Johann Christoph Männling

Der Europæische Helicon, Oder Musen-Berg

 

CAP. II.
Von der Annehmlichkeit der Dicht-Kunst

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

I.

DAs Gemüthe des Menschen nennet dasjenige annehmlich / was / wo nicht allen / doch einem un[9]ter den fünff Sinnen eine Ergötzung machet. Gewiß / so nicht ein einäugichter Polyphemus allhie sein Wort soll zum Urtheils-Spruche stellen / so wird man sonst sagen / daß die Poeterey unsere Ohren / unsere Augen und unsere Gemühter mit angenehmer Erquickung überziehe / und heist von ihr was Erasmus schreibet: Ex omnium Disciplinarum Deliciis ac medullis condita Placenta, atque è lectissimis quibusdam flosculis compositum mellificium, Poesis est. Desgleichen Philippus Melanchthon: Flos & Thesaurus Eruditionis, Magistra vitæ & formatrix Linguarum, Poesis.

2. Wer unter annehmlichen Blumen wandelt / der wird durch ihren Geruch und bundte Farben mit Freuden begeistert / und wenn das Gemüht zwischen den Gratien und Musen wandeln kan / so muß es warlich neue Anmuht schöpffen; Weswegen Pindarus die Musen beschreibt / sie wären von Silber / anzudeuten / daß die Kunst der Poeterey nicht aus dem Staube oder Deucalions Steinen stamme/ sondern die allerköſtlichste und schönste unter allen andern sey. Bartholi begnügsame Armuht p. 7. c. 1. Wie denn Opitz gar zierlich geredet: Die gantze Poeterey bestehe im Nachäffen der Natur; weiln die Dichterey einen Berg vorstellet mit tauſend Kräutern / einen Garten mit unbeschreiblichen Blumen / ein Mahlwerck daran die Kunſt zu spüren / und in Summa / alle Lust / die ihm das Gemühte nur einbilden mag / und ist wol wahr / was Plutarchus sagt: Quemadmodum in iisdem pascuis Apis florem sequitur, capra fruticem, [10] sus radicem, quadrupedia fructum, sic in poetis alius aliud quærit, hic Historiam, ille Sermonis Ornamenta, ille probationes, ille præcepta vivendi. Daß dannenhero Ovidius von ihr singt Lib. Amor 3. 11. c. F.

Exit in immensum fœcunda Licentia vatum
    Obligat historica nec sua verba fide
.

Und Buchnerus von Poeten:

Poetæ est repræsentare Rem licet recedat a Regula.

3. Die Dicht-Kunst führt auf den Parnassum, da wir nicht dürffen aus der Stelle gehen. Sie weiset uns die güldne Berge / die Schatz-Kammern Indiens / da wir keinen Schacht betreten. Sie bringt uns in die glückliche Insuln / in das gelobte Land / wo Honig und Milch fliest / da wir nicht dürffen aus der Stuben schreiten. Sie stellet uns den Kasten Noä und das alte Eiß von der Sündfluht vor / als wann es noch vor unsern Augen schwimme. Sie weiß Methusalems Zeit so zu erneuren / als wenn sein Stunden-Glaß itzt erst anfinge zu lauffen / und wie weit wir mit unserm Verstande reichen / mit unsern Sinnen begreiffen / daß weiß sie alles lebendig und vollkommen vorzustellen. Wie dann der berühmte Barlæus in seinen Poemat. P. 2. gar schön schreibt: Nemo propius ad Deos accedit, nemo cum iis familiarius agit, nemo indolem divinam magis refert quam Poeta. Joves, Mercurios nobiscum loqui facimus in Poesi, quod nec Juris Consulto, nec Medico, nec Philosopho, concessum. Non minus ubique sumus quam superi, & licet habitemus in Terris [11] intermundiis Epicuri, cum libet scribimus. Solus post Deos Miracula facit Poeta, mortuis vitam reddit, & immortalitate donat Achillem. Cæsis visum dat &c. probosq́; superlativis donat - nec abest a Miraculo, grandem cæli Machinam in Epigrammatis punctum contrahere, & numerosos Exercitus classesque Terras omnes & Insulas paucis pagellis complecti, etc. Wuste Orpheus seine Proserpinam aus der Hölle mit seiner Harffe zu bringen / so weiß die Dichterey durch ihren lieblichen Thon einen verirten melancholischen Saul wiederum auffzurichten.

4. Einige deriviren das Wort Poeterey / von ϖοίεω, ich mache / arbeite / formire, baue auf / dichte / ahme nach / etc. Also daß ein Poet der sey / welcher stets arbeite / nachsinne / und occupat in der Mühe sich erweise. Garzon will / es komme her von ϖοιηϑὴς, welches so viel heist / als eine schöne Rede. Aber kurtz zu fassen / so stammt es her von ϖοιητὴς, welches so viel anzeiget / als ein Poet sey ein stattlicher Macher oder Kunst-Würcker / der seine Rede geschicklich ausarbeite / ziere / in gute Ordnung stelle / sein Vornehmen recht wol ausführe / dem Original naturel nachahme / fingere enim seu effingere est imitari, nempe Rem illam, cujus imago & similitudo fingitur, & qui imitatur, effingit quippiam schreibt Buchlerus in Inſtitut. Poet. p. 2. Conf. Pasor. Lexico Græco pag. 592.

5. Die Poesie ist gleichsam das Confect aller Wisschafften / so unsere Sinnen vergnüget; Und wie das Latein der Zucker ist / so keine Suppen verdirbt / son[12]dern zu allen Ständen dienlich kan appliciret werden / wie der angenehme Francisci in seinem Sitten-Spiegel p. 108. redet / eben noch viel weniger verdirbt ein gutes Carmen eine zierliche Schrifft und Rede. Massen allerhand Abwechselungen in der Poesie auf das Schau Theatrum werden gestellt / e. g. bald Wälder / bald Städte / bald Menschen und Vieh / bald Todte / bald Lebendige / bald Steine / bald Flüsse / bald Wiesen / doch alle zusammen / als hätten sie ein Leben / den Geist auff den Lippen / und die Worte auff der Zunge / so gar daß uns hernach die wohlgezierten Lehr-Sätze und Versse gefallen / die ungeschickten und Saalbaderischen Reime aber nebst einem Erbarmen ein stilles Lachen auspressen; Und soll eben der Griechische Poet Anacreon sich der Reine befliessen haben / weil er darinnen die gröste Annehmlichkeit gefunden / wie Herr Barth im 31. Advers. c. 7. gedenckt.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Der Europæische Helicon, Oder Musen-Berg / Das ist Kurtze und deutliche Anweisung Zu der Deutschen Dicht-Kunst / Da ein Liebhabendes Gemüthe solcher Wissenschafft angeführet wird / Innerhalb wenigen Wochen Ein zierliches deutsches Gedichte zu machen /
Aufgerichtet Von Joh. Chriſtoph Männlingen / Käyserl. Gekr. Poet.
Alten Stettin: Dahl 1704, S. 8-12.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/mdp.39015001783755
PURL: https://vd18.gbv.de/viewer/image/00509125X/1/
URL: https://www.deutschestextarchiv.de/maennling_helicon_1704

 

 

 

Literatur

Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966 – 1986. 3. Aufl. Tübingen 1991 (= Rhetorik-Forschungen, 2).

Fulda, Daniel / Steigerwald, Jörn (Hrsg.): Um 1700: Die Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung. Berlin 2016.

Kallendorf, Craig / Robling, Franz-Hubert: Art. Ars poetica. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1048-1068.

Meid, Volker: Barocklyrik. 2. Aufl. Stuttgart u.a. 2008 (= Sammlung Metzler, 227).

Robert, Jörg: Poetologie. In: Handbuch Literarische Rhetorik. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Berlin u.a. 2015 (= Handbücher Rhetorik, 5), S. 303-332.

Stockhorst, Stefanie: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008 (= Frühe Neuzeit, 128).

Till, Dietmar u.a.: Art. Poetik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp.  1304-1393.

Trappen, Stefan: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (= Beihefte zum Euphorion, 40).

Werle, Dirk: "Litterarischer Kommunismus". Lyrik und Enzyklopädik in poetischen Schatzkammern des Barock (Treuer, Bergmann, Männling). In: Euphorion 111 (2017), S. 1-25.

Wesche, Jörg: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 (= Studien zur deutschen Literatur, 173).

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u.a. 2010.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer