Otto Sutermeister

 

Leitfaden der Poetik
für den Schul- und Selbst-Unterricht

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

B. Lyrik.

Wie die Epik die objective plastische, so ist die Lyrik die subjective musikalische Poesie (Lyrik von Lyra, weil die Griechen mit diesem Saiteninstrumente das gesungene Wort begleiteten). Sie ist der Ausdruck der Innerlichkeit, der Empfindung. Wenn der Epiker hinter seinem Werk verschwand und die Bilder des Lebens sich mit eigener Kraft vor unsrer Anschauung zu bewegen schienen, so tritt dagegen der Lyriker selber in den Mittelpunkt; sein Gefühl ist es, das die Welt aufnimmt, er zeigt sie uns nur in dem Spiegel und in der Gegenwart seines Gemüthes. Er singt "von Lenz und Liebe, von sel'ger goldner Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit" – die ganze Stufenleiter der Empfindung wird in ihren einzelnen Bewegungen von ihm festgehalten und [60] durch das Aussprechen dauernd gemacht; und dies gelingt ihm um so vollkommener, je lebendiger die Empfindung in ihm herrscht und je vollständiger er sich dabei die Freiheit des Geistes bewahrt, welche zugleich die Uebermacht der Leidenschaft aufhebt und in der individuellen Empfindung die allgemein menschliche und ewig wahre sich spiegeln und so allein das Schöne erzeugen läßt. (Vgl. Schillers Recension von Bürgers Gedichten, und Göthe: "Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben, wenn sich die Geister gar gewaltig regen." S. 41.)

Wer Leidenschaften schildern will,
Muß drinnen sein zugleich und draußen;
In deinem Herzen sei's fein still
Und hör um dich die Stürme brausen.
                                                      (Rückert.)

Das ist des Lyrikers Kunst: aussprechen was Allen gemein ist,
Wie er's im tiefsten Gemüth neu und besonders erschuf;
Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge
Leih'n, daß Jeglicher drin staunend sich selber erkennt
.
                                                                          (Geibel.)

Die Lyrik ist deshalb die Seele aller Poesie; denn die Begeisterung, die in der epischen (und dramatischen) Poesie durch mancherlei Kanäle geleitet wird, quillt in der Lyrik frisch und unmittelbar hervor.

Auf dieser Verwandtschaft mit der Musik beruht auch der Unterschied des lyrischen Stiles von dem epischen. Die Lyrik schreitet nämlich – weil sie eben Poesie ist – von dem allgemeinen Empfindungsausdruck des Tones zwar schon zur Bestimmtheit des Wortes fort; sie enthüllt die Schwingungen des Gemüthslebens im Lichte des Bewußtseins, wirkt durch klare Bilder auf die Phantasie und ruft durch diese die eigene Stimmung des Dichters auch in dem Hörer hervor; allein es entzieht sich doch immer das reine Gefühl – seiner Natur nach – dem Ausdruck im Worte; es verbleibt dem lyrischen Wort immer das Helldunkel der Gemüthswelt. ("Worte schwimmen der tiefsten Seele oben auf, wie Blei und Eisen auf flüssigem Gold," Bogumil Golz. "Daß so viel zum Herzen dringt, was man nicht in Worte bringt!" A. E. Fröhlich. Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr!" Schiller.)

[61] Wie sind deine Töne,
Menschenbrust, so dumpf!
Wie für's Geistigschöne,
Worte, seid ihr stumpf!

Wie sind eure Glieder
Ungeschmeidig streng,
Eure Formen, Lieder
Dem Gefühl zu eng!

Was ich hatt' empfunden
In der Brust so warm,
Wie sich's losgewunden,
Steht es da so arm!
                                               (Rückert.)

Und so ist der Stil und Ton der Lyrik, gegenüber der epischen Breite und Ruhe, unter dem Eindrucke des gegenwärtigen und überströmenden Gefühles mehr locker, gebrochen, überspringend, lebendig beweglich; und der lyrische Dichter muß mehr nur ahnen lassen als er ausspricht – ein Mangel der Lyrik, der zugleich ihr Reiz ist, indem er die empfangende Phantasie zur Ergänzung des Unausgesprochenen anregt. Ob daher der Dichter die Gefühle selbst unmittelbar, oder die mit dem Gefühl aufgefaßten Erscheinungen der Außenwelt, ob er Anschauungen, Gedanken oder Willensbewegungen darstellt – die Erzeugnisse der lyrischen Poesie haben nicht sowohl einen bestimmten Körper, als einen bestimmten Duft, der dem Blüthenduft des aufgeschlossenen Blumenkelches oder der unbeschreibbaren Blume und dem Arom des Weines zu vergleichen ist ("An der Blume erkennt man den Wein, aber sie selbst ist unbestimmbar“).

Wische mir nicht den Staub vom Gedicht
Mit deinen tölpischen Fragen;
Kannst du des Regenbogens Licht
Heim in den Händen tragen?
                                               (Fr. Oser.)

In der Sprache der "musikalischen Poesie" tritt selbstverständlich das musikalische Element der poetischen Sprache nach seinem vollen Umfang in den Vordergrund. Die innere Melodie [62] wird im ganzen Tonfall der Worte, in Rhythmus und Reim, dem Ohr vernehmlich. Ungleich mehr als die Anschauung ist die Empfindung mit dem besonderen Worte verwachsen; daher die Schwierigkeit der Uebertragung lyrischer Dichtungen aus einer Sprache in die andere.

Unübersetzbar dünkt mich das Lyrische; ist doch der Ausdruck
Hier von des Dichters Geblüt bis in das Kleinste getränkt.
Auch in verwandelter Form noch wirken Bericht und Gedanke;
Doch die Empfindung schwebt einzig im eigensten Wort.   Geibel.

 

Die lyrischen Dichtungsarten.

Die Lyrik kann das Empfindungsleben unmittelbar aussprechen; oder sie kann eine objectivere Form annehmen und die Stimmung des Dichters dadurch in dem Hörer hervorrufen, daß die Gegenstände geschildert werden, die ihn in dieselbe versetzt haben; oder sie kann endlich die Ideenwelt darstellen, wie dieselbe zugleich das Eigenthum und die bewegende Macht des Gemüthes ist. So ergibt sich eine Lyrik des unmittelbaren oder reinen Gefühles: das Lied; der Anschauung: Ode, Hymne, Dithyrambus, Elegie, Heroide; und des Gedankens, d. h. der Ideen nach ihrem Leben im Gemüth, aus Empfindungen hervorgerufen und wieder Empfindungen weckend: Satire, Epistel, Epigramm, Gnome und einige Fremdformen; s. S. 33 ff.

 

 

 

 

Druckvorlage

Otto Sutermeister: Leitfaden der Poetik für den Schul- und Selbst-Unterricht.
2. Aufl. Zürich: Schultheß 1874.

Unser Auszug: S. 59-62.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/010108760
URL: https://archive.org/details/bub_gb_jkVDAAAAIAAJ
URL: https://books.google.de/books?id=jkVDAAAAIAAJ

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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