baukunst und Mechanik alle ihre Zaubereyen anbringen könnten.

Es mag seyn, daß diese Wahl der Personen der musikalischen Sprache etwan einen Grad der Wahrscheinlichkeit mehr giebt! Aber wer wird wohl in der Clemenza di Tito des Metastasio noch zu fragen fähig seyn, warum seine Helden nicht Götter, sondern Menschen sind; und wie sich hier diese lyrische und musikalische Sprache rechtfertigen lasse? Dieser Zweifel wird ihm so wenig einfallen; so wenig, als es einem Manne von Geschmacke anstößig seyn wird, daß in dem Trauerspiele die Helden scandiren, und reimen. Dieser erwartet keine Nachahmung der Natur in Prosa, sondern in Versen; und jener keine bloß poetische Nachahmung [313] sondern eine, die zugleich poetisch und musikalisch ist. Die Gesellschaft eines Metastasio oder Pallavicini macht dem Qvinault keine Schande; und wenn uns auch die harmonischere Sprache der Oper alsdann glaublicher vorkömmt, wenn die, die singen, Götter sind: So machen sie dagegen das Wunderbare nicht zu gemein oder beschwerlich; das, so reizend es auch ist, doch endlich ermüdet, wenn es verschwendet wird.

Die Oper entfernt sich von der wirklichen Natur noch um einen Grad weiter, als das Trauerspiel; aber wird darum das in der Oper aufhören, wahrscheinlich zu seyn, was nicht wunderbar ist? Den Nachahmungen der Bildhauerkunst fehlen die Farben der Natur, die den Nachahmungen der Malerey eigen sind. Würde man daraus wohl folgern können, daß die Bildhauerkunst nichts als höhere Wesen, nichts als Götter, vorstellen dürfe, weil dadurch gewissermaasen die Unähnlichkeit, die bey ihren Statuen, wenn sie gegen Menschen gehalten werden, sogleich ins Auge fällt, verdeckt oder glaublicher gemacht würde? Der müßte sehr unbillig seyn; der sich daran stoßen wollte, daß die Musik in harmonischern Tönen nachahmt, als die theatralische Declamation; und ihr die gewöhnliche Sprache zumuthen, hieße, von der Poesie Prosa fodern.

Unter den Schauspielen waren diejenigen, welche durch die traurigen Schicksale der Helden das Mitleid erweckten, und durch die Thor[314]heiten des bürgerlichen Standes belustigten, die ersten, welche man erfand. Das freye Griechenland war, ihr Geburtsort, und ob man gleich den unglücklichen Helden sein Mitleid nicht versagte; so empfanden doch vielleicht diese Völker, die so große Feinde der monarchischen Regierung waren, eine heimliche Freude, daß man ihnen Anlass gab, in den kleinen Fehlern selbst der besten Könige den Ursprung von den Zerrüttungen der Staaten zu suchen, und sich in ihrer Abneigung von der monarchischen Regierung zu bestärken. Eben so gern sahen sie es, daß man ihnen ihre Mitbürger, und besonders diejenigen, lächerlich machte, so das Staatsruder führten, weil auch der geringste glaubte, daß er den Staat beherrschen hülfe, und durch die Freyheit, über andre zu lachen, ihm dieses Vorrecht bestätigt, und seine Gleichheit mit allen Mitbürgern bewiesen würde. Man arbeitete diese beiden Gattungen aus; man brachte Meisterstücke darinnen hervor, und man gewöhnte sich nach und nach diese für die beiden einzigen möglichen Gattungen des Schauspiels zu halten.

