Text
Editionsbericht
Literatur
[5] DAs Werck / so der Poet durch Sinnreiche Erfindung in einer wol- und
artiggebundener Rede zu Liecht bringt / wird von den Griechen so wol /
als den Lateinern / zu weilen ein Poema/ von uns aber ein Gedicht
genennet. Denn obwol es auch bey andern Wercken / die auf der Rede und Feder
bestehen / Dichtens und Denckens von nöthen hat; so wird doch solches bey
diesem zum meisten erfordert. Massen die Rede / und zwar mit angenehmen /
und denen Sachen / die da behandelt werden / zu stimmender Art / gebunden werden
[6] muß / dazu sich nicht jede Wort schicken. Die Rede ferner für sich selbst
auf eine besondere und fremde Weise anzustellen: Zu dem die Sachen meistentheils
erst ausgesonnen / und endlich nicht nach gemeiner Art eingerichtet und
geordnet werden müssen. Und über dieses auch allezeit dahin zusehen /
damit der Leser nicht allein einer Sachen berichtet / sondern auch unter
solcher Erzehlung so wol bewogen / und in Verwunderung gesetzt / als
auch erlustiget und ergetzet werden möge. Bey welchen allen denn / wie schon
oben gesagt / viel Dichtens und Nachsinnens von nöthen seyn will.
Erst und fürnemlich aber werden sie unterschieden nach ihrer wesentlchen Form.
Denn etliche
[7] bestehen auf einer blossen Erzehlung des Poeten / und werden keine andere
Personen redende eingeführet: darumb die Griechen diese Art Gedichte
έπαγελτίϰὰ
genennet. Andere beruhen hingegen durch und durch auf einer Handlung /
die in gewissen Personen / so daselbst eingeführet werden / vorgestellet
wird / der Poet aber für sich selbst nichts erzehlet / welcher Ursache halben
sie auch
δραματιϰὰ
von obgemeldete Griechen genennet worden. Dann was wir Deutschen
thun oder verrichten / die Lateiner aber agere, nennen / das hiessen
die Dores bey den Griechen
δρᾰν
dannenshero dieser Nahme entsprungen und abgeleitet worden ist. Hieher
gehören alle Comödien und
Tra[8]gödien / welche wir Freud- und Trauerspiele nennen mögen / und was sonsten
mehr in Form eines Gespräches abgefasset wird / derergleichen man in allen
Sprachen viel findet. Endlich sind Gedichte / da beyde oberwehnte Arten
untereinander vermischt / und dannenhero von mehrgedachten Griechen
μιϰτὰ
benahmet worden. Dergleichen des Homerus / Virgilius / Statius / Lucanus /
und anderer Poeten Bücher mehr seyn / die man Epicos genennet.
Denn theils erzehlet der Poet daselbst unter seiner Person den Verlauff der
Sachen / von welche gehandelt wird / theils in gewisser Personen Nahmen /
so daselbst eingeführet werden / und darbey zu thun gehabt.
[9] Zum andern werden die Gedichte auch unterschieden / nach Beschaffenheit der
Materien und Sachen/ die daselbst abgehandelt werden / welche mancherley sind /
als Theologisch/ Philosophisch und mehr dergleichen. Zum meisten
aber behandelt der Poet weltliche Händel / die bey dieses und jenes Standes
Personen vorgesehen. Die vornemsten Gedichte aus diesen sind die
Heroischen / da grosser Herren und Potentaten
Geschlechte / Leben und Verrichtungen beschrieben und gelobet werden.
Denen folgt die Tragödie / welche heftig-schrecklich- und traurige
Händel grosser Könige und Fürsten vorstellig macht. Welcher die Comödie /
gleich wie entgegen gesetzt, als da
[10] nichts anders / dann solche Sachen gehandelt werden / die bey dem
gemeinen Volck täglich vorgehen. Aus dieser ist die Satyra
entsprungen/ welche die Fehler und Laster der Menschen höflich durchziehet
und mitten unter dem Lachen und Scherzen nützliche
Anweisung zur Tugend thut. Es sind auch Hirten Lieder und
Schäfereyen / Lob-gesänge / Geburth-Hochzeit- und
Begräbniß-Gedichte / und andere mehr so wol auch kurze
Überschriften / oder wie es die Griechen nennen
επιγράμματα
welcher Nahme endlich allen kurtzen und nur auf etlich wenig Versen bestehenden
Gedichten gemein worden.
Der letzte Unterscheid der
Ge[11]dichte wird von der Art des Verses genommen / welcher doch der geringste
und schlechteste / darum er auch von dem Aristotele verworffen worden / weil
sich desselben die Ungelehrten nur / und die von der Poeterey mehr nicht
wissen / als etwa die Beschaffenheit des Verses / und maß derselben betrifft /
sich zu gebrauchen pflegen. Und also könnten wir unsere deutsche Gedichte
Jambisch / Trochäisch/ und mehr dergleichen / nennen. Und ob
man zwar allen Gedichten in gemein den Nahmen eines Liedes oder
Gesanges zu eignen können; So werden zu forderst doch und absonderlich
dieselben also genennet / die Gesetzes weise und also förmlich gesetzet seyn /
daß in einer gleichen
[12] Stroph eine vollständige Meinung begriffen und ausgeführet sey. Dann
solcher Gestalt können sie mit mehrer Bequemligkeit zur Music gebraucht
und gesungen werden. Allermassen wie bey den Lateinern auch man zwar ein
jedes Poema ein Carmen, quasi canimen, vom singen; absonderlich aber ein
Lyrische Ode also nennet. Dannenhero Horatius auch seine in der
Art gesetzte Bücher Carminum libros benahmet hat. Denn der Nahm
Ode ist Griechisch / und
bedeutet nichts anders als einen Gesang.
Erstdruck und Druckvorlage
August Buchners Anleitung Zur Deutschen Poeterey /
Wie Er selbige kurtz vor seinem Ende selbsten übersehen/
an unterschiedenen Orten geändert und verbessert hat /
herausgegeben von Othone Prätorio.
Wittenberg: Michael Wenden 1665, S. 5-12.
Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck
(Editionsrichtlinien).
URL: https://books.google.fr/books?id=EZdHAQAAMAAJ
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN771383614
Literatur
Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik.
In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte.
Hrsg. von Dieter Lamping.
2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.
Dyck, Joachim: Ticht-Kunst.
Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition.
Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966 – 1986.
3. Aufl. Tübingen 1991 (= Rhetorik-Forschungen, 2).
Kallendorf, Craig / Robling, Franz-Hubert: Art. Ars poetica.
In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1048-1068.
Robert, Jörg: Poetologie.
In: Handbuch Literarische Rhetorik.
Hrsg. von Rüdiger Zymner.
Berlin u.a. 2015 (= Handbücher Rhetorik, 5), S. 303-332.
Rodriguez, Antonio (Hrsg.): Dictionnaire du lyrique.
Poésie, arts, médias.
Paris 2024.
Stockhorst, Stefanie: Reformpoetik.
Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten.
Tübingen 2008 (= Frühe Neuzeit, 128).
Till, Dietmar u.a.: Art. Poetik.
In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 1304-1393.
Trappen, Stefan: Gattungspoetik.
Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre.
Heidelberg 2001 (= Beihefte zum Euphorion, 40).
Wesche, Jörg: Literarische Diversität.
Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit.
Tübingen 2004 (= Studien zur deutschen Literatur, 173).
Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie.
Stuttgart u.a. 2010.
Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer