Alfred Tennyson
Ausgewählte Dichtungen

 

 

Emanuel Geibel: Vorwort.

 

Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur

 

[3] Alfred Tennyson genießt in seinem Vaterlande des unbestrittensten literarischen Ruhmes. Seine Werke sind in den Händen aller Gebildeten und die Presse huldigt ihm als dem ersten Dichter der Gegenwart, ja sie hat nicht Anstand genommen, ihn den poetischen Heroen der Vergangenheit an die Seite zu setzen. Auch die deutsche Kritik, zuerst durch Freiligraths, später durch Herzbergs und Strodtmanns Uebersetzungen auf ihn hingewiesen, hat den britischen Laureaten bereitwillig Anerkennung gezollt, wenngeich in etwas gedämpfterem Tone und ohne den Dichter von Locksley-Hall mit dem Sänger des Childe Harold auf dieselbe Stufe zu stellen.

In diesem Punkte müssen wir ihrem Urtheile beipflichten. Tennyson ist kein Bahn brechender Genius, wie sie zumeist nur im Beginn aufsteigender Literaturepochen hervortreten; er trägt durchaus den Stempel einer eklektisch gewordenen Zeit. Aber er ist ein schönes vielseitig durchgebildetes Talent, ein liebenswürdiger Charakter, ein gewissenhafter Künstler. Seine Dichtungen [4] gleichen weniger einem in titanischer Ueppigkeit aufschießenden Urwalde, als einem reizenden wohlgepflegten Garten. Zu Byron verhält er sich etwa, wie Mendelssohn zu Beethoven.

In Tennysons Jugendgedichten treten manche Schwächen des Epigonenthums am deutlichsten hervor. Die descriptive Breite, in die er sich hier nicht selten verliert, weicht freilich in den nachfolgenden Werken geschlossenerer Knappheit; eine akademische Neigung jedoch zu allegorisirenden Ausführungen, wie sie dem deutschen Geschmack mit Recht zuwiderlaufen, und einen gewissen Zug in das Sentimentale hat er niemals völlig überwunden. Aber dafür entschädigt er uns, und zwar je später um so reichlicher, durch alle Vorzüge, welche einer begabten Dichternatur aus dem klaren künstlerischen Bewußtsein erwachsen. An glücklicher Eigenthümlichkeit der Wortgebung, die durch den schlagenden Ausdruck selbst öfter Gesagtes mit dem vollen Reize der Neuheit umkleidet, an ciselirter Sauberkeit des Styls, an bezauberndem Wohllaut des Verses steht er unübertroffen da; er weiß seinen Stoff meisterhaft anzuordnen und die psychologischen Probleme, die er aufgreift, mit überraschender Sicherheit zu lösen.

Neben der leidenschaftlichen Elegie Locksley-Hall und einzelnen überaus melodischen Liedern, welche lediglich in Rhythmen gehauchte Stimmung und ebendarum vollkommen unübersetzbar sind, erregten zunächst seine Balladen die bewundernde Aufmerksamkeit des Publikums. [5] Manche derselben sind in der That von außerordentlicher Schönheit; sie vereinigen den einfach rührenden Ton des alten Volksliedes mit einer tiefer gesättigten Färbung. Als die reifsten Früchte seines Geistes aber lassen sich wohl jene reimlosen Idyllen bezeichnen, in welchen Tennyson eine neue, seiner dichterischen Individualität durchaus entsprechende Gattung schuf. Mag er in diesen Idyllen erlesene Mythen des Alterthums durch psychologische Austiefung aufs Neue beleben, mag er mittelalterlicher Sage sich anlehnen, mag er endlich – wie er es am häufigsten und mit besonderer Vorliebe thut – sociale Zustände der modernen Welt vor uns aufrollen, indem er bald nach bem Vorgange Theokrits dialogische oder monologisde Form wählt, bald epische und lyrische Elemente zum lebendigen Gesammtbilde kunstreich ineinanderwebt: überall begegnen wir derselben geistvollen Durchdringung des Stoffs, demselben Zauber des Colorits und der Stimmung, derselben Virtuosität des Ausdrucks, welche der Sprache fortwährend neue Reize entlockt.

Zu den umfangreichsten und interessantesten dieser socialen Lebensbilder gehört das Gedicht "Aylmers Field", das hier zum ersten Male in deutschem Gewande erscheint. Ausgezeichnet durch poetische und rhetorische Gewalt wie durch glänzende Charakteristik behandelt es die in Locksley-Hall lyrisch durchgeführten Motive in erschütternder Erzählung. Ein ergreifenderer Protest wider die Unnatur erstarrter Menschensatzung ist wohl kaum aus der Feder eines Dichters geflossen. Der einzige Punkt, der unser [6] sittliches Gefühl disharmonisch berührt, der Selbstmord Leolins, erklärt und entschuldigt sich dadurch, daß der Autor die Handlung in jene Tage verlegte, in welcher fast alle Gemüther von dem Hauche Wertherscher Empfindungsweise mehr oder weniger ergriffen waren.

Schon öfters hatte ich mein Bedauern darüber ausgesprochen, daß gerade dies bebeutende, für Tennysons Eigenthümlichkeit so bezeichnende Werk von keinem der bisherigen Uebersetzer berücksichtigt worden, als mir zu meiner Freude im Laufe des vergangenen Frühjahrs die nachstehende in jeder Hinsicht gelungene Verdeutschung von Freundeshand mitgetheilt wurde. Ich habe der gediegenen, unter beharrlicher Anstrengung gereiften Arbeit mehr als eine genußreiche Stunde zu verdanken und glaube sie daher dem deutschen Leser mit Recht empfehlen zu dürfen.

Kissingen, im Juni 1869.

                                                              Emanuel Geibel.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Ausgewählte Dichtungen von Alfred Tennyson.
Metrisch übertragen von H. A. Feldmann.
Mit einem Vorworte von Emanuel Geibel.
Hamburg: Grüning 1870, S. 3-6.

URL: https://books.google.fr/books?id=sUY1P6LbWbUC

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnis


Jacob, Herbert (Bearb.): Deutsches Schriftstellerlexikon 1830 – 1880.
Bd. G. Berlin: Akademie Verlag 2000.
S. 78-97: Art. Geibel.



Geibel, Emanuel: Gedichte.
Berlin: Duncker 1840.
URL: https://books.google.fr/books?id=9CxcAAAAcAAJ
100. Aufl. 1884.

Geibel, Emanuel: Zeitstimmen. Zwölf Gedichte.
Lübeck: Aschenfeldt 1841.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10925600-7
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/006095795

Geibel, Emanuel: Gedichte.
Zweite vermehrte Auflage: Berlin: Duncker 1843.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009731301

Geibel, Emanuel: Gedichte.
Dritte stark vermehrte Auflage: Berlin: Duncker 1844.
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000374400000000

Geibel, Emanuel: Gedichte.
Dreizehnte Auflage: Berlin: Duncker 1848.
URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10108553-2

Geibel, Emanuel: Juniuslieder.
Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1848.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10108558-9
URL: https://archive.org/details/juniuslieder01geibgoog
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/006637946

Geibel, Emanuel: Neue Gedichte.
Stuttgart u. Augsburg: Cotta 1856.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10108556-8
URL: https://archive.org/details/bub_gb_6oE6AAAAcAAJ

Geibel, Emanuel (Hrsg.): Ein Münchner Dichterbuch.
Stuttgart: Kröner 1862.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10108563-7
URL: https://archive.org/details/bub_gb_6pc7AAAAcAAJ
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/011619599

Geibel, Emanuel / Leuthold, Heinrich: Fünf Bücher französischer Lyrik
vom Zeitalter der Revolution bis auf unsere Tage in Uebersetzungen.
Stuttgart: Cotta 1862.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10091732-9
URL: https://archive.org/details/fnfbcherfranzsi00leutgoog
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/006507666

Geibel, Emanuel: Heroldsrufe. Aeltere und neuere Zeitgedichte.
Stuttgart: Cotta 1871.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11014035-1
URL: https://archive.org/details/heroldsrufeaelt00geibgoog
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008669445


Duncker, Albert (Hrsg.): Emanuel Geibel's Briefe an Karl Freiherrn von der Malsburg und Mitglieder seiner Familie.
Berlin: Paetel 1885.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_G_k4AQAAMAAJ

[Fehling, Emil Ferdinand; Hrsg.:] Emanuel Geibels Jugendbriefe. Bonn – Berlin – Griechenland.
Berlin: Curtius 1909.
URL: https://archive.org/details/emanuelgeibelsju00geib

Petzet, Erich (Hrsg.): Der Briefwechsel von Emanuel Geibel und Paul Heyse.
München: Lehmann 1922.
URL: https://archive.org/details/derbriefwechselv00geibuoft

[Struck, Gustav; Hrsg;:] Briefwechsel Emanuel Geibel und Karl Goedeke.
Lübeck: Selbstverlag der Stadtbibliothek 1939.

Reiss, Hans / Wegener, Herbert (Hrsg.): Briefe an Henriette Nölting 1838 - 1855.
Lübeck: Schmidt-Römhild 1963.

Hillenbrand, Rainer (Hrsg.): Franz Kuglers Briefe an Emanuel Geibel.
Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2001.

 

 

 

Literatur

Albrecht, Jörn / Plack, Iris: Europäische Übersetzungsgeschichte. Tübingen 2018.

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Frank, Horst J.: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 3: 19. Jahrhundert. Teil 1: Im Gesamtstaat. Neumünster 2004.
Kap. 13: Vergänglicher Ruhm: Emanuel Geibel (S. 404-432).

Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1510).

Goßens, Peter: Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart u. Weimar 2011.

Meyer-Sickendiek, Burkhard: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert. Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche. Tübingen u.a. 2001.

Ormond, Leonee (Hrsg.): The Reception of Alfred Tennyson in Europe. London 2017.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Volkmann, Christian: Emanuel Geibels Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit. Berlin 2018.

 

 

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