Quellentexte zur Geschichte der Theorie der Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart werden in einem mehrsprachigen Korpus erfasst. Die Texte werden in der Regel nach ihrem Erstdruck bzw. nach ihren besten Überlieferungszeugen ediert (Editionsrichtlinien). Bis jetzt sind 1073 Texte aufgenommen, die die Zeit von der klassischen europäischen Antike bis zum Auftritt der Avantgarden betreffen. Dies entspricht einer Digitalisierung von 9213 Seiten aus Büchern, Zeitschriften und Zeitungen.
Das Quellenkorpus umfasst im Prinzip alle überlieferten Texte, in denen zusammenhängende Aussagen über die Gattung Lyrik vorgenommen werden. Diese Aussagen müssen nicht den Begriffsnamen 'Lyrik' verwenden, sondern können auch andere (wie z.B. den deutschen Ausdruck "Gedicht") und anderssprachige Bezeichnungen heranziehen - etwa im Fall von anders als deutschsprachigen Quellentexten solche Namen wie lyric, poetry, poésie, lyrique, lirica etc. Die Quellentexte müssen jedoch implizit oder explizit ein Konzept von 'Lyrik' erkennen lassen. Die in den Quellentexten angelegten Konzepte von 'Lyrik' zeigen sich z.B. an Gattungsdefinitionen, an Positionierungen der Gattung in einem Gattungssystem oder in einem literarischen Feld, an Funktionszuschreibungen, an produktions-, material- oder rezeptionsästhetischen Zuschreibungen oder auch an evaluativen Einschätzungen u.a.m. Das Quellenkorpus umfasst nicht allein literaturwissenschaftliche Texte zur Theorie der Lyrik. Zu den Quellen für eine Geschichte der Theorie der Lyrik gehören vielmehr auch literaturkritische Texte, philosophische Texte, deskriptive oder präskriptive Poetiken, poesiologisch bestimmende Grammatiken und Ästhetiken, essayistische Reflexionen, briefliche Mitteilungen und nicht zuletzt metalyrische Sprachzeichengebilde, Lyrik über Lyrik also.
Die Quellenerfassung setzt pragmatisch bei solchen Texten an, die bereits (1.) in Anthologien zur Lyriktheorie aufgenommen wurden oder die (2.) in der einschlägigen Forschung als lyriktheoretische Texte angesprochen und als solche zitiert und ausgewertet werden.
Dieser pragmatische Zugriff entbindet allerdings nicht von der Aufgabe, sich über die Auswahl Rechenschaft abzulegen und darüber hinaus die Aufmerksamkeiten anzugeben, die die Recherchen steuern und die gegebenenfalls Entdeckungen und Revisionen zur Folge haben können. Die erste Aufgabe führt in die Historiographie des Gegenstandes, die zweite in die Befragung und Einschätzung der relevanten Diskurse und Publikationstypen.
Aussagen über Lyrik, in denen der für die abendländisch-nordatlantische Lyriktheorie leitende Begriffsname 'Lyrik' in etymologisch mit dem deutschen Wort zusammenhängender Weise aufscheint (etwa in der griechischen Formulierung "lyrikós poiesis" oder in dem lateinischen Ausdruck "lyricum carmen"), werden bereits in Texten aus der klassischen europäischen Antike überliefert (vgl. Asmuth 2001). In anderen, teilweise älteren Lyrikkulturen (wie etwa der präantik-mesopotamischen), ist der Bezug auf andere Musikinstrumente als auf die Lyra theorieleitend (etwa der Bezug auf die 'Pauke' in der mesopotamischen Gattungsbezeichnung "Paukenlied"), auch kann der Bezug auf rhythmische Körperbewegungen theorieleitend sein (wie in dem altchinesischen Ausdruck "shi", was soviel wie 'Worte mit Gehen/Tanzen' bedeutet). Einen neuzeitlichen Diskurs in den europäischen Vernakularsprachen, der die Lyrik als literarische Gattung neben Epik und Dramatik aufstellt und theoretisch bearbeitet, gibt es ungefähr seit der Mitte des 18. Jh.s. Nach Vorspielen in der italienischen Renaissance (Huss u.a. 2012), die keine kontinuierliche Tradition begründet haben, war allem Anschein nach Batteux der Erste, der in seiner Schrift "Les beaux arts réduits à un même principe" (1746) eine systematische Theorie der literarischen Gattung konstruierte. Im Anschluss an seine Definition der "poésie lyrique" setzt zunächst ein europäischer, ungefähr seit dem 19. Jh. aber auch weltweit geführter, wissenschaftlicher wie nebenwissenschaftlicher Diskurs ein, der kontinuierlich die scheinbar einfache Frage stellt: Was ist Lyrik? Für die Quellenerfassung haben daher grundsätzlich alle Texte besondere Priorität, die diese Frage stellen und zu beantworten versuchen.
Die Frage nach der Lyrik als Gattung tritt in vielen Formen auf, von denen zwei in besonderem Maße die Triftigkeit und Attraktivität des lyriktheoretischen Diskurses begründet haben und in insofern auch die Auswahl anleiten können.
Die erste Variante tritt, und zwar besonders in den Bereichen 'Poetik' und 'Ästhetik', als 'Systemfrage' auf: Was ist Lyrik, wenn sie als Teil des Ganzen aller Gattungen begriffen wird? Mit dieser Frage wird die Lyrik Teil der Lehre von den literarischen Gattungen, und in diesem Zusammenhang partizipiert die Lyrik, deren Auftritt und Behauptung als Gattung nicht selbstverständlich war, auch an der Geltung der anderen großen, seit der Antike etablierten Gattungen und ihrer Theorien (Drama und Epos).
Die zweite Variante ist eine 'Wesensfrage': Was begründet die Einheit dieses Teilgebiets der Literatur? Die Theorie der Lyrik steht damit unter der sie nicht weniger auszeichnenden Anforderung, insbesondere die Fülle der seit der Antike existierenden sog. "kleinen Formen", die je für sich auch theoretisch schon gewürdigt worden waren, als Unterarten einer Gattung zu begreifen. Die Aufgabe einer starken Synthese steht also von Beginn an auf der Tagesordnung, und sie bleibt dort auch, wenn die Wesensfrage sich von der Systemfrage unabhängig zu machen beginnt.
Dies geschieht besonders häufig in theoretisch weniger stringenten Formen, die, was ihr Anschauungsmaterial betrifft, von historisch begrenzten Voraussetzungen ausgehen. Das Gebiet der Lyrik soll dann allein aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus als intelligible Einheit verstanden werden. Entsprechende Ansätze gibt es neben der hier besonders wichtigen Autorenpoetik (Essays, Vorworte zu Lyrikeditionen, poetologische Gedichte, Briefe), vor allem in der Literaturkritik mit ihren ad hoc-Definitionen der Lyrik. Die starke Präsenz dieser beiden Formen in unserem Korpus folgt auch der Einsicht, dass hier, und zwar ganz besonders ab etwa 1850, Texte vorliegen, deren Theoreme die literaturwissenschaftliche, systematische Lyriktheorie inspiriert haben.
Einen kontinuierlichen systematischen theoretischen Diskurs der lyrischen Gattung gibt es erst seit etwa 1750; dieses Faktum bildet das historische Apriori des Korpus. Aber ein strikter terminus post quem folgt daraus für die Korpusbildung nicht. Offenheit gegenüber Zeugnissen aus der Zeit vor 1750 ist aus wenigstens einem Grunde geboten: Es gibt schließlich vor 1750 das, was wir heute ohne weiteres als Lyrik ansprechen, und es gibt eine koexistente theoretische Diskussion der sog. "kleinen Formen", und hier ganz besonders ein intensives Gespräch über die Ode. Sie ist, im Anschluss an Pindar und Horaz, die Königsdisziplin der kleinen Formen; ihre Präsenz und ihre theoretische Bearbeitung war der Ausgangspunkt der ab etwa 1750 auftretenden großen Synthesen (Krummacher 2013).
Das in dem Projekt teils bereits erschlossene, teils aber auch noch zu erfassende Quellenkorpus ist grundlegend mehrsprachig und grundlegend multiskriptural, also in unterschiedlichen Schriftsystemen angelegt. Schon diese sprachliche und die mediale Beschaffenheit des Quellenkorpus machen das Projekt daher notwendig zu einem komparatistischen Unternehmen; die spätestens seit dem 19. Jh. auch einen europäischen Kontext überschreitende Globalisierung des Diskurses der Theorie der Lyrik begründet überdies die Bestimmung des Projektes als fundamental komparatistisch. Das bislang erarbeitete Quellenkorpus umfasst wenige Texte in klassischem Griechisch (und hier lediglich als semiotisch transponierte Übersetzungen) und klassischem Latein sowie hauptsächlich Texte in französischer, englischer und vor allem deutscher Sprache. In nächsten Arbeitsschritten wäre das Quellenkorpus (1) nicht nur im Hinblick auf die bereits vertretenen Sprach- und 'Theorieräume' durch 'Originaltexte' zu ergänzen und weiter zu erschließen, sondern auch (2) durch Quellentexte aus weiteren Kulturräumen auszubauen (etwa dem der älteren und jüngeren iberomanischen Sprachen, dem der galloromanischen Sprachen neben dem Französischen, dem der 'nordischen' Sprachen, dem der germanischen Sprachen, dem der keltischen Sprachen, dem der slavischen Sprachen, den Kulturräumen der asiatischen Sprachen, denen der arabischen, persischen und Turksprachen und schon denen der mittellateinischen und neulateinischen Varietäten oder auch dem des Neugriechischen u.a.m.). Eine solche Ausarbeitung des Quellenkorpus ist auch ein Beitrag zur komparatistischen, historischen wie systematischen Gattungsforschung, der vorherrschende literaturwissenschaftliche Konzepte von 'Gattung' präzisieren oder revidieren könnte.
Die historische, die kulturelle und die generische Heterogenität des Quellenkorpus, in dem wissenschaftliche wie nichtwissenschaftliche Texte herangezogen werden, expositorische ebenso wie poetische und literaturkritische, fordert ebenso eine Präzisierung des vorausgesetzten Begriffes von 'Literatur', wenn damit mehr als lediglich alles Schrifttum bezeichnet werden soll. Für das Konzept 'Literatur' ebenso wie für die Konzepte 'Gattung' und nicht zuletzt 'Lyrik' müssen andererseits komparatistische, metatheoretische Begriffe vorausgesetzt werden, sollen sich nicht 'abendländisch-westliche' oder gar fachspezifische (z.B. germanistische) Konzepte als vorurteilsartige Erkenntnisblockaden auswirken. Für das Projekt genügt es allerdings, sehr allgemeine Begriffe von 'Literatur', 'Gattung' und 'Lyrik' gewissermaßen als orientierende Leitvorstellungen vorauszusetzen.
Der Begriffsname 'Literatur' bezeichnet demnach alles (durch Stilisierung, Fiktionalisierung, Symbolisierung oder Exemplarizität) 'besonders gemachte' oder (in Handlungszusammenhängen) als 'besonders behandelte' Schrifttum. Unter einer literarischen 'Gattung' verstehen wir eine sozial und historisch etablierte Norm der Kommunikation (wie sie in Diskursen über die Gattung, in Poetiken, Ästhetiken, Grammatiken, in Literaturkritik und Literaturunterricht zu beobachten ist). Zur 'Gattung Lyrik' schließlich sollen solche Sprachzeichengebilde (als Wahrnehmungseinheiten oder 'Gestalten') gerechnet werden, die mit ihren globalen, die Wahrnehmungseinheit als ganze betreffenden 'Auffälligkeiten' darauf aufmerksam machen, 'was Sprache alles kann'.
'Sprachzeichengebilde' können in unterschiedlichen Modalitäten der Sprache vorliegen, z.B. gesprochen
oder gesungen (phonisch manifeste Sprachzeichengebilde), oder aber in Gebärdensprache
(gebärdet manifeste Sprachzeichengebilde), oder auch geschrieben (graphisch manifeste
Sprachzeichengebilde). Weitere Modalitäten der Sprache sind denkbar, werden hier aber einstweilen
nicht weiter berücksichtigt. Zur Gattung 'Lyrik' wären phonisch oder graphisch manifeste oder
gebärdete Sprachzeichengebilde dann zu zählen, wenn ihre 'Auffälligkeiten' (Attraktoren wie metrische
oder stilistische Gestaltung und Rhythmus, aber im Falle von schriftlich manifester Lyrik auch die
Gestaltung der Schriftbildfläche, die Platzierung der Verszeilen oder auch die Kollokation von
einzelnen Schriftzeichen) übergreifend, d.h. das Sprachzeichengebilde dominierend oder insgesamt
charakterisierend,
(1) anzeigen, 'was Sprache alles kann', genauer: über welches fakturielle und informationelle
Potential das kognitive System 'Sprache' an und für sich verfügt, und wenn
(2) die Auffälligkeiten des Sprachzeichengebildes dies eben nur anzeigen oder aufweisen:
Sie formulieren dies nicht ausdrücklich, sondern sie schaffen (nichtpropositionale) ästhetische
Evidenz dafür in der Wahrnehmung der Wahrnehmungseinheit.
Von der übergreifenden, ein Sprachzeichengebilde global charakterisierenden 'Anzeige' ist die nichtdominierende oder partielle 'Anzeige' zu unterscheiden, die nur Lyrisches von der Lyrik trennt, wie etwa die lyrische Epik von der Lyrik, die lyrische Theaterliteratur von der Lyrik oder auch den lyrischen Essay von der Lyrik. In allen exemplarisch genannten Fällen - Epik, Dramatik, Essayistik - sind andere als lyrische Verfahren der Gestaltung von Sprachzeichengebilden dominierend oder charakterisierend (etwa die Storyvermittlung in Epik und Drama, die Gedankenvermittlung im Essay), es können in diesen Sprachzeichengebilden jedoch subdominante lyrische 'Anzeigen' vorkommen und damit Epik, Theaterliteratur oder auch Essayistik gewissermaßen lyrisch färben.
Theorien des Lyrischen laufen mit der Theorie der Lyrik häufig explizit oder implizit mit und sollen daher auch durch unser Quellenkorpus erfasst werden.
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Norbert Oellers (Bonn) danken wir für Hinweise und Beratung.
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