Stephan Gätschenberger

 

 

Alfred Tennyson und die neueste Dichterschule.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Gätschenberger

 

[131] Geboren 1810 als Sohn eines Landgeistlichen in Lincolnshire, ist er seit etwa einem Menschenalter unbestrittener Herrscher auf dem Englischen Dichterthrone. Die Kritiker seines Landes preisen ihn als den größten Poeten des Zeitalters, seit dem Jahre 1850 ist er Hofdichter; denn die Königin schätzt ihn über Alles und in Folge dessen natürlich auch die übrige fashionable Welt, die ihn mit Briefen und Bitten um Authographien bestürmt. Was er immer jetzt schreiben mag, es gefällt und geht, von Gustav Doré prachtvoll illustrirt, reißend ab. Und warum? Weil er dem herrschenden Geschmacke der tonangebenden Classen zu schmeicheln versteht, wie Scott, wie Redwitz 1850, zur Zeit der ultramontan-reaktionären Strömung. Der Engländer, ohnedies fast jedes lyrischen Elements entbehrend, liebt jetzt, mehr als je, die beschreibende Poesie. So wenig, wie zu Walter Scott's Zeiten, will die heutige Englische Gesellschaft sich mit Denken anstrengen und sich geistig oder gemüthlich aufregen lassen. Der Industrielle, der Kaufmann in London, findet Aufregung genug in seinem Geschäfte und wie er aus dem lärmvollen Dampfleben auf seine Villa flüchtet, um die ländliche Ruhe als Gegenmittel gegen die aufreibende Hast seines Geschäftslebens zu gebrauchen, so liebt er aus gleichem Grunde die phlegmatische, beschauliche, reflektirende Idylle und wie feurige Weine und üppigen Tisch verlangt er in der Poesie die Sinnlichkeit idealisirt: farbenreiche Bilder à la Makart, Pracht und Fülle. Da ist Tennyson nun der Mann dazu. Er tauchte zuerst im Jahre 1830 auf, als die letzten Töne der poetischen Glanzperiode verklungen, als Byron und Shelley todt, Moore, Scott und meisten Anhänger der "Seeschule" verstummt waren, aber seine kleine Gedichtsammlung fand damals keine günstige Beurtheilung. Die Kritik warf dem Dichter Mangel an Tiefe der Gedanken und Gefühle, Haschen nach seltsamen Bildern, Verschwommenheit und affektirte Ausdrucksweise vor, erkannte jedoch an, daß ihm Phantasie, Farbenpracht, Melodie in nicht gewöhnlichem Maße zu Gebote standen, und er auch gewisse Gemüthsstimmungen mit Zartheit behandeln konnte. Sein Muster war damals Shelley, in einem zweiten, 1832 veröffentlichten Bande von Gedichten war es Wordsworth. Diese Sammlung enthielt Gedichte von idyllischem und ländlichem Charakter, z. B. "Die Maikönigin", "Die Müllerstochter", "Dora", schon ganz in jenem Style, der Tennyson's späteren Erfolge entschied und trotzdem fand auch [132] sie keinen Anklang. Erst 1842 brach das Eis, als Tennyson eine Gesammtausgabe seiner Gedichte veröffentlichte, worunter die schöne Elegie "Locksley-Hall". Jetzt ward er mit einem Male vom Publikum ebenso unmotivirt vergöttert, wie früher vernachlässigt. Man hat Tennyson den Lieblingsdichter der "satten Tugend und zahlungsfähigen Moral" genannt. Und nicht mit Unrecht. Er ist ein höchst "respektabler" Poet, kein Byron, kein Shelley, er will nicht wie Diese die Welt umstürzen, sondern geht allen großen Fragen, allen großen Leidenschaften, behutsam aus dem Wege; denn die Englische gute Gesellschaft unseres Jahrhunderts läßt nur die Kleinen zu sich kommen. Gelangt er ja einmal auf ein schlüpfriges Feld, wie in "Godiva", der schönen Gräfin, die er, der bekannten Sage folgend, im adamitischen Costüme durch Coventry reiten läßt, dann drückt er möglichst die Augen zu, oder malt, wie Schiller empfiehlt, den Teufel daneben. – Als ein Sohn der Marschen, des Moorlandes, gleicht Tennyson einem Niederländer Maler. Auch sein Beruf ist Stillleben, Kleinmalerei; seine Stärke liegt in der phlegmatischen Idylle im holländischen Geschmacke, seine Landschaftsbilder sind der Niederung entnommen. Innere Gluth, hohen Schwung, große, originelle Ideen sind ihm fremd, ihm liegt der Schwerpunkt der Poesie in der Technik. Und auf diese, namentlich der Durchbildung des jambischen Fünffüßlers, dessen weiblichen Ausgang er nur selten zuläßt, verwendet er allen Fleiß. Dadurch sank er aber vom Dichter immer mehr zum Verskünstler herab und verfiel in Manierirtheit; statt Schöpfungen eines Genies sind seine Dichtungen nur Erzeugnisse des Fleißes, ja oft nur leere Wortmalerei. Er strengt auch seine Erfindungsgabe nicht mehr gerne an, sondern sucht zu seinen erzählenden Gedichten jetzt mit Vorliebe bereits vorhandene Stoffe. So national diese sein mögen, Tennyson ist und wird nie Volksdichter, er findet seine Anhänger nur in gewissen Klassen der Bevölkerung.

