Hermann Ubell

 

 

Stefan George.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Ubell
Literatur: Das literarische Echo

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Und wie das Auge sich an den Arabesken und Farben des Gewebes weidet, bevor ihm "die Figuren der Tapete fangen plötzlich an zu leben" (Heine), so spricht der ungemeine dekorative Reiz georgischer Verse auch schon zu dem, dem sich ihre innerste Blüte noch nicht erschlossen hat. In Georges Diktion erscheint der formale Wert der Worte unserer Sprache zur höchsten möglichen Wirkung gebracht; schon die Art, wie er die [1203] Worte wählt und stellt, zeigt ihn als einen so bewußten Meister seines Instrumentes, wie sie in unserer Dichtung seit den Zeiten der Minnesinger und höfischen Epiker sehr selten gewesen sind. Sein Gefühl für den malenden und musikalischen Wert eines Wortes, für die Schlankheit einer neuen Wendung, für das Ornamentale einer Zusammenstellung ist abnorm stark entwickelt; unter seinen Strophen giebt es Wortmosaiks, die es getrost mit horazischen Odenstrophen, den höchsten Hervorbringungen dieser Art aufnehmen können.

Es ist kein Zweifel, daß George diese Kunst bei romanischen Lehrern gelernt hat, nicht anders als Conrad Ferdinand Meyer und Nietzsche, die sich auch darauf verstanden haben. Und ebensowenig zweifelhaft ist es mir, daß diese wie für die Ewigkeit gehämmerten Strophen, in denen unsere Sprache ihre kostbarsten Juwelen wie in goldenen Schreinen geborgen hat, alles bedruckte Papier, das sich die deutsche Litteratur der Gegenwart nennt, überleben wird.

Heute sieht es freilich noch nicht danach aus, denn die wenigsten können begreifen, daß dem Dichter reine Materialwirkungen ebenso möglich sind als etwa dem Maler. Von den Dachauern hat unser Publikum gelernt, im Bilde die Verteilung der warmen und kalten Töne, die Bewegung der Linie und die Vornehmheit der farbigen Stimmung zu genießen wie Musik und nur auf diese Musik hinzuhorchen und garnicht danach zu fragen, ob sie von der Darstellung ein paar alter Weiden oder eines lehmigen Amperufers ausgehe; und seit Böcklin weiß es, daß ein Bild mehr Poesie enthalten könne, als hundert deutsche Dichter zusammengenommen und doch daneben und vor allem etwas Prächtiges, Buntes, teppichartig Schmückendes sein müsse; aber von den parallelen Einsichten in das Wesen der Wortkunst ist es noch weit entfernt. Ja, es vermag nicht einmal zu unterscheiden zwischen jenen Schreibenden, bei denen die Wirkung ausschließlich auf den Bedeutungswert der Worte gestellt ist und einem Wortkünstler wie George, der die magische Korrespondenz, die zwischen der Bedeutung und der sinnlichen Erscheinung des Wortes besteht, mit allen Mitteln aufs höchste getrieben hat.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Das litterarische Echo.
Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde.
Jg. 6, 1903/04, Heft 17, 1. Juni 1904, Sp. 1201-1204.

Unser Auszug: Sp. 1202-1203.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Das literarische Echo   online
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Zeitschriften_(Literatur)#529664-x
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100178380

Das literarische Echo   Inhaltsverzeichnisse
URL: https://www.uibk.ac.at/iza/forschung/das-literarische-echo.html

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

Projekt

 

 

 

Literatur: Ubell

Aurnhammer, Achim u.a. (Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2. Berlin u.a. 2012.
Vgl. S. 984.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010.

Durkin, Rachael (Hrsg.): The Routledge Companion to Music and Modern Literature. London u. New York 2022.

Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015.

Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (= rowohlts enzyklopädie, 550).

 

 

Literatur: Das literarische Echo

Forschungsbibliographie
URL: https://www.uibk.ac.at/iza/forschung/pdf/bibliographie-le.pdf


Delabar, Walter: Holländische und Belgische Briefe. Zur Berichterstattung über die niederländische und flämische Literatur in der Zeitschrift "Das literarische Echo" / "Die Literatur". Eine erste Exkursion, veranlasst durch Albert Vigoleis Thelen. In: Annäherungen. Wahrnehmung der Nachbarschaft in der deutsch-niederländischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Wilhelm Amann u.a. Münster 2004. (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, Bd. 10), S. 121–131.

Häntzschel, Günter: Literatur und Krieg. Aspekte der Diskussion aus der Zeitschrift "Das literarische Echo". In: Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Wolfang J. Mommsen. München 1996. (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 34), S. 209–220.

Kopka, Ute: Europa und Frankreich aus der Sicht der Zeitschrift "Das literarische Echo" (1898–1914). In: Le discours européen dans les revues allemandes (1871–1914). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1871–1914). Hrsg. von Michel Grunewald u.a. Bern 1996, S. 109–124.

Pilz, Michael: Bibliographische Resonanzen. Presseschauen und Register am Beispiel der Zeitschrift "Das literarische Echo". In: Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Gunhild Berg u.a. Heidelberg 2016 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 343), S. 241–266.

RED: Ernst Friedrich Heilborn. In: Internationales Germanisten-Lexikon 1800–1950. Hrsg. von Christoph König. Bd. 1. Berlin 2003, S. 694–696.

Redlich, Julianna: Der vergessene Meinungsstifter. Carl Busse (1872-1918). Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizist. Leipzig 2021.
Kap. 3.7. Engagierter Berater und Fachmann im Bereich der Publizistik. Busses Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Zeitschrift Das Litterarische Echo.

 

 

Edition
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