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NAchdem wir gesehen, wie die Poësie in diesem und jenem Lande stehe, so
wollen wir auch nun sehen, wie sie an sich selber beschaffen sey. Ich
habe schon oben gesagt, daß die Poësie ihren Ursprung von dem Lobe GOttes
genommen; und mit diesem solte sie auch allezeit zu thun haben. Bey denen
Hebräern findet man nichts als geistliche Gedichte, und die Heyden haben
es ihnen eine Zeitlang nachgethan. Nach der Zeit rissen die Lob-Lieder der
Helden, und endlich die Durchziehung des Nächsten
[93] ein, aus welchen letzten die sogenannten Satyren entstanden seyn.
So lange die Poësie mit GOtt zu schaffen hatte, blieb sie in ihrer natürlichen
Freyheit; nachdem sie sich aber mit Menschen einließ, so muste sie auch von
Menschen Gesetze annehmen. Denn GOtt verlanget nichts als das Hertz, darum
klinget ihm auch alles angenehm, wenn man es nur von Hertzen saget. GOtt ist das
höchste Gut: darum kan man ihn nicht gnugsam loben; GOtt ist heilig: darum
kan man von ihm nichts böses dencken. Die Menschen hingegen sind voller Schwachheit,
und wenn sie gleich etliche Tugenden haben, so haben sie dennoch auch alle
ihre Fehler. Derowegen ist es eben so thōricht einen Menschen in allem zu loben,
als einen andern gantz zu verachten; gleichwohl erfordert es einiger massen die
Pflicht, daß man die Tugend loben, die Laster aber bestraffen solte. Zu dem
Ende haben die alten Poeten Regeln erfunden, nach welchen man sich in der Poesie
richten kan. Diese Regeln sind theils aus denen Exempeln der Alten, am meisten
aber aus der Natur genommen, und zielen hauptsächlich dahin: 1) Daß man
allenthalben mit der
[94] Natur einstimmen, 2.) daß man durch angenehme Erfindungen den Leser
ergötzen, 3.) daß man allerhand und zuweilen verdeckte Lehren einstreuen,
und 4.) daß man das Hertz des Lesers gewinnen möge.
Die Übereinstimmung mit der Natur ist nichts anders, als wenn wir ein Ding
vorbringen, wie es die Natur selber sagen würde, wenn sie auftretten und reden
solte. Demnach muß ein Schäfer nicht hoch und prächtig, ein Held nicht verzagt
und niedrig; ein Betrübter nicht allzu künstlich; ein Verliebter nicht scharff
und gar zu sinnreich sprechen. Wir müssen uns aber auch die Natur in ihrer
Vollkommenheit, und nicht in ihren Mißgeburten und Fehlern vorstellen.
Wenn ich also einen Schäfer aufführe, so muß ich ihn nicht als einen Schlesischen
oder Märckischen Bauern, sondern als einen solchen aufführen, wie ich mir etwan
einbilde, daß Jacob oder David beschaffen gewesen. Einen Held muß man zwar viel
höher als andere, aber doch nicht ohne menschliche Empfindungen vorstellen.
Also tadelt man an Virgil mit Unrecht, daß er den Æneas einige mahl Thränen
vergiessen läst. David und Jonathan weinten auch, und unter den
[95] Heyden thate es allerdings Alexander und Cæsar nach.
Allein ihre Thränen
waren anders beschaffen als anderer Leuthe. sie weinten wie Männer und nicht
wie Weiber. Und eben dieses hat man bey allen Betrübten, Verliebten und andern
Passionirten in Acht zu nehmen, daß man nemlich überall durch das ganze Gedichte
den Haupt-Affect, den man der Person beygelegt, prædominiren läst;
ausgenommen bey einem Zornigen, Rasenden, Närrischen und Verzweiffelten: Denn
weil diese wider die Natur agiren, so muß man ihnen auch unnatürliche Bewegungen
geben.