Betrachten wir ihn jetzt von seinen vier Seiten: als reinen Lyriker, Hofdichter, Romantiker und Idyllendichter.

Von seinen rein lyrischen Gedichten verdienen jene, die den alten Balladenton richtig treffen, wie "Edward Gray", "Lady Clare" besonderes Lob, auch da, wo der Dichter die Rechte des Herzens gegen abgelebte Institutionen in Schutz nimmt, wie in "Clara Vere" zeigt er sich von ächter Poesie durchglüht. Originell und poetisch ist er auch in Charakter- und Gefühlsstudien, wie "Simeon Stylites", "Ulysses" u. s. w., die kleinen Einlagen in "the princess" sind auch von ächtem lyrischen Gehalt. Wahrscheinlich quollen auch Anfangs die Trauergedichte "in memoriam", in denen er seinen jungen Freund Hallam fast wie eine Geliebte feiert, [133] unmittelbar aus seinem Innern hervor, da aber der Dichter auch hier in seinen gewöhnlichen Fehler der Breite verfiel: es sind 129 Gedichte nebst Prolog und Epilog (wahrscheinlich um ein im Buchhandel rentables Volumen herzustellen) und alle in derselben vierzeiligen Strophe, so muß bei solcher Monotonie eine Ermüdung eintreten. An die officiellen Produkte des Hofdichters: die Oden auf den Tod des Herzogs von Wellington (1852), zum Empfang der Prinzessin Alexandra, wollen wir nicht den strengen Maaßstab der Kritik anlegen. Tennyson hat übrigens auch officiöse Gedichte verfaßt, z. B. die Verherrlichung des thörichten Reiterangriffs bei Balaklava und die Apologie des Krimkriegs überhaupt, welche er in seine Dorfgeschichte "Maud" verflochten hat, keineswegs zum Vortheil der Erzählung. Diese ist einfach: Ein Gutsbesitzer, den eine Spekulation mißglückt ist, wird in einem Hohlwege todt gefunden. Seine Frau stirbt bald darauf und der Sohn, menschenscheu geworden, wohnt in einem kleinen Hause mit einiger Dienerschaft, die ihn, dem Beispiele aller Welt folgend, bestiehlt, während Gut und Schloß in den Besitz eines alten Mannes kamen, der sich beim Sturze des früheren Besitzers bereicherte. Die Tochter dieses neuen Crösus war dem Sohne des früheren Besitzers schon als Kind zur Braut bestimmt, sie verliebt sich auch jetzt noch in ihn, was ihr stolzer Bruder nicht zugeben will, worauf Insulte und ein Duell folgen. Maud's Bruder wird erschossen, sie stirbt, ihr Liebhaber wird wahnsinnig, hält sich für todt, bis Maud ihm im Traume erscheint, sich vom Chore der Seligen trennt und sagt, daß die Hoffnung der Welt von dem beginnenden Kriege zu erwarten sei, worauf er "die Verzweiflung verscheucht", nach einigen Monaten einsieht, "daß es Zeit sei, daß die alte hysterische Krankheit aufhöre", sich freut, "daß Britaniens einziger Gott nicht länger der Millionär, daß ferner nicht der Handel Alles in Allem sei", und Soldat wird. Er fühlt, "daß die Engländer noch edel seien", und fügt sich jetzt in sein Loos. Ueberhaupt wird in dem Gedichte ganz à la Stahl oder Gerlach ein frischer, fröhlicher Krieg gepriesen und vom Frieden und seinen Auswüchsen alles Schlechte gesagt, was sich nur immer beibringen läßt, wahrscheinlich in der Absicht, der damals in London herrschenden Unlust an diesem Kriege und seinen Opfern entgegenzuwirken. Maud selbst muß Kriegslieder singen. An Gemeinplätzen ist in dem Gedichte reicher Vorrath, aber es enthält auch schöne Stellen. Manche Selbstgespräche sind ganz à la Amaranth. Beiläufig gesagt, erwies sich hier der Dichter als schlechter Seher; denn "die Hoffnung der Welt" wurde von dem jetzt ganz resultatlos verlaufenen Krimkriege getäuscht.

[134] Was den Hang Tennyson's zur Romantik, seine Bearbeitung der Arthursagen betrifft, die er noch heute fortsetzt (im vorigen Jahre erschien "Das letzte Turnier"), so glaubt ein Kritiker, daß die Betrachtung der Gotteshäuser in den Moordistrikten (zu Ely, Croyland, Ramsay u. s. w.) und das Studium ihrer Geschichte diese veranlaßt hätten. Wir glauben das nicht, aus dem Grunde, weil Tennyson jedes Verständniß für die mittelalterliche Zauberwelt fehlt. Seine Ritter sind moderne Figuren in alter Tracht zum Gebrauche für die Londoner Spießbürger: sie werfen mit Goldstücken um sich, bestellen gutes Essen und zahlen Alles baar. Sie besitzen so wenig Galanterie, daß sie die widerstrebenden Damen beohrfeigen, vollführen übrigens Thaten, gegen welche jene des rasenden Roland ein Kinderspiel sind. Selbst wenn sie schon für todt daliegen, springen sie wieder auf und köpfen die Riesen, wie in der ersten der Königs-Idyllen: "Enid". Auch die zweite ist eine traurige Verballhornung der großen Gestalt Merlin, welchem eine sehr lächerliche Rolle einer gemeinen Coquette gegenüber zugetheilt ist, welche den Schmähnamen, den er ihr gibt, vollkommen verdient. Auch in das Lob der übrigen Arthurgeschichten, das von den Englischen Kritikern so reichlich gespendet wurde, können wir nicht einstimmen.

In Sprache und Wortbildung hat Tennyson sich Milton zum Muster genommen. Witz und Humor fehlen ihm: seine größere Dichtung "the Princess" mißrieth, weil er den burlesken Styl mit dem tragischen verbinden wollte. Die auch hier zu breite Reflektion schwächt die Wirkung des Gedichts, welches die Tendenz hat, die Meinungen des Dichters betreffend die sociale Tagesfrage: den Beruf des Weibes zu verkünden. Am höchsten steht Tennyson als Idyllendichter, wenn er (wie in "Enoch Arden") die Scenerie eines Dorfes am Meeresstrand, die Beschäftigungen, die Gefühle seiner Bewohner schildert. Sehr einfach sind diese Erzählungen und wohl deßhalb so schön. Enoch Arden, der sich etwas gespart, um eine Dorfschöne heirathen zu können, macht später, seine Verhältnisse zu verbessern, eine weite Seereise, wird aber auf eine wüste Insel verschlagen, wo er viele Jahre lebt, während seine Frau in Noth versunken, nach langem Zögern seinen früheren, damals verschmähten, Nebenbuhler heirathet. Enoch Arden, vor der Zeit alt geworden, kehrt zurück, sieht seine Frau als die eines Andern, mit einem Kinde, welches nicht das seine, häuslichen Glücks sich erfreuen und um dieses Glück nicht zu stören, schweigt er, bis der Tod ihn erlöst. Tennyson übertrifft hier Wordsworth, dem solche Idyllen nicht gelangen, weil ihm eben die Einfachheit fehlte. In Deutschland wurde Tennyson durch Freiligrath und W. Herzberg ein[135]geführt. Ausgewählte Dichtungen von ihm hat Adolf Strodtmann, seine Idylle, "Enoch Arden", haben Schellwien und Waldmüller übersetzt.

 

 

 

 

Druckvorlage

S. Gätschenberger: Geschichte der englischen Dichtkunst
nebst einer Skizze der wissenschaftlichen Literatur England's.
Zweite gänzlich umgearbeitete Auflage.
London: Wohlauer 1874.

Unser Auszug: S. 131-136.

PURL: https://hdl.handle.net/2027/nyp.33433075793905
URL: https://archive.org/details/geschichtederen00gtgoog

 

 

 

Literatur: Gätschenberger

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