Johannes Minckwitz

 

Katechismus der deutschen Poetik

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

Diese drei Hauptgattungen der dichterischen Ausdrucksweise aber reichen vollkommen aus; ihre Zahl zu erweitern und noch mehr Arten anzunehmen und aufzustellen, ist kein Grund, keine Veranlassung vorhanden. Lassen sich doch nicht einmal andere Richtungen denken, nach denen hin unser Geist vorgehen könnte, um einen bestimmten Ausdruck für dichterisch sprachliche Gestaltung zu finden. Es ist in den genannten drei Arten Alles gegeben, was für Subject und Object erforderlich ist: ein großes Feld gleichsam für drei Abtheilungen, deren jede ihren besonderen Anbau hat, besonderen Boden, besondere Pflanzung, besondere Farbe und Gestalt und Aussehen.

In der Lyrik, möchte ich sagen, haben wir bunte Blumenbeete, in der Epik eine unabsehbar wogende Getreideflur, im Drama einen vielgestaltigen Hain von abwechselndem Schmucke und mannigfaltigen Ausblicken. Näheres am rechten Orte, wo auch nachzuweisen ist, wie die Natur der Sache eine solche dreifache Gestaltung der poetischen Kunst fordere und hervorgerufen habe.

§ 57. Welche von den drei Arten ist nun die erste, worin der poetische Ausdruck sich gezeigt hat und zu zeigen pflegt, wenn [81] anders nicht alle drei gleichzeitig auftreten, nebeneinander und miteinander?

Wie überall, so wird auch hier das Einfachste und Natürlichste das Erste und Ursprünglichste sein, also an die Spitze gestellt werden müssen.

Und dafür ist die lyrische Weise zu halten. In dem oftgebrauchten Satze: "wessen das Herz voll ist, deß geht der Mund über", liegt der Ursprung der Lyrik. Vor allen anderen Arten erscheint denn die lyrische als die früheste und ursprünglichste, weil durch sie der Menschengeist auf das Einfachste sich äußert, wenn er zur Höhe der Poesie aufsteigt.

Also nicht die epische Weise sehen wir als die erste und früheste, wie Viele thun, die allerdings mit guten Gründen für ihre Annahme streiten. Ueberwiegende Gründe indessen hoffe ich für den oben gethanen Ausspruch beizubringen. Denn behalten wir jenen Satz im Auge: "wessen das Herz voll ist, deß geht der Mund über", so wird sich leicht darthun lassen, daß man der Natur der Poesie gemäß urtheilt, wenn man den Ausdruch der Lyrik für den unmittelbarsten, zu welchem die Poesie veranlaßt ist, betrachtet. Dem denkenden Menschen (und von einem "denkenden", kann doch überhaupt nur die Rede sein, nicht von einem stumpfen, gleichgültigen, gedankenlosen Kopfe) füllt sich unbedingt Seele und Herz mit Gedanken und Gefühlen, sobald er Etwas sieht oder hört, gesehen oder gehört hat: sobald er Etwas erlebt, sobald ihm etwas Anregendes entgegentritt. Alsdann entsteht in ihm der Drang sich auszusprechen, seine Empfindungen und Betrachtungen in Worte zu hüllen, über die Sache zu denken und zu reflectiren. Daß er durchaus nicht zunächst darauf ausgeht, das Erlebte und Gefühlte weiter zu erzählen, wird sich im Folgenden zeigen.

Die Seele des Menschen also ergießt sich, wie gesagt, in Worten, sobald dem Denker überhaupt Worte zu Gebote stehen (was wir doch gemeinhin annehmen müssen); und wie aus einer inneren Quelle strömen ihm die lautwerdenden Gedanken über die Lippe. Er kümmert sich nicht darum, ob ihm Jemand zuhört! Der Eindruck des Erlebten und Empfundenen reißt ihn mit dem ersten "Ach!" und "0!" unmittelbar fort, seine Gefühle, Gedanken und Regungen auszusprechen, wäre es auch in der tiefsten Einsamkeit. Was er sagen und äußern wird, ist die lauterste Poesie, es mag rhythmisch gemessen sein [82] oder nicht, gereimt sein oder nicht: auf die Formschönheit kommt dabei nichts an.

Denn die Natur des Menschen unterscheidet sich hierin nicht von der Natur des Singvogels. Wie die Lerche fröhlich, frisch und heiter im warmen Lenze zum Himmel aufsteigt, ihre tonreiche Brust in Liedklängen ausschüttend (bei kaltem Regenwetter, also in der Prosa des Lebens, möchte ich sagen, wird sie zum Gesange keinen sonderlichen Antrieb spüren): so steht auch vom fühlenden und denkenden Menschen fest, daß er seine Lippen öffnen wird, wenn er von Freude erwärmt ist, oder von Betrübniß erfüllt dasteht, und zwar um die Gegenwart eines Zweiten, eines Hörers oder vielleicht Mitfühlenden ganz unbekümmert. Er wird sich im Selbstgespräch mittheilen, um seinem Herzen Luft zu machen, und wird seine Mittheilung nicht schlechthin verschieben, bis er einen zweiten Menschen sieht. Er wird zwar seine Mittheilung an ihn richten, wenn er ihn sieht, aber er bedarf keines Zuhörers unmittelbar, er ist für diesen ursprünglichen Ausdruck seines Innern sich selbst genug.

Gerade aus dem Grunde, weil er keinen Zuhörer abwartet oder erwartet, wird die Art seines Ausdrucks darin bestehen, daß er Gefühle, gefühlvolle Gedanken und Betrachtungen ausspricht, die in ihm auftauchen und vorgehen. Hoffnung, Sorge, Erinnerung, Erwägung, Bewunderung, eine überraschende Erscheinung irgend einer Sache wird diese fühlende und betrachtende Weise des Ausdrucks, das ist die lyrische, hervorrufen.

§ 58. Drängen sich Gefühl und Betrachtung aus der Menschenbrust, wenn sie poetisch erregt ist, zu allererst zum Lichte hervor, so wird der Ausdruck dieses Gefühls und dieser Betrachtung, vorausgesetzt daß es Beidem nicht an Innigkeit und Stärke mangelt, auch nicht kaltverständig gefaßt sein, sondern er wird vorzugsweise gesangartig auftreten. Und ist ein musikalisches Instrument zur Hand, so wird der poetisch Erregte auch die Töne der Instrumentalmusik zu Hülfe nehmen, um der Innigkeit des Gefühle und der Stärke der Betrachtung einen erhöhten Ausdruck zu verleihen.

Deßhalb heißt diese Weise der Poesie die melische oder gewöhnlich die lyrische, jenes von Melos, Gesang, dieses von Lyra (Leier), weil die Lyra ehedem das Instrument war, zu welchem diese Gattung poetischer Erzeugnisse gesungen wurde. [83] Unter Lyrik verstehen wir also eine Dichtungsweise (Dichtungsart), welche in Darlegung von Gefühlen und Betrachtungen wurzelt, und deren Werke vorzugsweise gesungen werden sollen.

Dem obigen Beweise, daß die Lyrik in einem Volke sich zuerst geltend mache, thut es keinen Eintrag, daß diese Art der dichterischen Einkleidung gesangartig und mit Musik begleitet auftritt. Denn Gesang und Musik sind, wie bereits angemerkt worden, nicht durchaus erforderlich für die Aeußerung des Gefühls und der Betrachtung: vielmehr ist diese Aeußerung an sich poetisch, wenn sie sich auch besonders für Gesang und Musikbegleitung eignet. Die einfache Art dieser Aeußerung wird natürlich aber zur eigentlich lyrischen, wenn man sie künstlicher faßt, zur Kunst steigert: wenn man also zum Versmaß, zum Reim greift, die Worte singt und durch Instrumente hebt. Mit anderen Worten: der einfache Ausdruck der Natur vervollkommnet sich nach und nach, erst durch kunstreichere Worte, dann durch die genannten Hülfsmittel. Er kann schließlich die höchste Kunstzinne erreichen.

§ 59. Die lyrische Poesie nehmen wir also für die erste und einfachste Gattung poetischer Darstellung, erstens wegen der Unmittelbarkeit ihrer Entstehungsweise, zweitens weil sie sich mit sich selbst begnügt und keinen Theilnehmer braucht, und drittens (fügen wir hinzu), um ihrer Subjectivität willen. Denn in ihrem weiteren Fortschritt soll die Kunst der Lyrik zwar nach Objectivität der Darstellung streben, eigentlich aber liegt es nicht in ihrem Wesen selbst, sie kann und darf subjectiv sein.

Sie quillt, wie oben gesagt, aus der Brust des denkenden Menschen als das nächste Zeichen, daß er poetisch erregt ist; zweitens ist sie ganz selbständig in ihrer Erscheinung, und unabhängig von der Beachtung Anderer. Endlich drittens haben wir in ihr diejenige Weise, die uns persönlich zunächst steht: wir finden durch sie den Ausdruck für unser Selbst und dürfen alles Andere, die ganze Welt und ihre Erscheinungen, das Geschehene und künftig Geschehende auf uns zurückbeziehen.

Daraus schließen wir, daß sie die natürlichste und einfachste Weise der poetischen Aeußerung ist, obgleich sie sich erheben kann zur kunstreichsten, so daß sie hinter den beiden anderen Arten in keiner Beziehung zurücksteht. Weiter unten handeln wir von dieser Kunstentfaltung der Lyrik.

 

 

 

 

Druckvorlage

Johannes Minckwitz: Katechismus der Deutschen Poetik.
2. Aufl. Leipzig: Weber 1877.

Unser Auszug: S. 80-83.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101073366682
URL: https://books.google.fr/books?id=UJFBAAAAYAAJ

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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