Text
Editionsbericht
Literatur
Ist eine Art der Wohlredenheit, da wir durch Hülffe des Ingenii unsere Haupt-Gedancken
in allerhand sinnreichen und artigen Neben-Gedancken, oder Bildern und Vorstellungen
einkleiden, es geschehe dieses in ungebundener, oder gebundener Rede. Das Wesen
der wahren Poesie bestehet in einer artigen und geschickten Dichtkunst, daß nemlich
die Dichtungen wenigstens den Schein einer Wahrscheinlichkeit haben, und der
Haupt-Sache, welche darunter vorgestellet wird, in allen Stücken gemäß sind.
In solchen artigen Gedancken stecket der Kern der Poeterey, und das, was die
Frantzosen vn bel esprit nennen und ein Poet scheinen in der That eines zu seyn.
Der alten ihre poetische Raserey ist wohl nichts anders, als die
durchdrin[2020]gende und lebendige Würckung der Imagination und des Ingenii,
davon Casaubonus de enthusiasmo c. 5 Petitus, Feller, Morhof, Zentgrav,
Kortholt in besondern disput. de furore poetico, Borrichius in
oration. part. 1. p. 247. Hanschius
de enthusiasm. Platonis sect. 2. §. 10. p. 18.
nachzulesen; wiewohl nicht unwahrscheinlich, daß die Meynung von dieser
Raserey ihren Ursprung von der verstellten und erdichteten Raserey der
heydnischen Priester bey den Oraculn genommen; und was einige auch zu
unsern Zeiten von dem, was in den menschlichen Wissenschafften, und auch
in der Poesie göttlich ist, fürgegeben, beruhet auf schlechtem Grund,
besonders wenn sie durch das göttliche etwas übernatürliches, das keines
Menschen Verstand gebrauchen kan, verstehen, s. Thomasium in den
Monats-Gesprächen 1688. in Nonembr. p. 593. sqq. In Ansehung dieser naturlichen
Krafft geschickt zu dichten, finden wir zweyerley Arten der Poeten,
welche mit ihrer Poesie schlechte Ehre einlegen. Einigen fehlt es
am Naturell, deren poetische Geburten so mager, so dürre und
dermassen elend sind, daß darinnen nicht das geringste Leben anzutreffen.
Was diesen fehlet, das haben hingegen andere am Uberfluß, welche ihrer
Imagination und Zusammen-Reimungs-Krafft zu vielen Platz machen, und dasjenige
was bey einem Gedichte artig und wohlanständig heist, nicht in acht nehmen,
woher denn das gemeine Sprichwort entstanden ist: Poeten sind Narren. Man
lese Menckens declam. de charlat. erud. p. 132. sqq. ed. 3..
Wir theilen die Poesie in eine ungebudene und in eine
gebundene: bey jener
geschicht der Vortrag in ungebundener; bey dieser aber in gebundener Rede,
welches letztere eben die Versmacher-Kunst ist, da man die Worte in Reimen,
oder in eine gewisse Cadence zwinget. Gleichwie man Poesien ohne Versen hat; also
kan iemand Verse machen, ohne einige Dichtungen mit einzumischen, welches die
Versmacher-Kunst an sich selbst ist, die man billig für eine Sache von geringem
Werth ansiehet. Demnach erstreckt sich das Poetische Reich viel weiter, als es
ordentlich geglaubet wird, angesehn die Comödien, Satyren, Romanen, Gespräche,
Sinn-Bilder und dergleichen natürliche Früchte der Dichtkunst sind. Die Comödien
und Opern müssen etwas satyrisches an sich haben, und lebendige Vorstellungen des
gemeinen Lauffs der Welt und deren Thorheit seyn. Die vornehmste Eigenschafft
einer Satyre bestehet darinnen, daß sie zweideutig geschrieben; doch so, daß der
Leser den verborgenen Verstand and die rechte Meynung ohne sonderbahre Mühe
errathen kan. Ein Roman-Schreiber muß zusehen, daß seine Dichtungen nicht wieder
die Natur lauffen; noch den geringsten Schein einiger Wahrscheinlichkeit haben,
dawieder viele anstossen,
[2021] wenn sie sich die Menschen anders fürstellen, als sie sind und die
Liebes-Begebenheiten sich so abstract einbilden, daß man kaum einem Engel
dergleichen Conduite zutrauen solte: von ihren Helden rühmen sie gantz unglaubliche
Thaten, und in den erdichteten Reden nehmen sie den Caracter der Personen, die
sie hervorbringen, nicht in acht, u. s. w. Der Nutzen, den man in den Romanen
suchet, solt darinnen bestehen, daß man die unterschiedene Neigungen und Arten
der menschlischen Natur daraus erkennen lerne, seinen Verstand schärfe, und
zu der Klugheit sich behutsam aufzuführen, Anleitung bekomme; es ist aber der
Schade, der daher entstehet, weit grösser. Die Gespräche, welche zur Poesie
gehören, müssen allerhand Erfindungen seyn, welche die Leser belustigen, dabey
die gröste Kunst ist, daß man den Caracter der Personen, die man redend einführet,
trifft und behält. Dieses Kunst-Stück muß auch der Leser wissen, und sich in acht
nehmen, daß er dem Verfertiger des Gesprächs nicht eine fremde Meynung andichte.
