Text
Editionsbericht
Literatur
[3] Die Frage ist hochnöthig. §. 1.
Etliche thun zu viel: etliche zu wenig. §. 2.
Ein anders ist ein Poet / ein anders ein Studiosus
oder Professor Poeseos. §. 3.
Was die Poeten vor alters gewesen. §. 4.
Ob sie heutiges Tages so viel gelten? §. 5.
Etliche thun sich in Politischen Erfindungen hervor. §. 6.
Was gekrönte Poeten sind? §. 7.
Wo sie verachtet werden / sind sie schuldig und unschuldig. §. 8.
Die alten Münche nenneten die gelehrten Philologos Poeten. §. 9.
Der gemeine Mann hieß die Meister-Sänger Poeten. §. 10.
Etliche haben den Titul nicht verdient. §. 11.
Etliche wollen ein principal-Werck daraus machen. §. 12.
Ein Professor Poeseos tractirt sie als ein Instrumental-Werck
der anderen Gelehrsamkeit. §. 13.
Und sonderlich als eine Dienerin der
Beredsamkeit. §. 14.
[4] Der Nutzen ist äußerlich in verborum copia
und constructione §. 15.
in numero oratorio §. 16.
in dictione arguta & amœna. §. 17.
Worinne der innerliche Nutzen besteht? §. 18.
Wer solches lehren soll / betrachtet die Person / die es lernet
/ und die Kunst / die gelernet wird. §. 19.
Alle Personen schicken sich nicht wegen des naturels. §. 20.
Oder wegen ihres Zustandes. §. 21.
Die Kunst besteht in einer guten Præparation
und geschickten Operation. §. 22.
Zu der præparation gehören gute realia. §. 23.
sonderliche affecten. §. 24.
Der Mißbrauch der affecten macht die Poeten verhast. §. 25.
Was furor poeticus heist? §. 26.
Die Operation begreifft etwas oratorisches und etwas Poetisches. S. 27.
WEr zu dieser Zeit in Deutschland entweder selbsten Verse machen / oder auch wol andern die Bahne darzu brechen wil / der muß sich vor allen Dingen bekümmern / was die Sache vor einen Nutzen hat / und wie weit man sich in solchen studiis vertieffen sol. Denn es geht uns son[5]sten / wie jenem Kauffmanne / der kriegte seine Wahren mit guter Gelegenheit zusammen; doch er kunte sie nicht mit gutem profit wieder an den Mann bringen.
II. Etliche thun der Sache zuviel / und wolten lieber die Welt in lauter Poetische Schäffereyen verwandelt haben: doch die werden durch den allgemeinen Lauff des gemeinen Wesens leichte refutirt: Etliche wollen hingegen das Werck gar niederschlagen / und die wissen mir gleichwol nicht zu antworten / warum hohe Potentaten Professores Poëseos auff Universitäten und Gymnasiis zu halten pflegen.
III. Wenn wir dem Fundamente recht nachsinnen / so ist es ein ander thun um einen also genanten Poeten / und um einen Studiosum Poeseos, oder / wie das correlatum nothwendig darbey steht / um einen Professorem Poeseos: Denn ich nehme es bey mir ab / ich habe die Ehre gehabt ein Professor Poeseos zu seyn: doch wer mich einen Poeten genennet hätte / oder wer mich mit dem Titul noch beschwerte / und in der Ausschrifft der Brieffe einen Sinnreichen nennen wolte / der würde schlechten Danck bey mir verdienen.
[6] IV. Ein Poet / welcher den Nahmen in der That führen soll / ist ein solcher Mann / der in artigen und annehmlichen Gedichten die Göttliche und Menschliche Weißheit vorstellen kan / wie etwan der alte Plato die Poeterey tὸ ὅλov, das ist / alles mit einander / und den ganzen Begriff der Weißheit zu nennen pflegt. Und eben deswegen ist Homerus auch hernach Virgilius in allen Schulen so sehr æstimirt und getrieben worden / nicht / daß die jungen Leute solten lernen Verse machen / sondern / daß sie von den arcanis der Götter / der Opfer / und aller Tugenden etwas ausführliches begreiffen solten. Und wie etwan bey unsrer waren und von GOtt erleuchteten Religion die Psalmen und Propheten gelesen werden / nicht daß wir neue Palmen und Prophezeyungen solten nachmachen / sondern / daß wir uns daraus zu unserer Seligkeit erbauen sollen: so hatten sich die Heyden in ihrer Blindheit auch gewisse vates ausgelesen / welche bey der Jugend auch nachgehends bey den Leuten / die man aus Schulen zu nehmen pflegt / mehr zur admiration als zur imitation dienen solten.
[7] V. Je mehr aber dieselben Gedichte theils ad theologiam mythicam, theils ad prudentiam hieroglyphicam geneigt sind; desto weniger haben wir einen Staat darvon zu machen / nachdem wir die Erkäntniß GOttes und die Lehre der Politischen Klugheit etwas deutlicher und verständlicher in unsren Büchern enthalten wissen. Also ist es kein Wunder / daß mancher in den alten Poëten weniger findet / als die Leute vorzeiten darinne gesucht haben. Wenn auch jemand bey den Christen auff so ein Gedichte gedencken wolte / so würde doch solches mehr zum Zeitvertreib angenommen / als den Schulen unter dem Titul eines hochnöthigen Buches recommendiret werden.
VI. Gesetzt auch / es wolte sich jemand zu unserer Zeit bemühen allerhand artige vornehmlich aber Politische Dinge durch ein manierliches Gedichte vorzubilden / wie etwan Barclajus in seiner Argenis, Herr Buchholtz in seinem Deutschen Hercules, der Herr von Lohenstein in seinem Arminius, auch der Satyrische Boccalini in seinen Schrifften die curieuse Welt gar wol ver[8]gnügen; dennoch darff man solches jungen Leuten zum allgemeinen Exempel nicht vor stellen / und weil sich das hunderteste Ingenium nicht darzu capable befindet / so möchte es auch vergebens seyn / wenn man die ganze Kunst durch weitläufftige Reguln untersuchen solte.
VII. Zwar von etlichen seculis her ist unterschiedenen herzlichen ingeniis von hoher Käyserl. Hand der Titul beygeleget worden / daß sie den rühmlichen character als Poeten haben führen können / und also ist ein Poete nach der Zeit eine Person / die wegen der Poetischen Annehmligkeit ein hohes Zeugnis und gleichsam einen Vorzug erlanget hat / und ist also dieser Nahme gleichsam ad eruditam nobilitatem mit gezogen worden.
VIII. Wenn ich aber gedencke / warum dieses Wort hin und wieder in einige Verachtung gefallen ist / so kan ich mich auff unterschiedene Ursachen besinnen. Und an etlichen sind die Poeten wol unschuldig / in etlichen aber können sie durchaus nicht excusirt werden.
IX. Vor diesen zweyen seculis, als man sich zu der galanten erudition wiederum be[9]beqvemen wolte / so waren die Leute in Klöstern / die sich nach der alten Mode barbarisch und obscur hatten informiren lassen / den Gelehrten sehr aufsetzig / wenn sie nach der neuen Mode was anständigs in ihren stylo vorbrachten. Also wusten sie keinen Titul / der ihren Gedancken nach die damahligen Philologos hefftiger touchiren könte / und nenneten sie durchgehends Poeten. Wer sich nun von dem gemeinen Volcke die Pfaffen was bereden ließ / der ward dem Titul so gram / daß er lieber hätte was garstiges als ein Poete seyn wollen. Drum ist es auch kein Wunder / wenn die verdrießliche acception dieses Wortes / wie mehrentheils in Sprüchwörtern zugeschehen pfleget / noch fortgepflanzet worden.
X. Es kan seyn / daß die Deutschen Meisster-Sänger das Wort absonderlich zu unserer Zeit in Verachtung gebracht haben / weil sie den Nahmen als Poeten mit grossem Eyfer haben behaupten wollen.
Hat doch zu Anfang dieses Seculi Jacob Vogel ein Bader zu Stoffen im Ammte Weissenfels welcher auf Anordnung eines Comitis Pala[10]tini zum Deutschen Poeten ist gekrönt worden / dadurch so hochmüthige Gedancken geschöpfet / daß er den Prologum in einer comœdie so, anfangen läst:
Deutschland hat zwar einen Lutherum,
Aber noch keinen Homerum,
Einen rechtschaffen Propheten /
Aber doch keinen rechtschaffenen Poeten;
Doch nun thut GOtt erwecken frey.
Einen Vogel / der ohne Scheu
Zum deutschen Poeten gekrönet ist /
Von hohen Leuten dieser Frist.
So viel wuste sich der einfältige Mann / daß er sich rühmen kunte / wie der Herr Lutherus das donum propheticum oder die Gabe zu lehren in einem unvergleichlichen gradu bekommen hätte / so wäre ihm auch das donum poeticum oder die Gabe zierliche Verse zumachen so kräfftig beygelegt / daß er niemand seines gleichen in gantz Deutschland finden könte.
Wiewol bey diesem Manne möchte die Einfalt an statt der Entschuldigung dienen / wenn sich aber gelehrte Leute was einbilden / welche den cyclum eruditionis poeticæ genauer hätten unter suchen sollen / da muß auch das judicium etwas anders gefället werden.
XI. Doch / daß wir auff die Sache kommen / davon die Poeten selbst mögen [11] schuld haben / so kan es seyn / daß sich unterschiedene Leute gar zu begierig um diesen Titul beworben haben / welche weder durch ihr naturel noch durch ihre studia das τὸ ὅλον begreiffen und also den Titul ὁ πάνω sehr schlecht verdienen können. Drum klaget Lipsius schon zu seiner Zeit: Multi laurigeri, pauci Phœbi. Und der alte Siberus zu Wittenberg schämte sich des Tituls dergestalt / daß er etliche mahl unter seinen Nahmen schrieb: Poeta non laureatus, Ja Herr Opitz / welcher sich in seiner Kunst so gewiesen hatte / daß er sich des Tituls nicht hätte schämen dürffen / gebraucht gleichwol am Herrn Zincgrefen diese Worte:
Sol mir der Harm das Blut aus allen Adern saugen /
Wann ihr ein Esels-Kopff / der nichts versteht noch kennt /
Und alle Tugend hast / mich den Poeten nennt /
Und schertzt mich / wie er meint. Ich wolte / daß ichs were;
Weil ich nun nicht seyn kan / was ich zuseyn begehre /
So kränckt michs / daß ich nicht des Lobes würdig bin /
Das jemand mir für Spott gedencket anzuiehn.
[12] Es ist hier nicht genung die arme Rede zwingen /
Die Sinnen über Hals und Kopff in Reime bringen /
Der Wörter Hencker seyn: wer nicht den Himmel fühlt /
Nicht scharff und geistig ist / nicht auff die Alten zielt /
Nicht ihre Schrifften kennt / der Griechen und Lateiner /
Als seine Finger selbst / und schaut / daß ihm kaum einer
Von ihnen aussen bleibt / wer die gemeine Bahn
Nicht zuverlassen weiß / ist zwar ein guter Mann;
Doch nicht auch ein Poet.
XII. Es mag auch seyn / das etliche mit dem blossen Titul mehr gepralet haben / als die kluge und scharffsichtige Welt hat glauben und vertragen können / indem mancher Poete sein Wesen als ein principal-Werck angesehen / welches unter den Leuten einen sonderbaren Stand / auch wol gar eine sonderbare Belohnung verdienet hätte. Dannenhero weil in effecte bey diesem studio kein Verdienst zuhoffen ist / und da man die meiste fortun einer fremden und unge[13]wissen Freygebigkeit überlassen sol: so fehlet es an höhnischen Leuten nicht / und vor andern kömmt es lächerlich / wenn sich hernach ein solcher Dichtmeister / dem die Verse nicht belohnet worden / in seinen Schrifften über die Bettel-Hoch-Fürstlich-angesehen seyn-wollende Welt beschweren will.
