Abraham Gotthelf Kästner

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Kästner
Literatur: Poetologische Lyrik
Literatur: Belustigungen des Verstandes und des Witzes

 

Ueber die Verbindlichkeit der Dichter, allen Lesern deutlich zu seyn.                                  

 

5   [540] Dich, Freund, reizt muntrer Witz, so wie erhabnes Wissen;
Du denkst bey Hallers Vers, und bey Bernoullis Schlüssen.
Sprich, Oechlitz, ob ein Geist von edlem Feuer voll,
Gemeiner Leser Schwarm sich nie entziehen soll?
Sprich, ob es strafbar ist, nicht allen deutlich bleiben,
10   Manch Lied den Schönen weihn, und manches Weisen schreiben?
     Den Reimer schütz ich nicht, der, was er dunkel denkt,
Zu seiner Leser Quaal in dunklern Ausdruck senkt.
Mir wird er deutlich seyn, wählt er sich auch zum Muster
Den Ruhm Lusatiens, den theosophschen Schuster;
15   Mir sagt ein jeder Ort, der manchem Mühe macht,
Dieß war des Autors Sinn: er hatte nichts gedacht.
Ein andrer kennt vielleicht der Weisheit äußre Schalen,
Und gleichwohl soll sein Vers mit hohem Wissen pralen,
Drum führt er, was er sagt, in Dampf und Nebel ein.
20   Drückt es nur deutlich aus, so wird nichts schlechters seyn:
So wie uns manchen Satz, den jedes Kind erkennet,
Der Metaphysicus mit dunkeln Wörtern nennet.
     Mich reizet nur ein Lied von tiefem Denken voll,
Gemacht, daß man es mehr als einmal lesen soll,
25   [541] Nicht das durch Dunkelheit des Einfalls Armuth decket,
Nicht das mit Fleiße nur, was man schon weis, verstecket.
O nein, ein solches Lied, das hohe Wahrheit singt,
Die stärker in den Sinn durch kühnen Ausdruck dringt,
Das man von neuem liest, und neue Schönheit findet,
30   Und den zu reichen Schatz, stets gräbet, nie ergründet *
     Wie, wenn durch unrein Pech das Feuer lodernd dringt,
Der Flamme schwaches Licht in dicken Dampf versinkt:
Wird der, den Stolz u. Wahn für gründlich Wissen füllen,
Oft den gemeinsten Satz in dunkle Pracht verhüllen.
35   Doch wie, wenn heitre Glut aus weißem Wachse stralt,
Sich deutlich und belebt das Bild im Auge malt:
Wird des Gelehrten Werk mit Deutlichkeit ergetzen;
Nur Augen blöder Art kann selbst sein Glanz verletzen.
     Ein Schüler, der bereits das Octaedrum kennt,
40   Des Zirkels Umfang mißt, die Logarithmen nennt,
Erblickt des Britten Werk, das alle Weisen ehren,
Er liest, versteht es nicht, schmäht Newtons dunkle Lehren;
Ein Mägdchen, die den Werth der Hochzeitlieder schätzt,
Die, (so gelehrt ist sie!) selbst Günthers Vers ergötzt
45   Will ** Oden so wie ** Lieder lesen,
Sie liest, versteht es nicht, schmäht ** dunkles Wesen:
Mit Rechte schmähte sie, brächt, um ihr Herz bemüht,
Der Stutzer, den sie liebt, ihr ein so schweres Lied:
Was schilt sie ** denn, daß er ein Kind besungen,
50   Das, stärker an Vernunft, des Liedes Reiz durchdrungen?
     Der Leser, dem man schreibt, bestimm̃t des Autors Pflicht
Wenn Newton Lehrer lehrt, les ihn kein schüler nicht.
Sagt, was den Dichter zwingt, nur Lesern ohne Denken,
Ein Lied, das höher strebt, beständig zuzusenken?
55   [542] Unglücklich! wenn ihn nur die Dichterglut entflammt,
Daß ihn ein harter Spruch zum Pöbel hin verdammt!
Ja, spricht man, denn es soll der Dichtkunst weise Lehren,
Zu seiner Besserung, der Ungelehrte hören:
So hat, da Orpheus sang, da Linus einst gespielt,
60   Der Menschheit ersten Trieb der rohe Mensch gefühlt;
So hat den Deutschen einst des Barden Lied erhitzet,
Wenn auf der Freyheit Feind sein siegreich Schwerdt geblitzet.
     Doch wie? verstund. ein Geist, im Denken unbemüht,
In allem Wissen fremd, der ersten Dichter Lied?
65   Den Bau der großen Welt, das göttliche Geschlechte,
Die Wunder alter Zeit, der Menschen Amt und Rechte,
Dieß hat die erste Welt von ihnen angehört.
Wer lernt ist halb so viel, und dünkt sich nicht gelehrt?
     Doch, Dichter, pralet nur mit eurer Ahnen Thaten;
70   Last Wahn und Eitelkeit erfinden, nicht errathen;
Sagt was ihr Lied vollbracht, und was es nie vollbracht,
Und was Vernunft nur kann, das sucht in seiner Macht.
Es sey, daß Orpheus mehr, als Sokrates, gebessert:
Ward denn durch jedes Lied der Tugend Reich vergrößert?
75   Erregte Bacchus nicht so oft der Dichter Glut?
Empfand nicht mancher Thor oft ihren Witz und Muth?
Und konnt, eh Orpheus kam, die rohe Welt zu zähmen,
Kein Lied der Schäferinn die Sprödigkeit benehmen?
Vor Zeiten gab Homer der Jugend Unterricht,
80   Doch ein Anakreon und eine Sappho nicht.
Gleich neben dem Virgil hat auch Ovid geschrieben:
Der lehrt den Ackerbau, und der die Kunst zu lieben.
Wenn aber ja dein Werk so lehrreich werden soll:
So sey es auch zugleich von Reiz für Weise voll,
85   [543] So, wie ein Altarblatt, mit kunsterfüllten Zügen,
Des Volkes Andacht mehrt, und Kenner kann vergnügen,
Kein bunt Marienbild, vom Holzschnitt abgedrückt,
Das Kinder nur ergötzt und Bauerstuben schmückt.
Es folgt nicht, daß kein Lied mit Nutzen Lust verbindet,
90   Wo der gemeinste Geist nicht jeden Satz empfindet;
Genug, trifft er für sich da gute Lehren an,
Wo manches ihm zu hoch, Gelehrte rühren kann,
     Doch niemand zieht vielleicht den Dichter ganz zur Erden:
Er soll kein Lehrer nicht des schlechten Pöbels werden;
95   Man will nicht, daß sein Lied ein Weib zum Weinen zwingt,
Wenn es am Petersthor ein deutscher Thespis singt.
Genug, bemüht er sich für einen Sinn zu spielen,
Der richtig denken kann, und zärtlich weis zu fühlen.
Gut, doch wofern ihr nur für solche Seelen schreibt,
100   Sagt, wo der Dichtkunst Zweck, das Unterrichten bleibt?
Was brauchts, daß sie von euch die Lebensregeln hören,
Die ihnen eigner Witz, Fleiß und Erziehung lehren?
Als nur, damit ein Satz, den eure Kunst geschmückt,
Zwar den Verstand nicht lehrt, doch in das Herz sich drückt.
105        Auch das geb ich euch zu, doch selbst aus diesen Seelen,
Die ihr vom Pöbel trennt, werd ich von neuem wählen.
Dürft ihr nicht euren Vers gleich jedem Bürger weihn:
So darf auch meiner nicht für jeden Leser seyn.
Ihr irrt, wofern ihr glaubt, frey von gelehrten Sätzen
110   Werd eure Deutlichkeit auch alle gleich ergetzen.
Für Leser mancher Art sind Günthers Lieder schön;
Für Leonoren das, und das für den Eugen.
Ihr straft es, wenn man singt, nur Weise zu vergnügen:
So straft auch, wenn man singt, nur Schönen zu besiegen,
115   [544] Euch misfällt, wenn mein Vers von Newtons Lehren spricht:
So braucht im Trauerspiel Geschicht und Fabeln nicht.
Soll ein Gelehrter nur vor euren Schauplatz gehen:
So sey auch der gelehrt, der will mein Lied verstehen.
Den Leser wähl ich mir; sagt, ob ich strafbar bin?
120   Hat jeder eurer Zunft doch gleichen Eigensinn.
Der, der die Schäferinn mit Lieb und Einfalt zieret,
Was fragt er, ob ihr Bild den Philosophen rühret?
Ein andrer singt entzückt von seiner Chloris Kuß;
Ich bin nicht so entzückt, und les ihn mit Verdruß.
125   Wie? soll der Dichter stets sich Stutzern ähnlich zeigen?
Bey Magdchen witzig seyn, bey Klugen aber schweigen?
     Doch geh ich nicht zu weit? Wer ist es, der es schilt,
Wenn Kunst und Wissenschaft erhabne Lieder füllt?
Nur das verbiethet man, daß tiefer Sätze Menge
130   Zu dunkel ausgedrückt, im schweren Vers sich dränge.
Gut, theilt den Einfall gleich in zwanzig Zeilen ein;
Nur merkt, ihr werdet matt, und doch nicht deutlich seyn.
Vergebens, daß man dem, dem alle Kenntniß fehlet,
So, wie ein Lehrer thut, Satz und Beweis erzählet.
135   Nicht alles faßt der Vers; und wenn er alles faßt:
So wird die Deutlichkeit dem Leser selbst zur Last.
Mit ekelem Geschwätz wird uns der Dichter plagen,
Der uns nichts denken läßt, und alles strebt zu sagen;
Doch ist ein Mittel hier, auch der gefällt uns nicht,
140   Der nicht genug uns sagt, und wie Orakel spricht.
Die freche Buhlerinn, die mehr giebt, als vergönnet:
Die Spröde, die uns kaum mit halbem Blicke kennet,
Sind beyde reizungsleer *: Da wird ein Herz besiegt,
Wo muntre Sittsamkeit bemüht und auch vergnügt.
145   [545] Doch heißt die Schöne nicht durch eitlen Stolz verblendet,
Die jedem unverdient nicht ihre Gunst verschwendet:
So wißt auch, daß ihr oft ein Lied als dunkel schmäht,
Und denket nicht daran, daß ihr nur blöde seht.
     Ihr sprecht, das sey nicht Lust, was uns mit Denken quälet,
150   So hört zu guter letzt, noch was mein Vers erzählet.
     Sonst, als den Deutschen noch kein feiner Witz vergnügt,
Und nur sein redlich Herz mit tapfrer Faust gesiegt,
Gebraucht er sich, die Zeit ergetzend zu verlieren,
Der bunten Heere schon, von streitenden Papieren.
155   Vier gleiche Haufen sinds. Des Schicksals Eigensinn
Giebt einem Mächtigern der andern Leben hin.
Vor seiner Sieben muß zu oft ein Taus erbleichen,
Doch wird ihr bald darauf nicht eine Sieben weichen.
Die Stunden kürzten sich mit Spielen mancher Art;
160   Da hoffte man ein Glück, das Fürst und Ober paart *.
Auch gieng man Wetten ein, wo stets die Hand verspielte,
Die Blätter eines Rangs in mindrer Anzahl hielte,
Both einem Spieler Trotz, der zu verwegen war,
Und setzte sich ihm gleich in Hoffnung und Gefahr.
165   Drauf, als die Rohigkeit von Deutschland sich entfernte,
Und man der Fremden Kunst, und fremde Thorheit lernte,
[546] Ward auch der Zeitvertreib, den Spanien erdacht,
Und Frankreich ausgeputzt, bey uns bekannt gemacht.
Dem Tutti wich der Martsch, der Sequens Matadoren;
170   Vom Spieler ward a Tout, kein Trumpf vom Glück erkohren.
Voll Ordnung war das Spiel, nur war sie mehr versteckt,
Voll Regeln, deren Zahl gemeine Seelen schreckt:
Und wem zum Denken sonst Geduld und Stärke fehlte,
Der ward ein Archimed, wenn er beym Solo zählte.
  Wie hörte man dabey die schwächern Geister schreyn,
Was so viel Mühe macht, kann kein Vergnügen seyn!
Umsonst, die Schönen selbst gewöhnten sich zu denken,
Der Wenzel und das Taus flohn endlich in die Schenken.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten seiten]

[544] * Nec bis cincta Diana placet, nec nuda Cythere. Mart.   zurück

[545] * Ich mache dieses Spiel zu einem deutschen, weil es bey uns meistens in der deutschen Karte gespielet wird. Außer dem habe ich so viel Recht, dieses zu thun, als wenn Voltaire im achten Gesange der Henriade, in einer Schlacht die Bajonetten lange vor ihrer Erfindung gebrauchen läßt. Doch wem eine solche historische Unrichtigkeit zuwider ist, der setze statt dieses Verses folgenden:
          Das Künstlichste davon war wohl die Höllenfahrt,   zurück

 

 

 

 

Druckvorlage

Belustigungen des Verstandes und des Witzes.
1744, Dezember, s. 540-546.

Gezeichnet: M. Kästner.

URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb10610871
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008922265

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

Aufgenommen in

 

 

 

Literatur: Kästner

Baasner, Rainer: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (1719-1800). Tübingen 1991.

Gittel, Benjamin: Lehrgedicht, Gedankenlyrik, stimmungslyrik: Überlegungen zur Gattungsspezifität der kognitiven signifikanz von Lyrik mit Analysen zu Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe und Kerstin Preiwuß. In: Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik 1 (2019), s. 315-341.

Krämer, Olav: Poesie der Aufklärung. studien zum europäischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts. Berlin 2019.

Martus, steffen / Nebrig, Alexander: Anthropologien der Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, 23 (2013), s. 7-18.
URL: https://www.jstor.org/stable/23978530

Martus, steffen: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Neuausgabe. Berlin 2024.

Robert, Jörg: Poetologie. In: Handbuch Literarische Rhetorik. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Berlin u.a. 2015 (= Handbücher Rhetorik, 5), s. 303-332.

schimpf, Wolfgang: Kästners Literaturkritik. Göttingen 1990.

schürmann, Inga: Die Kunst des Richtens und die Richter der Kunst. Die Rolle des Literaturkritikers in der Aufklärung. Göttingen 2022.

Verweyen, Theodor (Hrsg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995.

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. stuttgart u.a. 2010.

 

 

Literatur: Belustigungen des Verstandes und des Witzes

Bosse, Heinrich: Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung. Dortmund 2021.

Christian Fürchtegott Gellert - Fabeln und Erzählungen. [Textbegleitband; zur Ausstellung "Belustigungen des Verstandes und des Witzes" im Gellert-Museum Hainichen]. Hainichen 2005.

Habel, Thomas: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007 (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge, 17).

Kuhles, Doris: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik. Bibliographie der kritischen Literatur von den Anfängen bis 1990. 2 Bde. München u.a. 1994.

Ulbrich, Franz: Die Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Ein Beitrag zur Journalistik des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1911.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer