Hermann Oesterley

 

I. Lyrische Dichtung.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

 

§ 44. Ueber das Wesen der lyrischen (d. h. der ursprünglich mit Begleitung der Lyra vorgetragenen) Dichtung bleibt nach dem bereits Vorausgeschickten nur noch Wenig zu sagen übrig. Die Hauptsache ist, daß sie durch die Darstellung einer in der Begeisterung entstehenden subjectiv poetischen Thätigkeit wirkt, daß sie die in der Begeisterung wach gerufenen Gefühle, Stimmungen und Gedanken zu dichterischem Ausdrucke bringt, wobei zur Sicherung und Erhöhung ihrer Wirksamkeit die im Vorhergehenden dargelegten Mittel der poetischen Form und namentlich der dichterischen Sprache um so reichlichere Verwendung finden, je höher der begeisternde Stoff die poetische Schöpfungskraft des Dichters erregt und den Flug seiner Begeisterung emporhebt. Sie wirkt also unmittelbar aus der schaffenden Fantasie heraus auf die empfangende, ohne die Vermittlung eines außerhalb liegenden Objectes, wie eines zu beschreibenden Gegenstandes, einer Erzählung oder einer Handlung, sie bringt also das eigenste, innerste Seelenleben des Dichters zur Darstellung, und das ist ihre Subjectivität. Indessen kann auch hier der äußere Anknüpfungspunkt, das zur lyrisch-schaffenden Thätigkeit anregende Motiv niemals fehlen; und wenn dieses Motiv in den meisten Fällen auch durchaus im Hintergrunde bleibt, so tritt es doch auf der andern Seite oft weit genug vor, um eine besondere Form der lyrischen Poesie entstehen zu lassen, diejenige nämlich, welche früher als der mimischen Kunst entsprechend bezeichnet wurde. Bei der außerordentlich nahen Verwandtschaft der mimischen und der bildenden Kunst, [68] die sich in der Dichtkunst zwischen der als mimisch charakterisirten Seite der Lyrik und der objectiven oder epischen Dichtung wiederholt, liegt damit freilich eine Verwechslung des lyrischen Motivs mit dem epischen Stoffe nahe, und hat sogar zu der Aufstellung einer besonderen Art von lyrischen Romanzen und Balladen geführt. Wie in diesem Falle, so sind fast immer die Uebergänge von einer Gattung zur andern durchaus unmerklich, und es mag hier ein für alle Mal darauf hingewiesen werden, daß jede Gliederung der Poesie in Gattungen und Arten als ungenügend erscheinen muß, wenn sie über den allgemeinsten Grundcharakter derselben hinausgeht. Aber nicht nur die Uebergänge von der einen Art zur andern, sondern mehr noch die Mischformen entziehen sich jeder Eintheilung, sobald man versucht, in das Besondere und Einzelne einzugehen. So sind z. B. rein lyrische Dichtungen bei Weitem seltener, als man vermuthen sollte, epische und selbst dramatische Elemente erscheinen in ihnen unendlich häufig, schon wenn der Dichter in die Seele eines Dritten sich hineindenkt und aus dieser heraus dichtet, ist das Gedicht streng genommen nicht mehr lyrisch, sondern dramatisch, und unvermischte Beispiele für die einzelnen Arten der Lyrik sind kaum aufzufinden. Noch häufiger treten lyrische und dramatische Elemente im Epischen auf, und die verschiedenen Formen der Epik erscheinen nur in den seltensten Fällen, in ganz kurzen Gedichten, rein ausgeprägt. Das Drama endlich ist an sich eine Mischform und kann ohne die subjective Dichtung gar nicht gedacht werden, aber auch Beschreibung und Erzählung nicht entbehren.

Als die allein aus dem Wesen der Poesie hervorgehende Gliederung der Lyrik ist bereits an einer früheren Stelle die Eintheilung in mimische, musikalische und poetische nachgewiesen, die im Allgemeinen der Darstellung von Gefühlen, Stimmungen und Gedanken entspricht. Die gebräuchliche Bezeichnung für die einzelnen Dichtungsformen der Lyrik stimmt indessen nur zum Theile mit dieser Gliederung überein: die dritte Art löst sich leicht als didaktische Dichtung ab, die beiden anderen aber bleiben in den geläufigen Bezeichnungen ungetrennt, und für diese werden die verschiedensten Eintheilungsgründe angegeben, um eine systematische Darstellung zu ermöglichen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Hermann Oesterley: Die Dichtkunst und ihre Gattungen.
Ihrem Wesen nach dargestellt und durch eine nach den Dichtungsarten geordnete Muster-Sammlung erläutert
Mit einer Vorrede von Karl Goedeke.
Breslau: Leuckart 1870, S. 67-68.

URL: https://books.google.fr/books?id=xJdYAAAAMAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Martiny, Erik (Hrsg.): A Companion to Poetic Genre. Hoboken, NJ 2012.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 11), S. 31-59.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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