Die Erfindungen oder vielmehr Poetische Dichtungen sind gleichsam die Seele
und das Leben eines Gedichtes; so wie man füglich die Disposition oder Eintheilung
den Leib und die Reime den Habit betitteln möchte. Ohne die Erfindung ist alles
todt, und ein Gedichte ist alsdenn kein Gedichte, sondern nur eine gereimte
Rede zu nennen. Die Grichen und Römer sind hierinnen Meister; sie hatten einen
grossen Vortheil vor uns, denn sie konten sich aller heydnischen Götter und
Fabeln bedienen: gleichwol sind uns mit Abschneidung der Fabeln nicht alle
Dichtungen abgeschnitten, und
[96] wenn man will, so kan man noch täglich neue finden. sie dürffen auch
nicht allemahl weitläufftig seyn. Folgendes Sinn-Gedichte ist sehr kurz,
gleichwol ist die Dichtung darinnen sehr schöne:
Der Mord-Geist der Stadt Rom stieg in den Pfuhl der Höllen,
Und nahm die Furien ihm zu Gehülffen an,
Kommt, sagt er, helffet mir einst den Augustus fällen,
Weil Arglist, Gifft und Stahl ihn nicht verletzen kan;
Sie aber wolten sich nicht dessen unterfangen:
Was Furien zu arg, hat Livia begangen.
Ob nun wol einem Christen gar unanständig ist heydnische Götter
einzuführen; so kan er dennoch wol die Sachen, die sie entweder bedeutet
oder denen sie vorgestanden, als an statt der Ceres die Felder, an statt
des Neptunus die Flüsse, oder auch einen Fluß allein, an statt der Pomona
einen Garten, oder auch Baum redend einführen, und auch hierinnen die
Grichen und Römer imitiren. Wer eine geschickte Erfindung sich will zu wege
bringen, lese vorhero von dergleichen Materie, darinnen er schreiben will,
einen guten Autorem, da werden ihm bey dessen Erfindung wiederum allerhand
andere Erfindungen beyfallen. Und da ist der beste Rath, die erste die beste
genommen, die der Enthusiasmus poëticus darreicht,
[97] ohne daß man groß daraus meditire. Hernach bilde man sich den Affect,
welcher in dem Gedichte regieren soll, recht lebhafft vor, ja stelle sich recht
an dessen Stelle, dessen Affect man beschreiben will. Viele nehmen ihre Zuflucht
bey der Invention zu den Locis topicis, derer 15. seyn: Locus notationis,
definitionis, generis & specierum, totius & partium, causæ efficientis,
materialis, formalis, finalis, effectorum, adjunctorum & circumstantiarum,
comparatorum, oppositorum, exemplorum, testimoniorum. Nun muß ich wohl
gestehen, daß wenn man nach diesem Register anfängt zu meditiren, man gar einen
reichen Vorrath an allerhand guten und schönen Gedancken sich zu wege bringen
kan. Die Notatio führet einen aus der Sache Benennung, Derivation, Æquivocation,
Synonyma, ic. auf ein artiges Anagramma, wie auch nicht weniger auf allerhand
Allusiones solcher Dinge, die mit unser vorhabenden Sache gleichen Nahmen führen,
oder doch nicht viel unterschieden sind. Die Definition führet einen in einem
lustigen Gedichte zu einer scherzhafften Description, wenn sie gleich in der
That nicht wahr ist; In einer ernsthafften Sache aber darf zwar die Definition
nicht der Logicalischen an
accurates[98]se gleich seyn, sondern es verrichtet
es auch eine Description,
wenn sie nur alle membra beysammen hat, worinnen sie sich von andern
unterscheidet. Die Loci adjunctorum, circumstantiarum & comparatorum, zu
welchen letztern die fictiones und Prosopopœien gehören, geben noch die meiste
Gelegenheit zu meditiren. Jedoch wenn einer sein Gedichte einzig nach den Locis
topicis ausarbeiten wolte, würde es mehr nach der Oratorie als Poesie schmencken.
Zu dem so præsupponiren auch die Loci topici
eine vollkommene Notition von der
Grammatica, ad Locum notationis: von der Logica ad Locum generis & speciei &
definitionis: von der Mathematica ad Locum totius & partium:
von der Moral ad Locum causarum: von der Oratorie,
Jurisprudenz, Theologie, Historie zu
den übrigen. Diese nun heist Inventio thematis. Was aber die Invention generis
anlangt, nimmt man gern zu traurigen und ernsthafften Sachen das jambische, zu
lustigen und scherzhafften das trochæische
und dactilische Genus; hat man aber ein
Sprichwort oder Sentenz auszuführen, so muß man sich nach
dessen Genus richten.