Als daher vornehmlich in unsern Zeiten einige glückliche Geister auf andre Arten der Schauspiele fielen; So konnten sich ihre Werke, wenn sie nicht das Vorurtheil gegen sich reizen wollten, unter keinem andern Namen einschleichen, als unter dem Namen der Comôdie, der geschickter dazu war, als der Name der [315] Tragödie; weil die Exempel der alten und neuern tragischen Dichter einmal uns in die Verfassung gesetzt hatten, nichts als Könige und Helden, und besonders einen hohen Ton zu erwarten, zu dem die Vorstellung solcher Personen, denen er gemäß war, uns gewohnt hatte. Zudem sondert sich der größre Theil derer, die über Werke des Witzes urtheilen, seinen Begriff von dem Wesen einer Dichtungsart allezeit mehr von dem Gegenstande, als von der Art ab, wie er vorgestellt worden. Kaum aber wollten sie sich in den Besitz des Beyfalls setzen, so nahmen andre ihre Unähnlichkeit mit der Comödie wahr. Man hatte in denselben bisher allezeit gelacht; man hatte es darum zur Regel gemacht, daß dieselben allezeit das Lachen erregen müßten. Eine Comödie, in der man Unruhe und Mitleiden fühlen, in der man weinen sollte, schien eine Misgeburt, ein Ungeheuer, zu seyn; denn man hatte ja in keiner Comödie des Aristophanes, des Plautus, des Moliere geweint. Und gewisse Kunstrichter, deren Blicke in einen zu engen Kreis eingeschlossen sind, als daß sie das weitläuftige Gebiete der Natur auch nur zur Hälfte sollten überschauen können, und denen keine Nachahmung derselben gefällt, wenn sie nicht Aristoteles mit ausdrücklichen Worten dazu berechtigt, würden noch itzt ihre Pflicht zu verrathen glauben, und bey der Nachwelt für Leute angesehen zu werden fürchten, die in den Verfall des Geschmacks gewilligt hatten, wenn sie [316] nicht nach allem Vermögen dawider eiferten, und aufs feyerlichste protestirten.

Um allem Irrthume vorzubeugen, würde es gut gewesen seyn, wenn man neue Namen dazu erfunden, oder sie das bürgerliche Trauerspiel genannt hätte. In der That haben diese neuen Gattungen mit der gewöhnlichen Comödie fast nichts gemein, als die allgemeinen Regeln des Schauspiels. Des de la Chaussee Schule der Freunde ist von einer molierischen Männerschule eben so weit entfernt, als beide von einem racinischen Britannicus. Der verstorbne Herr Professor Schlegel hat in einem noch ungedruckten Schreiben eines Liebhabers des dänischen Theaters diesen Arten der Schauspiele võllige Gerechtigkeit widerfahren lassen. "So vielerley Arten von sittlichen Handlungen es giebt, spricht er, welche eine Reihe von Absichten, Mitteln, und Folgen in sich enthalten; so vielerley die Personen sind, von welchen diese Handlungen vorgenommen werden: So vielerley Arten der theatralischen Stücke giebt es. Wenn ich also die Handlungen in so weit betrachte, als sie entweder das Lachen, oder ernsthafte Leidenschaften erregen, und wenn ich die Personen, ihrem Stande nach, in hohe und niedrige eintheile: So werde ich folgende Arten von Schauspielen herausbringen; erstlich, Handlungen hoher Personen, welche die Leidenschaften erregen; zweytens, Handlungen hoher Personen, welche das Lachen erregen; drit[317]tens, Handlungen niedriger Personen, welche die Leidenschaften erwecken; viertens, Handlungen niedriger Personen, welche das Lachen erwecken fünftens, Handlungen hoher, oder niedriger, oder vermischter Personen, welche theils die Leidenschaften, theils das Lachen, erregen. Die erste Art von diesen Handlungen ist der Grund zu denjenigen Schauspielen, die man Tragödien nennt, und aus den andern insgesamt entstehen Comödien. Wir würden der Natur unrecht thun, und die Zuschauer eines Vergnügens berauben, wenn wir eine von diesen Arten der Handlungen von dem Theater ausschließen wollten und wir haben wirklich von allen diesen Arten bey den gesittetsten Völkern Exempel. Von der zweyten Art ist die Comödie Amphytruo; von der dritten die Gouvernante und die Melanide des de la Chaussee; von der vierten der größte Theil der Comödien, und noch viele andre Stücke; von der fünften der Cyklops des Euripides, der Ehrgeizige des Destouches," des Voltaire verschwenderischer Sohn, und bey uns Herrn Gellerts Lotterieloos. Freylich werden die Stücke der zweyten Art immer die seltensten bleiben; und der Poet wird bey seiner Wahl dahin sehen müssen, daß die Thorheit der Großen weder eine Strafe der Geringern sey, noch auch der Ehrfurcht Abbruch thue, die wir ihrer Würde überhaupt schuldig sind.

[318] Ja; sollten sich nicht noch zwo Gattungen hinzufügen lassen; die weder Thorheiten noch Heldenthaten abschildern wollen; die weder das Lachen erwecken, noch auch die Empfindungen in uns bis zu dem Grade treiben, wo sie den Namen der Leidenschaften bekommen? Wir sollen in ihnen nicht erschrecken, nicht Thränen vergießen, sondern bloß fühlen; unser Herz soll in eben die Lage gebracht werden, in welche sie der fröhliche Lenz versetzt. Sie suchen durch das Naife, durch das Unschuldige, durch das Muthwillige, kurz durch den sanften Ausdruck der gefallenden Natur die gelindern angenehmen Empfindungen zu erregen, die, wenn sie sich nie mit Gewalt ergießen, dadurch das Herz in eine desto süßere Bewegung bringen, daß sie sich ganz in demselben beysammen behalten. Die einen wissen von keinem Unterschiede des Standes, weil sie eine Welt bewohnen, die ihnen der Dichter selbst geschaffen hat; und das sind die Schaferspiele. Die andern nehmen zwar zu ihren Personen Bewohner unsrer Welt, oder Wesen, die einmal durch das Vorurtheil für wirklich angesehen worden; aber sie zeigen in der Leonore mehr das verliebte Mädchen, als das Fräulein eines spanischen Edelmanns, in der Grazie mehr das empfindende Wesen, als die Göttinn. Von dieser Art sind die Zeneide des Cahüsac, und die meisten Stücken des Saintfoir *. Er hat sich die [319] die Reichthümer der Natur zu Nutze gemacht, und in den Grazien, in dem Orakel, in dem Deukalion, in der Egeria, in der Insel der Wilden, bald Götter, bald höhere Wesen und Menschen zugleich, bald Menschen, die weder zum hohen noch zum niedrigen Stande gehörten, weil sie die einzigen waren, bald königliche Personen, bald Personen von einem niedrigern Stande vorgestellt.

Aber wohin soll man nach des Herrn Batteux Eintheilung die Satyre, wohin das Lehrgedichte, dessen ich mich bereits in der Abhandlung von dem höchsten Grundsatze der Poesie angenommen; wohin die Elegie und Ode rechnen? Sollte er sie ganz aus dem Besitze einer Würde werfen wollen, in den sie schon von den vortrefflichsten Dichtern unter den Alten gesetzt worden, und in welchem sie sich zeither stets erhalten haben. Seine Eintheilung ist entweder fehlerhaft, oder er darf sich auch der Ode nicht annehmen, die er doch selbst aus der Poesie nicht verbannen will.

Eben die Ansprüche, die der Ode erlaubt sind, darf auch die Elegie machen; und die Satyre verdient eben sowohl als die Comödie ihre Stelle, ohne daß sie darum, als ein Zweig derselben, anzusehen wäre. Ist sie zuweilen, wie z. E. der Schwätzer des Horaz, den der Herr von Hagedorn nachgeahmt hat, die Comödie in Miniatur: So weicht sie zu andern Zeiten wieder sehr weit von ihr ab, wenn sie nur eine Schilderen der Sitten ist, wenn sie [320] Abbildungen neben einander stellt, bloß damit sie desto besser gegen einander abstechen; ohne um eine genauere Verbindung derselben in ein Einziges besorgt zu seyn, weil ihr zu ihren Absichten schon diese Wirkung genug ist. Sie ist zuweilen die Hauptkarte einer Thorheit, und überläßt es dem Lustspiele, die einzelnen Gegenden genauer und weitläuftiger zu zeigen.

Die Nachahmung bearbeitet oft diejenige Natur, welche dieses nicht an sich selbst war, sondern bloß durch die Gewohnheit, und durch die Verhältnisse, hinzugethan worden, in die die Errichtung der Staaten uns gesetzt hat. Der Poet betrachtet den Menschen, als König, als Krieger, als Staatsmann, als Bürger. Warum sollte er nicht auch diejenige Natur nachahmen, die es im genauesten Verstande ist? Warum sollte er nicht auch die Menschen, als Menschen, als Väter, Liebhaber, Ehmanner, und Freunde abschildern? Dieß thut er hauptsächlich in verschiednen Arten der Ode, und in der Elegie.

Wenn in der Ode der Affekt gleich einem aufgewiegelten Meere das Herz hin und herschleudert: So gleicht die Elegie dem traurigen Geräusche eines schwermüthigen Cypressenwaldes. Wenn er dort ungestüme Seufzer ausstößt, den Tag haßt, und nicht mehr fühlen mag: So löst sich hier sein Schmerz in Klagen auf; seine Seufzer sind stiller; er vergießt sanftere Thränen. Wenn dort der Poet unter der Menge der Entzückungen er[321]liegt: So raubt ihm hier die Stärke der Freude, denn auch von solchen Elegien haben wir Exempel bey den Alten, nicht das Vermögen, mit Ueberlegung zu fühlen, und seine Empfindungen zu zergliedern; wenn dagegen die hagedornische und gleimische Muse sich bald unter die Tänze der Grazien und Dryaden mischt, bald, von muthwilligen_Liebesgöttern gejagt, sich scherzend hinter Rosenhecken versteckt. Die Liebe, die in der Elegie herrscht, ist mehr zärtlich, als ungestüm; mehr melancholisch, als stürmisch.

Diejenige Art der Cantate, die wir im Rousseau finden, könnte man die epische Ode nennen. Sie erzählt in den Recitativen, und drückt in den Arien die Sprache der Empfindungen aus. Die Verwandlung ist keine äsospische Fabel; und sollte man darum Herrn Gellerts Verwandlung der Chloris in eine Taube den Namen eines Gedichts absprechen können? Sie ist nichts unwahrscheinlicher, als die Fabel. Wenn diese ihre Wahrscheinlichkeit daher entlehnt, daß die Thiere Empfindungen der Freude, der Traurigkeit, der Furcht haben, und ihre Stimme nach der Verschiedenheit dieser Empfindungen verändern: So entlehnt sie jene von einer Sage, die lange Zeit geherrscht hat.

Die Dichtungsarten, welcher wir bisher erwähnt haben, gehören meistentheils zu den dramatischen; und diejenigen, in denen der Dichter erzählt, sind allzu klein, oder schildern keine [322] in ein einziges Ganzes verbundnen Handlungen ab, oder ihre Handlungen sind allzueinfach, als daß wir sie episch zu nennen gewohnt wären. Aber auch die größern epischen Gedichte sind nicht so eingeschränkt, daß nicht mehr, als eine einzige Gattung derselben möglich wäre. Dasjenige Gedichte, das man eigentlich die Epopee nennt, und welches die höchste Staffel ist, die die Poesie ersteigen kann, wird dadurch von seinem Vorzuge nichts verlieren, wenn es auch andern Gedichten, die ihm ahnlich sind, in seinem Bezirke eine Stelle vergönnt, wofern dieselben nur nicht verlangen, einen Wettstreit mit ihm einzugehen.

Ja; zeigt sich nicht selbst unter den Meisterstücken, die man für ihr Werk ansieht, ein so wesentlicher Unterschied, daß sie in zwo besonsdre Gattungen abgetheilt zu werden verdienten, die zwar ihre gemeinschaftlichen Regeln haben, aber sich selbst schaden würden, wenn die eine allezeit ganz nach dem Muster der andern sich richten wollte. Die Homere und Virgile, sagt Herr Batteux, haben den Begriff derselben auf so lange festgesetzt, bis wir vollkommnere Muster darinnen erhalten *. Ich bin nicht so verwegen, daß ich mir das Recht anmaaßen wollte, den Rang unter Dichtern zu bestimmen, die nicht ganz nach einerley Plane gearbeitet haben; dieß gehört vielleicht allein einer Nachwelt zu, für die die Miltone eben so wohl alte Dichter sind, als die Virgile. [323] Aber das kann ich doch ohne die geringste Vermessenheit sagen, daß derjenige Begriff der Epopee, den Milton festgesetzt hat, ungleich höher und vollkommner ist, als jener; oder daß vielmehr Miltons verlornes Paradies und bey uns Herrn Klopstocks Meßias eine neue Art der Epopee sind, die man die Epopee der Religion nennen könnte, zum Unterschiede von der Heldenepopee; und die, wenigstens ihrer Anlage nach, ungleich vortrefflicher ist, als ihre Vorgängerinn. Die Handlungen, die sie erzählt, betreffen das ganze menschliche Geschlecht, und ihre Folgen reichen bis in eine ewige Welt hinüber; da die Handlungen, die der Innhalt der andern sind, nur die Schicksale einzelner Staaten entscheiden, und ihre Folgen sich in die Gränzen unsrer Welt einschränken. Wenn das Erhabne der Helden und Eroberer blendender ist: So behält das sittsamere Licht, das an dem Erhabnen der Religion stralt, selbst bey der strengsten Prüfung seinen völligen Glanz; oder derselbe wächst vielmehr, je näher wir hinzutreten. Dieses Erhabne verbindet mit seiner Majestät eine gewisse Liebenswürdigkeit; es setzt nicht nur in Erstaunen, es gewinnt sich die Herzen. In der homerischen Epopee sind die höhern Wesen, die der Dichter aus seiner Religion entlehnt, bloß die Maschinen, die nur bey den verwickeltsten Begebenheiten dazwischen kommen; hier sind die bösen und guten geistigen Wesen, die die Wahrheit selbst an die Hand giebt, die Sa[324]tane und die Seraphe, ja selbst die Gottheit, öfters die handelnden Personen.

Wie die erste Idee des Trauerspiels aus der Ilias geschöpft worden: So hat man nachher hinwieder das Lustspiel in eine Art der Epopee verwandelt, und daraus das komische Heldengedicht geschaffen. Wieder eine besondre Gattung, die ihre eigenthumliche Vortrefflichkeit hat, wenn sie gleich nicht die heroische Epopee ist! Die Homere und Virgile dieses epischen Gedichts sind die Despreaux und die Popen.

Selbst die Thiere hat man nicht für zu geringe gehalten, sie auf diese Art aufzuführen. Die äsopische Fabel ist, wo anders die Batrachomyomachie wirklich den Homer zum Urheber hat, eine kleine Epopee gewesen, ehe sie noch erfunden worden.

Und vielleicht ist es einem glücklichen Genie vorbehalten, dem Schäfergedichte durch eine länger fortgeführte oder manigfaltigere Handlung eine ähnliche Gestalt zu geben; oder eine Handlung aus dem bürgerlichen Leben episch vorzustellen, die nicht Schrecken, Furcht, und Erstaunen erweckt, wie das eigentliche Heldengedichte; auch nicht zu lachen macht, wie das komische; sondern die sanften Empfindungen der Menschenliebe, der Großmuth, der Freundschaft erregt, sanfte Thränen ablockt, oder mit sanften Freuden anfüllt.

Sollte nicht auch Ovidius auf den Namen eines epischen Dichters einen Anspruch ma[325]chen können? Seine Verwandlungen sind weder eine Ilias noch eine Odyssee; aber wenn man festsetzen will, ob sie unter die guten erzählenden Gedichte gehören: So muß man, dünkt mich, nicht fragen, ob sie nach einem andern Muster nachgezeichnet sind; sondern, ob sie die Natur nachahmen; ob sie dem Verstande schmeicheln, ob sie das Herz rühren; kurz ob sie dem Geschmacke gefallen. Sind sie manchmal mit allzu vielem Schmucke überladen; sind die Handlungen zu sehr in einander geflochten; macht die Begierde, witzig zu seyn, den Ovid manchmal spitzfindig, verleitet sie ihn dann und wann zu Wortspielen, und zu ausgezirkelten Gegensätzen: So sind das mehr Fehler des Dichters, als des Gedichtes; so mag man ihn in seinen Fehlern tadeln, doch sich auch zugleich erinnern, daß es Augenblicke giebt, wo selbst der göttlichste Poet wieder menschlich wird.

Aber wird man nicht sagen, daß ich meine Nachsicht zu weit treibe, wenn ich selbst dem historischen Dichter seine Stelle unter den epischen Poeten nicht ganz abspreche; sollte ihm auch gleich nur die unterste Stelle angewiesen werden? Ein Lucan ist unter den Dichtern der Portraitmaler. Sollte dieser aber nicht unter die schönen Künstler gehören? Ich glaube; wofern er nur nicht einzig und allein für die arbeitet, die seinen Nachriß mit dem Vorbilde zusammen halten können; wofern er sich nur bemüht, ein solches Original zu copiren, [326] das auch in Fremden den Wunsch erweckt, das Original kennen zu lernen; wofern er nur lieber ein wenig schmeichelt, als durch eine allzuängstliche Sorgfalt misfällt; wofern er nur dem Bilde den Schmuck giebt, der sich mit der Miene des Gesichts verträgt; wofern er endlich uns nicht bloß durch die Aehnlichkeit der Züge zu sagen veranlaßt: Das Portrait ist wohl getroffen; sondern ihm die Schattierungen, die Kopfstellung und das Leben giebt, welche uns bewegen, daß wir ausrufen: Dieses Portrait hat eine vortreffliche Zeichnung, eine schöne und angenehme Coloritte; es ist schön *. Von dieser Seite muß man den Lucan beurtheilen, und nicht darnach, ob er ein Homer ist; wenn man bestimmen will, ob seine pharsalische Schlacht unter die Gedichte gehört.

Wenn wir alles dieses erwagen; so werden wir überzeugt seyn, daß sich die Poesie in keine bestimmte Anzahl von Gattungen eintheilen lasse. Wozu würde es auch dienen, als uns in Fesseln einzuschmieden, und zu verursachen, daß wir den unerschöpflichen Reichthum der Natur, den Herr Batteux so schon zu zeigen gewußt hat **, nicht zur Hälfte nützten?

Man setze die allgemeinen Regeln der Dichtkunst fest. Man ermahne diejenigen, die in der Poesie arbeiten wollen, den Hauptzweck, zu [327] gefallen, nicht aus den Augen zu lassen. Man sage ihnen, daß ihre Pflicht sey, durch die Hülfe der Nachahmung der Natur das Schöne und Gute aufs sinnlichste und annehmlichste vorzustellen. Man zeige ihnen, durch was für Mittel diejenigen Meisterstücke, die der Beyfall so vieler Jahrhunderte bewährt hat, diese lange Zeit hindurch die Liebe und die Lust aller gesitteter Völker geblieben sind; durch was für Mittel sich die vortrefflichen Arbeiten der Neuern ihnen an die Seite zu setzen gewußt haben. Man warne sie, daß sie nicht etwan einen vermeßnen Ehrgeiz für Genie halten, und aus Begierde, Schöpfer zu heißen, eine Erfindung wagen sollen, die über ihre Kräfte ist. Man kündige ihnen an, daß man bey jeder neuen Gattung der Poesie, ehe man ihr eine Stelle einräumt, aufs genauste prufen werde, ob sie aus der Natur geschöpft sey, ob sie die verschönerte Natur zeige, ob sie sie wohl zeige, ob sie gefalle, und nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf das Herz, wirke. Und man wird nicht fürchten dürfen, daß man durch die Nachsicht gegen neuerfundne Gattungen einer zügellosen Einbildungskraft freye Gewalt geben werde, durch ihre seltsamen Einfälle alles zu verwirren, und das Reich der Poesie zu einer Anarchie zu machen.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[306] * Im 3 Th. im 1 Abs. 2 Cap. a. d. 137 S.   zurück

[310] * Im 3 Th. im 1 Abs. 2 Cap. a. d. 137 S.   zurück

[318] * S. seine theatralischen Werke in zween Theilen; Leipzig 1750.   zurück

[322] * Im III Th. im 1 Abs. 5 Cap. a. d. 173 S.   zurück

[326] * Im II Th. im 8 Cap. a. d. 102 S.   zurück

[326] ** Im II Th. im 7 Cap. a. d. 95 S.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz,
aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Anhandlungen versehen
[Übers. Johann Adolf Schlegel].
Leipzig: Weidmann 1751, S. 306-327.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://archive.org/details/einschrnkungder00battgoog
PURL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10575524
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015011945311

 

 

Weitere Auflagen (1759 u. 1770)

 

 

Literatur: Johann Adolf Schlegel

Becq, Annie: Lyrisme et imitation selon Charles Batteux. In: L'ode, en cas de toute liberté poétique. Actes du colloque organisé à l'Université de Toulouse-Le Mirail les 14-15-16 janvier 2004. Hrsg. von Didier Alexandre u.a. Bern u.a. 2007 (= Littératures de langue française, 3), S. 81-88.

Heller, Jakob Christoph: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. Paderborn 2018.

Heller, Jakob Christoph: Ursprünge von Moral und Kunst bei Charles Batteux und Johann Adolf Schlegel. In: Kulturen der Moral. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2018 in Paderborn. Hrsg. von Kristin Eichhorn u. Lothar van Laak. Hamburg 2021 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 42), S. 434-448.

Jackson, Virginia: Lyric. In: The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hrsg. von Roland Greene u.a. 4. Aufl. Princeton u.a. 2012, S. 826-834.

Krummacher, Hans-Henrik: Odentheorie und Geschichte der Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Ders., Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin u.a. 2013, S. 77-123.

Leßmann, Benedikt: Batteux "mit beträchtlichen Zusätzen": Translation und Transfer der Nachahmungstheorie in der deutschen Musikästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Musikwissenschaft 76.2 (2019), S. 80-97.
URL: https://www.jstor.org/stable/45176214

Mauduit, Christine u.a. (Hrsg.): Brill's Companion to the Reception of Aristotle's Poetics. Leiden u. Boston 2025.

Scherpe, Klaus R.: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968.
Vgl. S. 190-205: Kritik des normativen Systems der Garttungen: Johann Adolf Schlegel.

Trappen, Stefan: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (= Beihefte zum Euphorion, 40).

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u.a. 2010.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer