Rudolf Borchardt

 

 

Neue Poesie und alte Menschheit

Rede gehalten in Heidelberg 15.1.1912

 

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Borchardt
Literatur: Freie Bühne für modernes Leben (1890 -)   –   Die neue Rundschau (1904 -)

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Die aesthetische Bewegung in Deutschland, die sich als unfähig erwiesen hat, die Nation zu vertreten, und gewissermaßen überall ihre Zahlungen einstellt, ist das Geschöpf und das Kennzeichen meiner Generation gewesen und ein Teil meines inneren Lebens selber, sodaß ich den Anspruch erheben darf als Zeuge für sie aufzutreten. Nichts kann Ihnen eine Vorstellung von dem Rausche der Begeisterung geben mit der wir ihr Auftreten unter uns selber begrüßten. Die Fabeln wurden wahr; die Schwere der Welt war aufgehoben, unter uns, aus unserer eigenen Mitte entstanden Jünglinge die mit Zungen redeten, entwickelte sich ein Stil der wie eine zugreifende Faust alles Flüchtige, alles Widerstrebende und Empörte der Welt ergriff und bändigte, constituierte sich eine neue Gesinnung, der wir die Kraft zutrauten alle Um[159]gebung sich gleichzuzwingen und das Erbe der abgetretenen deutschen Art zu übernehmen. Die Vergangenheit entzündete sich uns an der Gegenwart und wie ein neuer Firnis aus einem gedunkelten Gemälde das Leben der Lichter herausholt, so entzündete sich uns die Antike, so glühte Goethe uns dunkel auf. Ein Zauberschlüssel schien uns in die Hände gegeben zu sein, dem keine noch so drohende Tür widerstehen durfte, pedantisch erschienen uns die Scheidungen und die Verbote, die uns von der grauen Weisheit vergangener Jahrhunderte überliefert die Bereiche der Literatur und die Grenzen der Bereiche stabilierten. Was schien nicht möglich? Welcher neue Schritt galt uns nicht für eine voll zurückgelegte Reise? So schön, so selig, so geheimnisvoll waren die zwei oder drei lyrischen Individuen, die ihre Eigenheit vor uns aussangen, die ihren Sonderfall vor uns statuierten, daß wir kaum nach einer Beziehung dieser Sonderfälle auf das Allgemeine Menschenwesen fragten, daß wir höchstens stutzten und lachten, wenn wir das Publikum, diesen Vertreter des Volkes und der Menschheit, vor uns sich gegen diesen Sonderfall zur Wehre setzen, ihn abweisen und ignorieren sahen. Ohnmächtig deuchte uns der Widerstand gegen diese musische Herrlichkeit, die sich gebieterisch octroyieren mußte, früher oder später, die wir zu octroyieren versuchten, soweit unsere Kräfte uns trugen, soweit unser Enthusiasmus Schwingen hatte uns zu tragen. Es waren nur Gedichte, nur lyrische Gedichte? Aber das Gedicht war die Urzelle des neuen Kunstorganismus und würde sich zum Leibe aufbauen, Zelle auf Zelle, zu einem Roman wie die Welt ihn noch nicht gesehen, zu einem Drama wie es noch nie ein Parterre erschüttert hatte. Schon drang die neue Prosa, ehern hier, goldgespinstig da, dem süßen neuen Stile des Verses auf der Verse nach, und auch aus ihr hauchte die neue Magie eines Tones von Seeleneinsamkeit und Seelenzauber, die uns auf die Kniee warf. Was blieb im Grunde noch zu tun? Ein Schritt, aber der letzte, und il n'y a que le dernier pas qui <coûte>. Was stand nur aus um uns dem Gipfel zuzubringen? Ein Flügelschlag und hinter uns Aeonen.

In einem Kreise wie diesem, der sich nach dem Drama nennt, und Studium und Pflege des Dramatischen zu seinen Hauptgeschäften rechnet, bin ich des Verständnisses von vornherein sicher, wenn ich nun anzudeuten beginne, welcher Fehler in der schwärmerischen Rechnung steckte und bis heute geblieben ist – bis heut wo die falschen Resultate ihn aufzeigen. Der Sturm der großen Jünglinge, die vor fünfzehn Jahren sich der Führung der deutschen Poesie bemächtigten, brach sich am Theater. Er hätte sich genau [160] so am Romane gebrochen, fast genau so an der Novelle, ganz so am gesunden Liede, wenn gesungene Lieder heut auf Ihren und unseren Lippen schwebten, sobald sie eine dieser Gattungen versucht hätten. Sie strebten aber zum Drama, mit dem dunklen Gefühle, das den Menschen auf den Punkt seiner Lebensprobe hintreibt. Und solange sie darauf beharrten sie selber zu sein, hat das Theater ihnen widerstanden – wir dürfen sagen, gottlob, daß es ihnen widerstanden hat. Was alles von alter vornehmer Institution des deutschen geistigen Wesens vor ihnen die Segel gestrichen hat, das Theater steht fast unerobert. Wir müssen zusehen, warum.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Die neue Rundschau.
Jg. 65, 1954, Heft 1, S. 153-166.

Unser Auszug: S. 158-160.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Die neue Rundschau   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_neue_Rundschau
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007392290

 

 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Literatur: Borchardt

Apel, Friedmar: Konkurrenz im Traumland. Algernon Charles Swinburne bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Bochardt. In: George-Jahrbuch 11 (2016/17), S. 13-26.

Bann, Stephen (Hrsg.): The Reception of Walter Pater in Europe. London 2004.

Beun, Cyril de: Schriftstellerreden 1880–1938. Intellektuelle, Interdiskurse, Institutionen, Medien. Berlin u. Boston 2021.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Burdorf, Dieter u.a. (Hrsg.): Rudolf Borchardt und die Klassik. Berlin 2016.

Burdorf, Dieter (Hrsg.): Rudolf Borchardts europäische Briefnetzwerke. Berlin u. München 2021.

Jauß, Hans R.: Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaires 'Zone' und 'Lundi Rue Christine'. In: Ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a.M. 1989 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 864), S. 216-256.

Knödler, Stefan: Rudolf Borchardts Anthologien. Berlin u.a. 2010.

Neumann, Markus: "Aus der Schule in die Freiheit". Zu Borchardts Lyrik nach dem Ästhetizismus. In: George-Jahrbuch 9 (2012/13), S. 159-177.

Schaefer, Barbara (Hrsg.): 1912 – Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes. Köln 2012.

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

Stöckmann, Ingo: Rückübertragung der Form. Rudolf Borchardts Pindar. In: Poetica 54.1-2 (2023), S. 154-206.

 

 

Literatur: Freie Bühne für modernes Leben (1890 -)   –   Die neue Rundschau (1904 -)

Bölsche, Wilhelm: Briefwechsel. Mit Autoren der Freien Bühne. Hrsg. von Gerd-Hermann Susen. Berlin: Weidler 2010 (= Wilhelm Bölsche: Werke und Briefe. Briefe, 1).

Dimpfl, Monika: Die Zeitschriften "Der Kunstwart", "Freie Bühne / Neue deutsche Rundschau" und "Blätter für die Kunst": Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe "Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770 – 1900" von Monika Dimpfl und Georg Jäger. Teil II. Tübingen 1990 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 28), S. 116-197.

Goeller, Margot: Hüter der Kultur. Bildungsbürgerlichkeit in den Kulturzeitschriften "Deutsche Rundschau" und "Neue Rundschau" (1890 - 1914). Frankfurt a.M. 2010 (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 3, 1082).

Grothe, Wolfgang: Die Neue Rundschau des Verlages S. Fischer. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1961/63), Sp. 809–995.

Grunewald, Michel: Gegen "nationale Voreingenommenheit" und "patriotische Hysterie". Europäisches Denken in der Freien Bühne / Neuen Rundschau (1890-1914). In: Le discours européen dans les revues allemandes (1871 - 1914) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1871 - 1914). Hrsg. von Michel Grunewald. Bern u.a. 1996, S. 39-57.

Kuhbandner, Birgit: Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008.

Kulhoff, Birgit: Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871 - 1914). Bochum 1990 (= Bochumer historische Studien; Neuere Geschichte, 9).
Kap. 4.5: Die "Freie Bühne"
Kap. 5.1: Die "Neue Rundschau"
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Schneider, Lothar L.: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne. Tübingen 2005 (= Studien zur deutschen Literatur, 178).
Kap. 4.6: Die 'Freie Bühne': Kritik und die Avantgarde des Publikums.

Stead, Évanghélia / Védrine, Hélène (Hrsg.): L'Europe des revues II (1860-1930). Réseaux et circulations des modèles. Paris 2018.

Stein, Dieter: Die neue Rundschau (1890 – 1944). In: Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1973 (= Publizistik-historische Beiträge, 3), S. 229-239.

Susen, Gerd-Hermann: "Das Alte kracht in allen Fugen!" Hermann Bahr und die "Freie Bühne für modernes Leben". In: Hermann. Bahr – Österreichischer Kritiker internationaler Avantgarden. Hrsg. von Martin A. Müller u. a. Bern u.a. 2014, S. 39–54.

Susen, Gerd-Hermann: Die Freie Bühne der Jahre 1890 bis 1893. Der Redakteur Wilhelm Bölsche. In: Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann und die vergessene Moderne. Hrsg. von Wolfgang de Bruyn u.a. Berlin 2020, S. 283-295.

Syndram, Karl U.: Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches (1871-1914). Berlin 1989.
S. 98-126: Die kontinuierliche Publikation der Moderne. Die 'Neue Rundschau' ('Freie Bühne') und der Verlag S. Fischer..

 

 

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