Wienöthig in denen Gedichten die Leh[99]ren seyn, braucht keiner grossen Erörterung. sie sind eben dasjenige in der Poesie, was das Salz in Speisen; darum haben alle Alten davor gesorget, wie sie dem Leser mit ihren Gedichten erbauen möchten. Dahin zielten die Traur- und Freuden-Spiele, die Oden, die Satyren, und insonderheit die so künstlich erfundenen Helden-Gedichte. Allein unter uns sind die meisten von dieser Gewohnheit abgewichen. Man schreibet viel Worte, aber wenig Lehren; und wenn man gleich auch einige mit untermengt, so fehlet es doch an der Art, sie anzubringen. Man muß nicht allezeit lehren; denn diess kommet einem Schulmanne und seinen Poeten zu. Man muß nicht weitläuftige Lehren geben; denn dieses macht den Leser leicht verdrüßlich. Man muß sie auch nicht allenthalben einstreuen denn alle Materien vertragen sie nicht. Wider das erste hat Grotius gehandelt, da er de veritate Religionis Christianæ geschrieben. Wider das andere Lohenstein, wenn er so viel Realien und Sentenze auf einander gehäuffet. Wider das dritte Hofmannswaldau, wenn er in seinen Helden-Briefen offt die allerzierlichste Betrachtungen machet. Sein erster Helden-Brief kan uns zum Exempel dienen. Eginhard fängt mit der grösten Hefftigkeit an zu schreiben; aber er [100] hat kaum 8. oder 12. Zeilen gesetzt, so verfällt er in folgende moralische Betrachtung:
Der Stände Gleichheit ist der Liebe Possen-Spiel,
Sie bindet Gold an Stahl und Garn an weise Seyde,
Macht, daß ein Nessel-Strauch die edle Rose sucht,
Zu Perlen legt sie Grauß, zu Kohlen legt sie Kreide,
Und propfft auf wilden Baum offt eine edle Frucht.
Die Liebe ist einer von den allerstärcksten Affecten; darum muß auch in solcher
mehr die Neigung des Willen als die Tiefssinnigkeit
des Verstandes pædominiren;
unterdessen dürffen ihre Ausbindungen doch nicht schläfrig seyn.
Des Lesers Herz zu gewinnen, sind nächst denen vorhergehenden Puncten noch
dreyerley Mittel: Erstlich unverhoffte und schöne Gedancken; zum andern
die Bewegung der Affecten; drittens eine edle
und nach allen Materien gerichtete
Schreibens-Art. Diese drey Stücke gehören zwar in die Lehre von der Rede-Kunst:
Weil doch aber ein Poet ohne diese seinen Entzweck nicht erreichen wird, über
dieses auch ein Poet anders als ein Redner die Affecten beweget
[101] nemlich weit hefftiger, auch anders schreibet; so wollen wir doch was
weniges davon sagen.
Herr Morhoff recommendiret zu schōnen und unverhofften Gedancken, daß man sich
solle Excerpta phrasium, descriptionum, comparationum & ironismorum aus andern
guten Poeten machen; allein das wäre viel zu mühsam, wenn man allererst dergleichen
Æraria poëtica sollte nachschlagen,
indem man schon die Verse wolte machen. So würden
auch die Gedancken nicht zum besten aneinander hangen, sondern man würde bald
gewahr werden, daß es Flickwerck sey. Wenn man ja gute Gedancken sich sammlen
will, so muß man solche mehr aus ungebundenen Schrifften als gebundenen sich
gesammlet, und schon im Gedächtniß haben. Solche nun lassen zwar schöne aber nicht
unverhofft. Unverhoffte Gedancken aber erfindet die Seele selbst, wenn sie entweder
mit der erfundenen Sache bald wieder auf was anders alludiret,
oder eine Zweydeutigkeit darinnen heget, oder aus einer Invention
in die andere verfällt, von GOtt
aufs Licht, vom Lichte auf die Erleuchtung, von der Erleuchtung auf das Sehen!
Daher es kommt, das offt eine Strophe der andern
[102] Mutter ist. Solche Gedancken heissen deswegen unverhofft, weil solche nicht
aus der Kunst und den Locis topicis hergenommen,
sondern von dem Enthusiasmo
poëtico herrühren, und einer, der dergleichen Gedichte liest, nicht hat
vermuthen können, daß dieses folgen werde. Hier kan zwar eine gute Belesung etwas
thun: das meiste aber muß ein gutes Naturell ausrichten.
Was die Bewegung der Affecten anlangt, so muß man
vornemlich den Haupt-Affect
desjenigen wissen, dem man zu gefallen schreibet. Einen Wollüstigen kan ich
wol mit zärtlichen Worten und lamentiren bewegen; aber einen Hoffärtigen nur
mit submissen Worten, oder wenn ich von ihm was gedencken will, mit hochtrabenden
Vorstellungen, schreib ich aber überhaupt was; so muß ich eher suchen durch
scharffinnige Gedancken und tugendhaffte Vorstellungen gelehrte und tugendhaffte
Gemüther zu bewegen. Speciale Historien, die denselben vor allen andern nur
angehen, dem zu gefallen was geschrieben wird, bewegen nicht wenig die Affecten.
Deßgleichen besondere Sprichwörter, so man gegeneinander im Brauche hat.
Lasterhaffte zur Gewogenheit zu bewegen, ist was schweres, wenn
[103] man nicht ihren Haupt-Affect loben und billigen will; inzwischen muß man
vergnügt seyn, wenn man sie nur durch eine tugendhaffte Vorstellung zur Unruhe
bewegt, daß sie nur nicht gantz in ihren Lastern einschlaffen, oder auch durch
eine satyrische und lächerliche Art gar ein wenig zur Ungedult bringt, welche
dann offters eine Besserung nach sich zieht, von beyden Puncten aber giebt die
Oratorie weitläufftigere Anleitung.
Was die Schreib-Art anlangt: so schreiben die meisten Verse-Macher entweder
gar zu hoch, oder zu niedrig: gar zu weitläufftig, oder zu kurz: gar zu frey,
oder zu gezwungen: gar zu feurig oder zu kalt: gar zu künstlich, oder zu
einfältig; und mit einem Worte: wider die Natur und Regeln der Alten. Unter die
Allzuhohen gehōren diejenigen, welche etwas übersteigende Metaphoren brauchen
oder alle Gedichte mit Zibeth und Ambra würtzen; Und ich weiß nicht, ob nicht
auch die hieher zu rechnen, die in einem Helden-Gedichte (welches zwar die
höchste Schreib-Art erfordert) gar kein gemein Wort, als Brod, Milch, Stroh
etc. erlauben wollen, weil sie auch nicht das Wort Panis, sondern allezeit aus
eine
höhe[104]re Art ausgedruckt, in des Virgilii Æneis finden, ein anders ist es,
wenn man sie schlechterdings hinsetzte: das liebe Brod, die süsse Milch etc.
Unter die Niedrigen sind zu zehlen, welche mit dem Pöbel und gemeinen Leuten
reden, in den Worten keinen Unterscheid machen, und alles sagen, wie es ihnen
zu erst in die Feder kommt: auch wol noch eine Zierlichkeit daraus wollen machen,
wenn sie der Bienen ihr Sumsum und der Trompeten Taratantara in Versen ausdrucken:
welches allenfalls noch wohl zu lustigen und Scherz-Gedichten, aber nicht in
ernsthafften und Helden-Gedichten kan angewendet werden. Die Allzuweitläufftigen
nenne ich, welche nicht allein in schlechten, sondern auch in zierlichen Dingen kein
Ende wissen, die Kurtzen, welche die Weitläufftigkeit vermeiden wollen, aber
durch allzu sorgsame Sparung der Worte dem Leser unverständlich und dunckel werden.
Allzufrey schreibet man, wenn man unter einer gebundenen und ungebundenen Rede
keinen Unterscheid macht: oder auch sich alles, es bestehe gleich in Gedancken
oder Worten, zu gute hält; gezwungen aber, wenn man entweder in dem ordentlichen
Satze der Worte fehlet, oder die Worte wider ihre Natur verkürtzet, oder endlich
dem
vorhergehen[105]den Reime zu gefallen reimet. Allzu feurige Poeten sind, welche
allenthalben pathetisch schreiben, wo sie doch gelinde schreiben solten;
kaltsinnige, welche gar keinen Affect bewegen können. Allzu künstliche Poeten
binden sich entweder allzugenau an die Regeln, oder wollen allezeit etwas scharffsinniges
sagen; einfältige aber, welche gar nichts gesaltzenes fürbringen, sondern nach
der gemeinen Leyer schreiben, sind nur Reim-Schmiede. solche Verse-Macher nun
zusammen taugen nichts, und sie mögen machen was sie wollen, so hat es doch weder
Geschmack noch Art.
Ob nicht gar viele von unsern Poeten unter eine von diesen Sorten gehören, lasse ich dahin gestellet seyn: Ich will mich zu keinem Richter aufwerffen; inzwischen ist doch gewiß, daß die gebundene Schreib-Art von der ungebundenen sehr unterschieden, und zum wenigsten anders seyn muß, als sie die Herrn Weisianer beschrieben. Erstlich muß sie ein wenig nach den Fictionen der Alten schmecken; darff eben nicht deßwegen die Götter der Heyden allemal aufführen. Also sage ich in Prosa: Die Sonne war aufgegangen; in gebundener Rede aber: Aurora hatte kaumi die Fackel aufgesteckt; oder: [106] Aurora hatte kaum den schleyer abgelegt. Zum andern muß sie nach Beschaffenheit der Materien höher seyn; In Prosa spreche ich: Ich bin voll Kummer und Betrübniß; in gebundener:
Ich schwimm in einer See von Thränen, Angst und Sorgen,
In jener: Sey mir gnädig, erbarme dich meiner. In dieser:
Laß einen milden Strahl auf meine Scheitel schiessen.
Zum dritten ist die Poetische Schreib-Art zuweilen in der Redens-Art verwegener und kühner als die Prosa, e. g. in Prosa sage ich: Die grosse Zuversicht macht, daß ich allen Kummer bey Seite setze. Hingegen sagt Hoffmannswaldau:
Die steiffe Zuversicht streicht allen Kummer hin.
Allein bey allen diesen Dingen muß man sich in acht nehmen, daß 1) man dergleichen Redens-Arten nicht am unrechten Orte anbringe, 2) daß man sie von guten und bewährten Autoren nehme, 3) daß man, wenn man ja einige neue ersinnet, sie so erfinde, daß sie der Natur unserer Sprache nicht zuwider seyn; als wie in einer Satyre folgender Gestalt ein junger Mensch beschrieben wird.
Wilt du geehret seyn, brach jüngst ein Vater loß
Zum Sohne, dem die Milch noch aus dem Barte floß.
[107]
Endlich muß auch ein Poet seinen Gedichten einen gewissen Zug und Art geben,
welche sie von gemeinen Erfindungen unterscheiden; das ist: Er muß sie nicht
nach der Oratorie eintheilen; sondern er muß gantz einen andern Weg gehen, und den
Leser offt so verwirren, daß er kaum begreiffen kan, wie sich der Poet am Ende
auswickeln wird. Dieses ist schwer, und noch schwerer zu sagen, als auszuüben.
Wir werden aber in nachfolgenden Capiteln Gelegenheit finden, von diesem allen ein
mehrers zu reden.
Wir wenden uns inzwischen zu denen verschiedenen Arten der Poesie, und da treffen wir nach der gemachten Eintheilung an zum 1) Oden, welche die Andacht hervorgebracht, 2) Hirten-Gedichte; 3) moralische Gedichte, 4) satyrische Gedichte, 5) Sinn-Gedichte, welche die eigene Ergötzung gezeuget, 6) Liebes-Gedichte, so die Liebe verfertiget, 7) Lob-Gedichte, 8) Helden-Gedichte, 9) Schau-Spiele, die mehrentheils von der Danckbarkeit herstammen; zuletzt vermischte Gedichte, die zum wenigsten die Danckbarkeit sollen zum Grunde haben.
Erstdruck und Druckvorlage
[anonym]: Anleitung zur Poesie /
Darinnen ihr Ursprung / Wachsthum / Beschassenheit und rechter Gebrauch
untersuchet und gezeiget wird.
Breßlau: Michael Hubert 1725, s. 93-107.
Die Textwiedergabe ersolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb10572880
PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015003633867
URL: https://books.google.sr/books?id=sslKAAAAcAAJ
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