Rainer Maria Rilke

 

 

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Brief an Jakob von Uexküll

 

Paris, 77, rue de Varenne, am 19. August 1909

            Lieber Freund,

je später es wird, je mehr geht es mir nach, daß Sie mir vor langer Zeit geschrieben haben; es war am ersten Tag dieses Jahres, und Sie haben Ihren Brief mit lieben Wünschen beschlossen, für die ich Ihnen ein Gleiches oft in Gedanken wiedergegeben habe.

Wenn ich nicht schrieb (wie ich hätte hundertmal seither sollen und auch mögen), so liegt das an einem Nacheinander und Nebeneinander verschiedener hindernder Umstände. Fast zugleich mit dem Jahr begann für mich eine Zeit der Erschöpfung, der Kränklichkeit, schließlich des Krankseins, das, obwohl ich [73] nicht aufhörte umherzugehen, zu lesen und regelmäßige Stunden am Schreibtisch zu verbringen, doch, wie ich immer mehr merke, ein wirkliches gewesen sein muß: denn noch jetzt sind meine besten Augenblicke die eines Rekonvaleszenten, und ich habe sehr viele weniger gute und eine Menge schlechte. Aber nicht davon. Das führ ich nur zur Erklärung an; denn so, wie Ihr Brief war, könnten Sie doch in der langen Pause sich in der Annahme befestigt haben, daß er mir irgendwie empfindlich war. Er war mir lieb, wie jeder Ihrer Briefe. Indessen gebe ich zu, daß er nicht leicht zu beantworten war. Im persönlichen Gespräch, das ja auch Sie, wie ich darin las, gerne vorgezogen hätten, würde ein Blick, ein gleichzeitiges Stillsein, uns eher verständigt haben. Auf die schriftliche Beschränkung angewiesen, bleibt mir eigentlich nur, Sie zu bitten, mich weiterhin für denjenigen zu halten, von dem die Bücher ausgegangen sind, die Ihnen im Recht zu sein scheinen. Jene Bücher (das Stunden-Buch zumal) nahmen ebensowenig auf einen Leser Rücksicht und Bezug, wie was ich seither habe ausgehen lassen; so daß mich die Stelle Ihres Briefes, da Sie eine Kunst von mir erwarten, die von Lesern weiß, überrascht hat. Es ist möglich, daß wir uns hier weit voneinander entfernen. Aber der Punkt gehört nicht zu den wesentlichen. Wesentlicher scheint es mir, daß ich Ihnen, was jene neueren Bücher angeht, mein gutes, klares Gewissen zusichern kann: jedes Wort, jeder Wortzwischenraum in jenen Gedichten ist mit [74] äußerster Notwendigkeit entstanden, unter dem Bewußtsein jener endgültigen Verantwortlichkeit, unter deren innerem Gericht meine Arbeit sich vollzieht. Vielleicht sind Mängel meiner Natur oder nachzutragende Versäumnisse meiner Entwicklung die Ursache jener harten Sachlichkeit und Ungefühlsmäßigkeit des Dargestellten: vielleicht sind gefälligere Wege denkbar: ich muß auf meinem, schweren, weiter.

Glauben Sie nicht, lieber Freund, daß schon das Stunden-Buch ganz erfüllt war von der Entschlossenheit, in der ich (einseitig, wenn Sie wollen) zugenommen habe?: Die Kunst nicht für eine Auswahl aus der Welt zu halten, sondern für deren restlose Verwandlung ins Herrliche hinein. Die Bewunderung, mit der sie sich auf die Dinge (alle, ohne Ausnahme) stürzt, muß so ungestüm, so stark, so strahlend sein, daß dem Gegenstand die Zeit fehlt, sich auf seine Häßlichkeit oder Verworfenheit zu besinnen. Es kann im Schrecklichen nichts so Absagendes und Verneinendes geben, daß nicht die multiple Aktion künstlerischer Bewältigung es mit einem großen, positiven Überschuß zurückließe, als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes: als einen Engel. An diese Verwandlung haben Sie beim "Stunden-Buch" geglaubt, Sie haben sie eingesehen; in den letzten Büchern aber, darin Der nicht genannt ist, um dessentwillen sie geschieht, möchten Sie dazu hinneigen, für ein Spiel zu halten, was immer dieselbe große Not ist; und was darum recht haben muß, nicht für die Zuschauer, [75] aber für den, der leidet und sich sehnt, zu überstehen. Dies ist, was ich etwa sagen würde, lieber Freund, zu meiner Rechtfertigung, nebenbei. Denn vor allem würde ich nach Ihnen und den Ihren fragen und lange zuhören, wenn ich endlich die Freude hätte, Sie wiederzusehen.

                        Ihr herzlich getreuer                        
Rilke                

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914.
Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber.
Leipzig: Insel-Verlag 1933, S. 72-75. [PDF]

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnisse

Ritzer, Walter: Rainer Maria Rilke. Bibliographie.
Wien: Kerry 1951.

Obermüller, Paul (Bearb.): Katalog der Rilke-Sammlung Richard von Mises.
Frankfurt a.M.: Insel-Verlag 1966.

Katalog der Rilke-Sammlung Cornelius Ouwehand.
URL: https://ead.nb.admin.ch/pdf/ouwehand.pdf



Rilke, René Maria: Leben und Lieder. Bilder und Tagebuchblätter.
Strassburg i.E. und Leipzig: Kattentidt Jung Deutschlands Verlag o.J. [1894].
URL: http://www.galaxie-des-wissens.de/deutsch/tour_18/index.html   [Titelblatt]

Rilke, René Maria: Larenopfer.
Prag: Dominicus 1896.
URL: http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb00051933-9

Rilke, René Maria: Wegwarten I-III.
3 Bde. Prag: Selbstverlag des Verfassers o.J. [1895/96].
Bd. 3: René Maria Rilke und Bodo Wildberg.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12108

Rilke, René Maria: Traumgekrönt. Neue Gedichte.
Leipzig: Friesenhahn 1897.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_RnsyAQAAMAAJ
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/011815581

Rilke, Rainer Maria: Advent.
Leipzig: Friesenhahn 1898.
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/rilke_advent_1898
URL: http://data.onb.ac.at/dtl/323200

Rilke, Rainer Maria: Mir zur Feier.
Berlin: Meyer 1899.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12105

Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin.
Berlin: Bard o.J. [1902] (Die Kunst. Sammlung illustrierter Monographien, 10).
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001467616

Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder.
Berlin: Juncker o.J. [1902].

Rilke, Rainer Maria: Worpswede.
Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende, Heinrich Vogeler.
Bielefeld u. Leipzig: Velhagen & Klasing 1903 (Künstler-Monographien, 64).
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:wim2-g-604824
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-164213
URL: https://archive.org/details/worpswedefritzma00rilk
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100345460

Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch enthaltend die drei Bücher:
Vom mönchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armuth und vom Tode.
Leipzig: Insel-Verlag 1905.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00051882-8

Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder.
Zweite sehr vermehrte Ausgabe. Berlin, Leipzig, Stuttgart: Juncker o.J. [1906].
URL: https://archive.org/details/DasBuchDerBilder2
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12093
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847545

Rilke, Rainer Maria: Neue Gedichte.
Leipzig: Insel-Verlag 1907.
URL: https://archive.org/details/neuegedichte00rilkgoog

Rilke, Rainer Maria: Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Leipzig: Insel-Verlag 1908.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12096   [1918]

Rilke, Rainer Maria: Die frühen Gedichte.
[Des Buches "Mir zur Feier" zweite Auflage].
Leipzig: Insel-Verlag 1909.
URL: https://archive.org/details/3542796
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/102828553

Rilke, Rainer Maria: Requiem.
Leipzig: Insel-Verlag 1909.
URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC06504523

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.
Erstes Bändchen. Leipzig: Insel-Verlag 1910.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087913-3
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847514

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.
Zweites Bändchen. Leipzig: Insel-Verlag 1910.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087914-8
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006847514

Rilke, Rainer Maria: Das Marien-Leben.
Leipzig: Insel-Verlag o.J. [1912] (Insel-Bücherei, 43).
URL: https://archive.org/details/3545127
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008715081

Rilke, Rainer Maria: Erste Gedichte.
Leipzig: Insel-Verlag 1913.
URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/!image/62943/1/LOG_0000/
URL: http://data.onb.ac.at/rec/AC06452995

Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien.
Leipzig: Insel-Verlag 1923.
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12099
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001464457

Rilke, Rainer Maria: Die Sonette an Orpheus.
Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop.
Leipzig: Insel-Verlag 1923.
URL: https://katalogplus.ub.uni-bielefeld.de/title/2033157/
PURL: http://www.literature.at/alo?objid=12098
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/001905237

 

 

 

Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

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Hoffmann, Camill: Rainer Maria Rilke. In: Die Zukunft. Bd. 67, 1909, 19. Juni, S. 434-436. [PDF]

Honold, Alexander / Wirtz, Irmgard M. (Hrsg.): Rilkes Korrespondenzen. Göttingen 2019 (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 6).

Koch, Manfred: Poetik um 1900: George, Hofmannsthal, Rilke. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 201-223.

Kramer, Andreas: Rilke and modernism. In: The Cambridge Companion to Rilke. Hrsg. von Karen Leeder u.a. Cambridge 2010, S. 113-130.

Matthews-Schlinzig, Marie I. u.a. (Hrsg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. 2 Bde. Berlin u. Boston 2020.

Mildenberger, Florian G.: Umwelt als Vision. Leben und Werk Jakob von Uexkülls (1864 – 1944). Stuttgart 2007.

Painter, Kirsten B.: Flint on a Bright Stone. A Revolution of Precision and Restraint in American, Russian, and German Modernism. Stanford, Calif. 2006.

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

Stevens, Adrian: "Das maltesche Paris in seiner ganzen Vollzähligkeit". Rilke, Cézanne und Baudelaire. In: Etudes germaniques 53 (1998), S. 365-396.

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URL: https://archive.org/details/das-literarische-echo-11.1908-1909
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380

 

 

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