1. Also wird die Poeterey æstimirt / wenn der Mann etwas anders darneben hat / davon er sich bey Mitteln und bey respect erhalten kan. Hr. Schottelius war Hoff-Rath zu Wolffenbüttel / Hr. Harsdörffer war ein vornehmer Patritius und Raths-Verwandter in Nürnberg / der Hr. von Hoffmannswalde war Præses in Breßlau / und viel andere mehr hatten ihren character und ihre Einnahmen / daß sie eben der Verse wegen keinem Menschen etwas abbetteln durfften / und sie hatten auch gewiesen / daß sie neben den Versen was höhers und ansehnlichers studiret hätten.
2. Der liebe Hr. Opitz hat sich um unser Vaterland so verdient gemacht / daß wir auch seyn Gedächtniß allerdings in Ehren halten: doch wenn wir seinen Lebenslauff ansehen / bestehet er in einer solchen Ungewißheit / daß ich zweiffeln muß / ob ein Vater seinem Sohne dergleichen Zustand immermehr wünschen möchte. Er hatte ein Jahr zu Franckfurt an der Oder / hernach etliche Jahr zu Heydelberg studiret, und bey Anfang der Unruh in der Pfalz / gieng er in Holland und von dar in [14] Dennemarck / er kam wieder in Schlesien und fand am Fürstl. Hoffe zu Liegnitz Auffenthalt / und ward hierauff nach Weissenburg in Siebenbürgen zum Professor beruffen. Allein er furchte sich theils wegen der unbeqvemen Lufft / theils wegen der instehenden Kriege; Dannenhero kam er wieder in Schlesien / da ward er am Liegnitzischen Hofe weiter bekandt / und bey Gelegenheit gewisser Gesandschafften bekam er am Churfl. Hofe zu Dreßden und am Kayserl. Hofe zu Wien gute Adresse und Bekandtschafft. Endlich fand er einen Patron an den Burggraffen zu Dohna / dem zugefallen hätte er auch einmahl lieber versucht ein Soldate zu seyn; doch weil er in der ersten Probe die Flucht nehmen muste / sø bekam er von dem Hrn. Burggraffen Geld / daß er durch Deutschland und von dar in Franckreich reisen kunte. Da kam er allenthalben in sonderlichen æstim, auch der vornehme Grotius führte ihn bey der Hand in die gelehrte Conferenz, welche dazumahl von den curieusesten Leuten angestellet war. Also hatte er Ehre gnung und ward von den vornehmsten Gelehrten in vertraute Freundschafft eingenommen. Bey der Wiederkunfft in Schlesien wolte ein jedweder mit ihm conversiren und etwas neues von ihm vernehmen; doch der Tod des Burggraffens machte ihm einen neuen Strich durch die Hoffnung / der Fürst zu Liegnitz bot ihm ein Gnaden-Geld an / er möchte es verzehren / wo er wolte / und als ihm die Stadt Dantzig gefiel, so lebte er da[15]selbst biß er Gelegenheit hatte dem Könige in Polen das wunderschöne Lob-Gedichte zu offeriren. Weil er nun den Cron Feldhern Dönhoff sonderlich zum Patron hatte / so ward ihm der Titul als Historiographus und Secretarius Regis beygelegt. In solchem Zustande traff ihn im Augusto 1639. die Pest in Dantzig / daß er ohngefehr im 44. Jahre seines Alters verstarb / ehe er sich eine familie formiren und einen gewissen Stand erwehlen kunte.
3. Ich will dem unvergleichlichem Manne dieses zu keiner Verkleinerung erzehlet haben: denn er hat vielleicht sein Glücke nach dem damahligen Landverderblichen Kriege richten müssen / da manch Gelehrter sein schlechtes accommodement gefunden hat. Immitelst weil dieser vornehme Mann der mit seinen Versen / als mit einer neuen galanterie prangen kunte / der auch von hohen Leuten ziemlich reich ist begnadiget worden / gleichwol in steter Ungewißheit von einem Orte zum andern herum getrieben worden / daß er seine Ruh weder in einem beständigen Ammte noch im Ehestande gefunden hat: so möchte man wol fragen / was ein Mensch, der dem Opitz nicht im tausendsten stücken zu vergleichen ist / nunmehro vor avantage bey der blossen also genanten Dichterey finden wolle.
XIII. Hingegen sind die Studiosi poeseos und hernach die Professores von welchen die Studiosi lernen sollen / nur solche Leute / welche die Verse vor ein manierliches Ne[16]benwerck halten / und die ganze Zierligkeit als ein instrumental-Wesen ansehen / das mit andern und höhern studiis gedienet wird / dahero verlangen sie auch an diesem Stücke keinen sonderbaren Vorzug / so wenig als ein Zimmermann der schönen Art wegen das Meister-Recht verdienet; sondern es werden die jungen Leute bald dahin angehalten / daß sie lieber den Nahmen eines guten Prediges / Hoff-Raths / Advocatens / Rathsherrns / Secretarii und der gleichen / als eines guten Poetens verdienen.
XIV. Und also ist die Poeterey nichts anders als eine Dienerin der Beredsamkeit / weil sie einen jungen Menschen so wol anführet / daß seine concepte nicht nur deutlich / sondern auch lieblich und etlicher massen admirable vorbringen lernet; oder / daß ich alles kurtz zusammen fasse / was ich bey meiner Profession aus der Experientz war befunden habe / so weisen die deutschen Verse theis einen Nutzen in sich selbst / theils einen Nutzen ausser sich.
XV. Der also genandte äußerliche Nutz gehet dahin / daß man in Reden / derer sich [17] ein Theologus und ein Politicus bedienen muß / eine angenehme Manier bekömmt. Man muß viel Worte suchen und unterscheiden / so lernet man verborum copiam und die hochnöthige Kunst zu variiren. Man muß alles in eine liebliche scansion bringen / so gewohnt man sich auch / daß in prosa die verdrießlichen constructiones ausgelassen werden / und der numerus oratorius, wie er genennet wird / seinen Platz behalten kan.
XVI. Denn der numerus oratorius, davon etliche so ein Wesen machen / mehr als die Chymici von dem lapide philosophico, der ist nichts anders / als eine liebliche Versetzung der Wörter / darinne das Gehör in Reden und das Gemüthe in Lesen niemahls offendirt wird; und weil der numerus poeticus etwas deutlicher und genauer gesucht wird / so folgt es endlich nach der Regel: Qvi potest majus, potest etiam minus.
XVII. Zugeschweigen daß man durch die lebhaffte Manier ad dictionem argutam & amœnam wol angewiesen wird / welche gewiß in einer jedwedern Rede was sonder[18]liches zu operiren pflegt / wenn sie nur sobrie und mit einer wolanständigen Klugheit gebraucht wird.
XVIII. Der innerliche Nutzen / da die Verse vor sich selbst etwas verrichten können / ist dreyerley. 1. Man lernet den Leuten dienen / daß man in allerhand Glücks- und Unglücks-Fällen der eingeführten Gewohnheit nach etwas gedrucktes oder geschriebenes übergeben kan. 2. Man lernet seine und andere affecten vergnügen / daß sie einer gewissen meditation desto lieber nachhängen / man mag es nun mit geistlichen Liedern / mit Tugend-Liedern / auch wol mit verliebten arien versuchen. 3. Lernet man was zur eigenen oder fremden Belustigung in den Nebenstunden aufsetzen / es mögen gleich Epigrammata, Sonnette, Madrigale, Gespräche / Brieffe oder andere dergleichen inventiones seyn / ja es mag gar auff Operen und Comœdien nauslaufen.
XIX. Wer nun die untergebene Jugend zu diesen Fällen fleißig angewiesen hat / daß sie hernachmahls hin und wieder durch die Exempel in allerhand Sprachen auffgemuntert werden / von demselbigen [19] darf dem itzigen Zustande nach nichts mehr gefordert werden: wiewol zu dieser information gehöret grosse Klugheit. Man muß die Person ansehen / welche man zum Versen anführen sol: man muß auch die Kunst ansehen / welche man ordentlich vortragen sol.
XX. Bey der Person muß man erstlich auff das naturel sehen / ob auch ein also genantes Poetisches Ingenium vorhanden ist. Denn wer keine Inclination bey sich spüret / der mag sich mit den Regeln biß auf den Tod martern lassen / er wird sich doch zu keinem Verse beqvemen / da hingegen ein ander die Lehre wie ein Zunder fängt / und in allen so glückliche progressen macht / daß er offt den Lehrmeister selbst übertreffen kan. Und ich weiß wol / nach dem ich meine collegia poetica mehrentheils so gehalten habe / daß ich andern ein Exempel gegeben / daß ihnen hernach meine elaboration zur Probe nach dictiret worden / wie sehr ich mich hab in acht nehmen müssen / daß die auditores bey dem concepte blieben / daß meines unter den schlimmsten das beste wäre.
[20] XXI. Darnach muß man auf den Zustand und auf die künfftige Promotion sehen. Wer nicht viel Zeit übrig hat / wer Gelegenheit hat in höhern Dingen zu proficiren: in summa / wer der schlechten Mittel wegen seinen cursum so enge schliessen kan / als es möglich ist / bey dem wird der Præceptor zu einem rechten Stieff-Vater / wenn er ihn gar zu tieff in die Poetischen Wälder und in die andern Schäffereyen will spatzieren lassen / weil die Klage gemeiniglich erfolget: Necessaria nescimus, qui non necessaria tractavimus.
XXII. Die Kunst selber bestehet in einer guten Præparation, und denn in einer geschickten Operation, das ist / wie man im Kupfer-Titul zusehen hat / die Losung ist nicht allein NUMERO & MENSURA, daß man die Worte messen und zehlen lernet / sondern auch PONDERE, daß in den abgemeßnen Worten Krafft und Nachdruck vorhanden ist.
XXIII. Zu der Præparation gehören erstlich gute REALIA, ferner beqveme Affecten, endlich ein kluges JUDICIUM in den Realien und den Affecten gute Masse [21] zuhalten. Woferne auch ein Lehr-Meister bey der Jugend alles zur vollen perfection nicht bringen kan / so hat er doch genung / wenn er solches erinnert / damit die Leutgen nicht zu stoltz werden / wenn sie einmahl ein paar glückliche Reime zuwege bringen.
XXIV. Ich gedencke an die Affecten: denn wo der ganze Mensch und ein rechter Ernst nicht darbey ist / da wird das Werck allemahl unkräfftig seyn / und was nicht von Hertzen kömt / das geht auch nicht wieder zu Hertzen. Dannenhero wer was lustiges oder trauriges / was grimmiges oder verliebtes aufsetzen will / der muß sich so lange in der meditation vertieffen / biß er den affect bey sich fühlt und gleichsam alles ungezwungen hinlauffen läst.
XXV. Und ich halte / dieses mag unterweilen etwas zur Verachtung gethan haben / wenn sich die Poeten mit solchen unzeitigen affecten gar zu bloß gegeben / und den raptum ihres Gemüthes in einer in differenten conversation nicht wol haben verbergen können. Also mögen sie zur Unzeit gelacht oder geweint / zornig oder verliebt gethan haben / und solches haben die andern vor eine Fantasie / ja wol gar vor eine ecclipsin judicii ausgelegt.
[22] XXVI. Die alten nenneten solches furorem poeticum, und solcher ist nichts anders / als die affectuöse Entzückung / dadurch man zu artigen inventionibus getrieben wird. Hat nun jemand diesen furorem nicht verbergen können / so hat er manchen zum præjudiz die opinion in die Welt gebracht / daß sich niemand gerne wil vor einen furiosen declariren lassen.
XXVII. Die Operation selber begreifft etwas oratorisches und etwas sonderliches / welches allein zu der Verskunst gehört. Doch hiervon wird in eigenen Capiteln gehandelt werden. Itzo wollen wir nach der beliebten Ordnung zu den andern schreiten.
Erstdruck und Druckvorlage
Christian Weisens Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen /
Welcher gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile der Beredsamkeit
was anständiges und practicables finden soll /
damit er Gute Verse vor sich erkennen / selbige leicht und geschickt nachmachen
endlich eine kluge Maße darinn halten kan:
wie bißhero Die vornehmsten Leute gethan haben /
welche / von der klugen Welt / nicht als Poeten /
sondern als polite Redner sind æstimirt worden.
o.O. [Leipzig]: Johann Friedrich Gleditsch 1692, S. 3-22.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://mdz-nbn-resolving.de/bsb00096945
URL: https://books.google.fr/books?id=6TJbAAAAcAAJ
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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer