Karl August Mayer

 

Leitfaden der deutschen Poetik
für die Oberklassen höherer Lehranstalten und für Freunde der Dichtkunst

[Auszug]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

B. Lyrische Poesie.

§. 133. Da es der Dichter ebensowohl in der epischen als in der lyrischen Poesie mit dem Menschen zu thun hat, so stellt er hier wie dort Gefühle und Gedanken der Personen, die er uns vorführt, dar. Allein der epische Dichter, der als Erzähler Begebenheit an Begebenheit reiht, berührt nur die innere Welt des Menschen, er ergründet sie nicht; er zeigt uns nur das Zifferblatt der Uhr, nicht das Werk, dessen Räder die Zeiger in Bewegung setzen. Diese innere Welt zu offenbaren, sei es, daß der Dichter, wie gewöhnlich, sein eigenes Herz erschließt und seinen eigenen Gedanken freien Lauf läßt; sei es, daß er das Wesen Anderer darlegt, ist die Aufgabe des Lyrikers, der also mit keinen Ereignissen und Handlungen, sondern mit der verweilenden Betrachtung der Werkstatt, wo die Handlungen vorbereitet werden, zu schaffen hat. Wenn es schon im gewöhnlichen Leben eine Wohlthat ist, die Freude oder den Schmerz, die uns bewegen, auszusprechen: so wird das poetische Gemüth diesem Drang doppelt nachzukommen suchen, weil mit der Erleichterung der Brust zugleich der Genuß der dichterischen Gestaltung gegeben ist. Daher auch Göthe's Tasso inmitten der schmerzlichsten Stimmung einen Trost findet:

Die Thräne hat uns die Natur verliehen,
Den Schrei des Schmerzes, wenn der Mann zuletzt
Es nicht mehr trägt – und mir noch über Alles:
Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede,
Die tiefste Fülle meiner Noth zu klagen,
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.

So ist das echte lyrische Gedicht im höheren Sinne des Worts Gelegenheitsgedicht. Uebrigens müssen die Gefühle, die der Dichter ausspricht, natürlich der Art sein, daß sie einen Wiederhall in unserem Herzen finden; ihr Inhalt muß also das allgemein Menschliche, nicht das Besondere, Seltsame, Schrullenhafte sein.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Karl August Mayer: Leitfaden der deutschen Poetik
für die Oberklassen höherer Lehranstalten und für Freunde der Dichtkunst.
Leipzig: Teubner 1869.

Unser Auszug: S. 114.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.b5452442
URL: https://books.google.fr/books?id=nx0zAQAAMAAJ

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770 – 1960. With Bibliographies by Anja Zenk, Jasmin Azazmah, Eva Jost, Sandra Richter. Berlin u.a. 2010.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

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