August Buchner

 

 

Anleitung Zur deutschen Poeterey

Das I. Cap.
Vom Unterschied der Gedichte.

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

[5] DAs Werck / so der Poet durch Sinnreiche Erfindung in einer wol- und artiggebundener Rede zu Liecht bringt / wird von den Griechen so wol / als den Lateinern / zu weilen ein Poema/ von uns aber ein Gedicht genennet. Denn obwol es auch bey andern Wercken / die auf der Rede und Feder bestehen / Dichtens und Denckens von nöthen hat; so wird doch solches bey diesem zum meisten erfordert. Massen die Rede / und zwar mit angenehmen / und denen Sachen / die da behandelt werden / zu stimmender Art / gebunden werden [6] muß / dazu sich nicht jede Wort schicken. Die Rede ferner für sich selbst auf eine besondere und fremde Weise anzustellen: Zu dem die Sachen meistentheils erst ausgesonnen / und endlich nicht nach gemeiner Art eingerichtet und geordnet werden müssen. Und über dieses auch allezeit dahin zusehen / damit der Leser nicht allein einer Sachen berichtet / sondern auch unter solcher Erzehlung so wol bewogen / und in Verwunderung gesetzt / als auch erlustiget und ergetzet werden möge. Bey welchen allen denn / wie schon oben gesagt / viel Dichtens und Nachsinnens von nöthen seyn will.

Erst und fürnemlich aber werden sie unterschieden nach ihrer wesentlchen Form. Denn etliche [7] bestehen auf einer blossen Erzehlung des Poeten / und werden keine andere Personen redende eingeführet: darumb die Griechen diese Art Gedichte έπαγελτίϰὰ genennet. Andere beruhen hingegen durch und durch auf einer Handlung / die in gewissen Personen / so daselbst eingeführet werden / vorgestellet wird / der Poet aber für sich selbst nichts erzehlet / welcher Ursache halben sie auch δραματιϰὰ von obgemeldete Griechen genennet worden. Dann was wir Deutschen thun oder verrichten / die Lateiner aber agere, nennen / das hiessen die Dores bey den Griechen δρᾰν dannenshero dieser Nahme entsprungen und abgeleitet worden ist. Hieher gehören alle Comödien und Tra[8]gödien / welche wir Freud- und Trauerspiele nennen mögen / und was sonsten mehr in Form eines Gespräches abgefasset wird / derergleichen man in allen Sprachen viel findet. Endlich sind Gedichte / da beyde oberwehnte Arten untereinander vermischt / und dannenhero von mehrgedachten Griechen μιϰτὰ benahmet worden. Dergleichen des Homerus / Virgilius / Statius / Lucanus / und anderer Poeten Bücher mehr seyn / die man Epicos genennet. Denn theils erzehlet der Poet daselbst unter seiner Person den Verlauff der Sachen / von welche gehandelt wird / theils in gewisser Personen Nahmen / so daselbst eingeführet werden / und darbey zu thun gehabt.

[9] Zum andern werden die Gedichte auch unterschieden / nach Beschaffenheit der Materien und Sachen/ die daselbst abgehandelt werden / welche mancherley sind / als Theologisch/ Philosophisch und mehr dergleichen. Zum meisten aber behandelt der Poet weltliche Händel / die bey dieses und jenes Standes Personen vorgesehen. Die vornemsten Gedichte aus diesen sind die Heroischen / da grosser Herren und Potentaten Geschlechte / Leben und Verrichtungen beschrieben und gelobet werden. Denen folgt die Tragödie / welche heftig-schrecklich- und traurige Händel grosser Könige und Fürsten vorstellig macht. Welcher die Comödie / gleich wie entgegen gesetzt, als da [10] nichts anders / dann solche Sachen gehandelt werden / die bey dem gemeinen Volck täglich vorgehen. Aus dieser ist die Satyra entsprungen/ welche die Fehler und Laster der Menschen höflich durchziehet und mitten unter dem Lachen und Scherzen nützliche Anweisung zur Tugend thut. Es sind auch Hirten Lieder und Schäfereyen / Lob-gesänge / Geburth-Hochzeit- und Begräbniß-Gedichte / und andere mehr so wol auch kurze Überschriften / oder wie es die Griechen nennen επιγράμματα welcher Nahme endlich allen kurtzen und nur auf etlich wenig Versen bestehenden Gedichten gemein worden.

Der letzte Unterscheid der Ge[11]dichte wird von der Art des Verses genommen / welcher doch der geringste und schlechteste / darum er auch von dem Aristotele verworffen worden / weil sich desselben die Ungelehrten nur / und die von der Poeterey mehr nicht wissen / als etwa die Beschaffenheit des Verses / und maß derselben betrifft / sich zu gebrauchen pflegen. Und also könnten wir unsere deutsche Gedichte Jambisch / Trochäisch/ und mehr dergleichen / nennen. Und ob man zwar allen Gedichten in gemein den Nahmen eines Liedes oder Gesanges zu eignen können; So werden zu forderst doch und absonderlich dieselben also genennet / die Gesetzes weise und also förmlich gesetzet seyn / daß in einer gleichen [12] Stroph eine vollständige Meinung begriffen und ausgeführet sey. Dann solcher Gestalt können sie mit mehrer Bequemligkeit zur Music gebraucht und gesungen werden. Allermassen wie bey den Lateinern auch man zwar ein jedes Poema ein Carmen, quasi canimen, vom singen; absonderlich aber ein Lyrische Ode also nennet. Dannenhero Horatius auch seine in der Art gesetzte Bücher Carminum libros benahmet hat. Denn der Nahm Ode ist Griechisch / und bedeutet nichts anders als einen Gesang.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

August Buchners Anleitung Zur Deutschen Poeterey / Wie Er selbige kurtz vor seinem Ende selbsten übersehen/ an unterschiedenen Orten geändert und verbessert hat / herausgegeben von Othone Prätorio.
Wittenberg: Michael Wenden 1665, S. 5-12.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://books.google.fr/books?id=EZdHAQAAMAAJ
PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN771383614

 

 

Literatur

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Dyck, Joachim: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966 – 1986. 3. Aufl. Tübingen 1991 (= Rhetorik-Forschungen, 2).

Kallendorf, Craig / Robling, Franz-Hubert: Art. Ars poetica. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1048-1068.

Robert, Jörg: Poetologie. In: Handbuch Literarische Rhetorik. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Berlin u.a. 2015 (= Handbücher Rhetorik, 5), S. 303-332.

Rodriguez, Antonio (Hrsg.): Dictionnaire du lyrique. Poésie, arts, médias. Paris 2024.

Stockhorst, Stefanie: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008 (= Frühe Neuzeit, 128).

Till, Dietmar u.a.: Art. Poetik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp.  1304-1393.

Trappen, Stefan: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001 (= Beihefte zum Euphorion, 40).

Wesche, Jörg: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 (= Studien zur deutschen Literatur, 173).

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u.a. 2010.

 

 

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