Vielmehr muß er durch fleißiges Nachdencken die Person heraussuchen, unter
welcher sich der Auctor hat verbergen wollen. In Sinn-Bildern hüte man sich,
sich, daß man nicht auf eine lächerliche Spitzfündigkeit verfalle, noch solche
Sinn-Bilder mache, darinnen nicht die geringste artige und scharffsinnige
Gedancke anzutreffen,
s. Thomasii cautel. circ. præcogu. iurispr. c. 8. §. 24. sqq.
Von dem Werth und Nutzen der Poesie sind die Gedancken der Gelehrten gar ungleich.
Scaliger wolte die Verächter derselben nicht vor Menschen gelten lassen, und wenn
man die Schrifften derjenigen ansiehet, welche allzusehr sich in dieselbe verliebet,
so trifft man eine grosse Menge Lob-Sprüche von ihr an. Wie unvergleichlich werden
nicht Homerus und Virgilius herausgestrichen, und was sind nicht in den
letztverwichenen Jahren wegen des erstern vor Feder-Kriege in Franckreich
geführet worden? Anderer Gedancken ist Tanaqvill Faber in dem kleinen Werckgen
de futilitate poetices, welcher dieselbe gar gering achtet, wobey auch
Clere tom. 1. parrhasian. nachzulesen, wiewohl 1698.
wieder die berührte Schrifft
des Fabers eine besondere exercitat,
vom Herrn Schützen zu Leipzig herauskam.
Der Herr Buddeus meynet in select. iur. nat. & gent. p. 315. wenn die Poesie
behutsam getrieben würde, sey solche nicht zu verwerffen, woferne man sie aber
zu einem bösen Endzweck und zur Belustigung der eitlen Affecten brauchen wolte,
wäre besser, sich mit selbiger nicht einzulassen, wobey auch Vockerodt in
consulat. p. 128. zu lesen. Bey Beurtheilung dieses Puncts muß man die
Dichtkunst mit der Versmacherey, und das Wesen der Poesie an sich selbst mit
dem Mißbrauch derselben nicht vermischen. Die Versmacherey, wie
[2022] sie oben beschrieben worden, ist von schlechtem Nutzen, indem sie weiter
nichts, als einen angenehmen Klang in den Ohren verursachet; die Dichtkunst
aber bringt ihren Nutzen in der Schärffung des Ingenii, wodurch hernach ganz
besondere Früchte in der Kunst mit andern umzugehen erwachsen; doch muß man
hierinnen in den Schrancken bleiben und dem Judicio keinen Schaden thun, weil
man sonst dergleichen Poeten in Gesellschafften als lustige Räthe zu
brauchen pflegt, auch selbige nicht zu einem Instrument der bösen Affecten
brauchen. Studirenden der Rechten wird die Dicht-Kunst deswegen für nützlich
gehalten, weil sie zum öfftern bey Erklärung der Gesetze den casum legis durch
eine scharfsinnige Dichtung selbst erdencken müsten. Von der Eloqventz, oder
Beredsamkeit ist sie eine Schwester, wobey wir uns einer Frage erinnern: ob
Poeten zugleich grosses Glück in der Beredsamkeit haben? Es hat Mr. de la
Monnoye eine Rede gehalten, darinnen er die Materie ausführte, daß gemeiniglich
die Redner zugleich nicht gute Poeten gewesen, und daß die Poeten ordentlich
sich nicht glücklich in der Beredsamkeit gesehen. Er berufft sich auf den Ciceronem,
dessen poetische Arbeit schlechten Beyfall gefunden, und zeiget, wie Virgilii und Horatii
Schriften in der Beredsamkeit gleichfalls kein groß Aufsehen gemacht, s. la clef
du Cabinet des Princ. Juillet 1714, p. 67. Unsers Erachtens läßt sich diese Frage
so schlechterdings nicht verneinen, indem man nicht nur den angeführten Exempeln
gegenseitige Exempel entgegen stellen kan, wie wir dergleichen unter den
teutschen Poeten an dem vortreflichen Herrn von Lohenstein, und noch heut zu
Tage an dem Herrn von Besser finden; sondern auch nicht schwer darzuthun ist,
wie die Poesie und Beredsamkeit sich gar wohl
beysammen aufhalten können, wenn nemlich das Naturell und die emsige Ubung
in beyden mit einander verknüpfft werden. Doch geht es leichter an, daß ein Poet
in der Eloqventz was vor sich bringt, als daß ein Redner in der Poesie grosse Thaten
thun könne, weil ein besonderes Naturell dazu erfordert wird.
Wer sich auf die Poesie legen will, der prüfe erstlich sein Naturell, welche
Prüfung auf zwey Stücke ankommt: erstlich auf die Begierde zur Poesie, und ob
dasjenige, was uns zu selbiger anreitzet, ein natürlicher Trieb; oder nur ein
gemachtes Verlangen sey? Ist das letzte, so lasse man das Dichten bleiben; verspüret
man aber von Natur zur Poesie eine sonderliche Begierde, so forsche man, wie weit
sie gehe, und ob man ein blosser Versmacher; oder ein rechtschaffener Dichter zu
werden gedencke. Das erste ist am allergemeinsten, und braucht schlechte Mühe; das
andere aber erfordert was mehrers, dahers man auch
das andere Stück des Naturells,
[2023] oder die natürliche Fähigkeit zum Dichten prüfen und erforschen muß.
Wer von Natur nicht darzu geschickt ist, der verwirre sich mit dem Dichten nicht,
und dencke: poetæ nascuntur, non fiunt. Es ist eine Mitleidenswürdige Ubung, die
man heut zu Tage auf den meisten Schulen unter dem Nahmen der Poesie ohne
Unterscheid mit allen und jeden jungen Leuten treibet, da doch unter zwantzig
Köpffen mehrentheils kaum einer, oder zwey zur wahren Poesie von Natur fähig
sind. Hat aber einer ein Naturell und eine Fähigkeit zum Dichten, so muß er solche
durch Lesung poetischer Schrifften, durch fleißige Ubung, durch eine Erfahrung und
Erkänntnis anderer Wissenschafften verstärcken, verbessern und in eine geschickte
Fertigkeit bringen. Die poetischen Schrifften sind entweder Einleitungen zur Poesie,
oder es sind Gedichte und in Ansehung der erstern hat man sich mehr um solche Regeln,
die einem zeigen was man vor Thorheiten bey den Erfindungen vermeiden musse,
als um viele positive, die eigentlich Anleitung zu dieser Kunst geben solten,
zu bekümmern, wobey die Schrifften des Aristotelis und Horatii,
und von den neuern
des Scaligers, Rapins, Boileau, Bessü und anderer zu lesen.
Die Poeten selbst sind nicht
von einer Sorte. Unter den Griechen hat in heroischen Gedichten den Vorzug Homerus;
in Tragödien Sophocles; in Oden Pindarus und Anacreon.
Von den Römern kan man in
verliebten Sachen den Ovidium; in Tragödien den Senecam;
in Oden den Horatium; in
Lob-Gedichten den Claudianum; in Satyrischen den Juvenalem
und Persium; in Helden- und
Schäfer-Gedichten den Virgilium lesen. Von den neuern Ausländern sind berühmt
sonderlich in geistlichen Sachen die Engelländer; in scharffsinnigen, in Oden und in
Schäfer-Gedichten die Italiäner; in satyrischen die Holländer; in galanten aber, in
Lob-Gedichten und Schau-Spielen die Frantzosen. Teutschland kan auch die
geschicktesten Poeten von allerhand Gattungen aufweisen, und sind hierinnen
der Herr von Lohenstein, Hoffmanns-Waldau, Gryphius, Abschaz, Canitz,
Neukirch, Besser, Philander von der Linde, Neumeister, Amaranthes, Menantes,
Brockes, Amthor und andere bekannt. Die stetige Ubung muß den gelegten Grund
weiter hinaus führen, und ein Poet suchet billig eine Erfahrung in historischen
Sachen. Es haben die Gedichte, wenn ein Poet was schreibet, das er selbst
empfunden, vielmehr Geist und Leben, wie denn verschiedene erinnert, daß derienige
gar schlecht in verliebten Gedichten zu rechte kommen würde, der nicht
selbst erfahren, was die Liebe vor ein Ding sey. Unter den philosophischen
Wissenschafften hat ein Poet die Logic nicht bey seite zu setzen, und die Moral
muß ihm
[2024] den Weg zu der Erforschung der menschlichen Gemüther weisen, s. Rabeners
disp. de natural. & philos. subsidiis poëseos.
Von der Historie der Poesie sind viele Bücher vorhanden. Von der Hebräischen
handeln Pfeiffer in diatr. de poësi Ebr. und
in dub. vexat. p. 537. sqq. van Til
von der Sing- und Dicht-Kunst der alten Hebraer. Garofali della poësia dei
Hebræi & Greci; von der griechischen und lateinischen Gyraldus
in histor. poëtar.
Vossius de poëtis græcis & latinis, Borrichius
in dissert. de poëtis,
Fabricius
in bibl. græc. und lat. Morhof in polyhist.
Tanaqv. Faber in viris poëtar. græcor.
von der teutschen Morhof von der teutschen Sprache, Neumeister de poëtis
germanicis, Reimmann in histor. litter. der Teutschen
l. 2. sect. 3. und überhaupt
Stolle in der Historie der Gelahrheit part. 1. c. 5.
Anleitung zu der teutschen Poesie haben
geschrieben Morhof in gedachtem Buch von der teutschen Poesie
und Sprache; Omels
in der gründlichen Anleitung zur teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst; Ludwig
in der teutschen Poesie dieser Zeit; Uhse in dem wohl-informirten Poeten; Weise
in den curieusen Gedancken von teutschen Versen; Rotthe in der teutschen Poesie,
Menantes in der allerneuesten Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen.
Erstdruck und Druckvorlage
Philosophisches Lexikon,
Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic,
Pnevmatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch
Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie
erläutert; die Streitigkeiten der ältern und neuern Philosophen erzehlet,
die dahin gehörigen Bücher und Schrifften angeführet,
und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet werden,
Mit nöthigen Registern versehen und herausgegeben von Johann Georg Walch.
Leipzig: Gleditsch 1726, Sp. 2019-2024.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
PURL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101078171251
URL: https://books.google.fr/books?id=JTRPAAAAYAAJ
URL: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN319269612
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10047274
Literatur
Billi, Mirella: Johnson's Beauties.
The Lexicon of the Aesthetics in the Dictionary.
In: Textus. English Studies in Italy 19.1 (2006), S. 131-150.
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Considine, John: Academy Dictionaries 1600-1800.
Cambridge 2014.
Durkin, Philip (Hrsg.): The Oxford Handbook of Lexicography.
Oxford 2016.
Farnbauer, Sophia / Schäufele, Wolf-Friedrich (Hrsg.):
Übergangstheologie und theologischer Wolffianismus.
Neue Perspektiven zum Beginn der protestantischen Aufklärungstheologie.
Leipzig 2025.
Rodriguez, Antonio (Hrsg.): Dictionnaire du lyrique.
Poésie, arts, médias.
Paris 2024.
Schneider, Ulrich J.: Die Erfindung des allgemeinen Wissens.
Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung.
Berlin 2012.
Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie.
Stuttgart u.a. 2010.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer