[anonym]

 

 

Zur Charakteristik Rückert's.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Über Land und Meer

 

[670] Der vor nicht langer Zeit dahingegangene Rückert, dessen Name der poetischen Literatur Deutschlands zur fortwährenden Zierde gereichen wird, findet bekanntlich als Dichter eine verschiedenartige Beurtheilung: die Einen zählen ihn den höchsten poetischen Genien bei, welche jemals gelebt haben, während Andere in ihm nichts als ein bloßes sprachgewandtes Formentalent sehen, wobei sie unter Anerkennung einer staunenswerthen Virtuosität noch dazu wohl klagen über häufige Ueberkünstelung des Versbaues, über überflüssige Wortspielerei u. dgl.

Diese so weit auseinandergehenden Urtheile zu berichtigen und auf ihr gerechtes Maß zurückzuführen, die Person Rückert's und seine tief in das Volk eingedrungenen Werke nach ihrem wahren Werth zu schätzen, dann, was an beiden merkwürdig, ausgezeichnet und einzig in seiner Art sich darstellt, den zutreffenden Ausdruck zu geben, hat so eben Professor C. Fortlage in Jena in dem Büchlein: "Friedrich Rückert und seine Werke" (Frankfurt, J. D. Sauerländer) in höchst anerkennenswerther Weise unternommen.

Mit dem Dichter persönlich befreundet, weiß Fortlage manchen bedeutungsvollen Charakterzug von ihm mitzutheilen. In seinem Umgang war Rückert überaus liebenswürdig und mittheilsam. Er gehörte zu den beständig stark im Innern arbeitenden Geistern und war stets bereit, dem sich dafür Interessirenden aus seiner Beschäftigung mitzutheilen, mochte diese nun von linguistischer, poetischer oder sonstiger Art sein. Man fühlte sich, sagt der Verfasser, in seiner Nähe wie aus der übrigen Welt entrückt oder vielmehr in die richtige Welt versetzt, wo nichts Menschliches, dagegen alles Kleinliche ausgeschlossen war, und die Unterschiede der Sitten und Sprachen, die Gegensätze von Neuzeit und Alterthum, von Occident und Orient sich verloren in gegenseitiger Verständigung über das allgemein Menschliche, Wahre, Vernünftige und Leidenschaftslose. Dabei war sein Haus angefüllt mit manchen interessanten Werken der Literatur aus der romantischen Periode, sowie mit solchen, die den Orient betrafen, mit manchen Schriften, die man anderswo nicht leicht in solcher Auswahl beisammen traf. Und außerdem sah man in Neuseß (Rückert's Wohnsitz) das harmloseste, freieste Leben sich entfalten. Denn die große hier heranwachsende Familie von Söhnen und Töchtern stellte ein so idyllisches Bild vor Augen, wie es nicht leicht sonst gesehen werden kann. Man brachte bei gutem Wetter viele Zeit im lieblichen Garten zu und schwärmte nach Behagen in den umliegenden schönen Wiesengründen und Gehölzen umher. Der große Hausstand wurde harmonisch zusammengehalten von den Banden der zärtlichsten Liebe zu einer Mutter, deren Gemüth nur bestand aus lauter Selbstvergessenheit und Aufopferung für die Familie, derselben Mutter, deren Andenken im "Liebesfrühling" fortlebt.

Und in dieser behaglichen Häuslichkeit, worin Alles lebendig gewachsen war und wuchs, und man nichts Gewaltsames kannte, wuchsen auch seine poetischen Schöpfungen gleich der frischen Rose leicht und still empor. Sein Dichten glich einem fortwährenden raschen Improvisiren, aber nicht in Gesellschaft, sondern in tiefer Einsamkeit. Ihm quollen die Verse leicht hin, wie der Quell fließt, wie die Blume wächst.

So lange die Mutter Rückert lebte, war auf Neuseß sie der zärtlich geliebte Mittelpunkt der aus fünf Söhnen und zwei Töchtern bestehenden Familie. Nach ihrem Tode, als von den Söhnen sich ein Jeder selbst seine Familie gründete und die zweite Tochter sich nach Coburg verheiratete, schloß sich die älteste Tochter um so enger an den Vater an. Sie war es, welche ganz nur in ihm und für ihn lebte, das alte gastfreie Haus nach wie vor in seinem eigenthümlichen Glanze repräsentirte und es vortrefflich verstand, den dort verweilenden Gästen das Haus des Dichters fortwährend zu diesem lieblichen Aufenthalte des Friedens und des Glückes zu machen, dessen frische Erinnerungsbilder von den Bildern des alltäglichen Lebens so sehr abstechen, daher niemals verlöschen, sondern, je öfter sie wiederkehren, nur um desto mehr an Zauber gewinnen.

Rückert war selbst von Person eine imposante Erscheinung. Er war von ungewöhnlicher Größe, dabei gliederstark und von derbem Knochenbau, im Gesichte höchst markirte Züge. Unter der von gescheiteltem braunem Lockenhaar umgebenen freien und hohen Stirn, einer wahren Jupiterstirn, leuchteten in schwarzem Feuer ein paar tiefe Augen empor. Die Augen schreckten, wenn sie drohten. Aber eine unbeschreibliche Anmuth und Milde umspielte die Züge des Mundes.

Daß er dieses ganz wie zum Repräsentiren gemachte Aeußere so wenig im Leben geltend zu machen suchte, vielmehr lieber in tiefe Einsamkeit vergrub, gleichwohl aus dieser Verborgenheit nur mit desto wärmerem Interesse an Allem, was die Gegenwart in politischer, religiöser und wissenschaftlicher Beziehung mächtig bewegte, einen entschiedenen und literarisch mitthätigen Antheil nahm, darin eben drückte sich das tiefste Wesen seines poetischen Genius aus, in welchem in dieser Weise der Frühling eines idyllischen Naturlebens emporblühte. Denn der eigentliche Quell seiner Poesie floß hervor aus einer lebendigen und feinen Naturempfindung in einem so hohem Grade, daß man hierin ihn wohl einen Seelenverwandten von Jean Jacques Rousseau nennen darf. Denn er war ebenso, wie dieser, unbedingter Verehrer der Natur, der Jugend und des Frühlings. Dieser unbedingie Naturkultus ging bei ihm so weit, daß er ihn zuweilen zu ungerechten Urtheilen gegen eine wesentlich pathetische Dichtkunst, wie die der Schiller'schen Muse, verleiten konnte.

Wenden wir uns näher zu den lyrischen und didaktischen Erzeugnissen des Dichters, so gerathen wir in eine fast unübersehbare Fülle von sinniger Naturpoesie, wie in einen üppig wuchernden und ein unerschöpfliches Frühlingsleben in sich entfaltenden Wald, worin ein dafür empfänglicher Sinn schwelgen darf, wie die Biene in Sommerblumen schwelgt. Aber diese Naturpoesie unterscheidet sich doch von einer anderen ihresgleichen wesentlich vermöge eines durchgehenden philosophischen Charakters, welcher uns die Natur gleichsam idealisirt, uns die schöpferischen Ideen im Sinne Plato's herausliest, welche in ihr walten. Es ist weniger eine Landschaftsmalerei der Natur, als eine gewisse Naturphilosophie, welche in Rückert's Gedichten lebt. Obgleich Rückert niemals eigentliche philosophische Studien trieb, vielmehr eine gewisse Abneigung vor aller abstrakten Spekulation empfand und sogar ernsthaft böse werden konnte, wenn man ihn im Gespräche zu tief dahinein verwickeln und verflechten wollte, so war doch sein Geist von den Ideen unserer Spekulation in hohem Grade durchdrüngen und durchtränkt, wie Wenige. Er dachte philosophisch, ohne es zu wollen und zu wissen. Er hatte in seiner Studienzeit sich fortwährend in philosophischer Sphäre bewegt, besonders in Würzburg, wo seit 1809 J. J. Wagner die Schelling'sche Naturphilosophie durch seine Vorträge zu überbieten suchte. Später war er in Erlangen eine Zeit lang Schelling's Kollege. Ohne unmittelbaren Antheil zu nehmen an dem Methodischen der Spekulation, eignete sich, wie einathmend, sein feinfühlender Geist mit eben so großer Bereitwilligkeit von selbst alles ihm Genießbare an, als er dabei das ihm nicht Entsprechende mit eben so großer Entschiedenheit abstieß.

In solcher Art empfing er die philosophischen Gedanken, welche er hernach selbstthätig zu dem zu verarbeiten liebte, was allen seinen Gedichten ihren eigenthümlichen didaktischen Zauber verleiht, und was wir in seiner "Weisheit des Brahmanen“ in der vollendetsten Gestalt vor uns haben. Denn in derselben gefühlsmäßigen Weise, wie er Anfangs in der Schule der Naturphilosophie zu Gaste gegangen war, ging er später bei den Schulen der indischen Gymnosophisten und persischen Mystiker zu Gaste. Und gerade in diesem Punkte war sein empfänglicher Geist von einer wunderbaren Tiefe. Er hatte sich in die Grundbegriffe der indischen Philosophie so lebendig hineingedacht, daß er dem Wißbegierigen in dieser Beziehung Aussichten in wenig gekannte fremde und für uns neue Ideengebiete aufzuschließen und zu eröffnen verstand.

Der durchgehende Grundzug durch Rückert's sämmtliche Naturpoesieen ist der Glaube an die schöpferische Allmacht der Liebe, welche alle Wesen allgegenwärtig durchdringt. Dieses Thema finden wir in unerschöpflicher Fülle hundertfältig durchgespielt in Verbindung mit einem sympathetischen zarten Aneignungsgefühl für alle Zustände des Naturlebens. Dasselbe geht so weit, daß er uns zuweilen darin als ein völliger Naturmensch, ein wilder Waldessohn erscheinen kann, ein "halbfeuriggemantelter Königssohn im blühenden, grünenden Reiche".

Aber das sympathetische Gefühl für die Naturwesen geht weiter. Es wird zu einer Art von Verständniß der Entsprechungen zwischen den Dingen und den in ihnen verkörperten Ideen. Wenn er an dem Schmucke seiner Geliebten Edelstein und Perle zusammenfindet, die Perle im Ohr, den Edelstein am Busen, die Perle als aus der Thräne eines Engels, den Edelstein aus dem Blicke eines Engels entsprungen denkt, jene in den Tiefen des Meeres, diesen tief im Gebirgesschacht, und nun sie einander gegenseitig ihre Lebensschicksale beschreiben läßt, wobei zuletzt die Flamme der Wachskerze, entsprungen aus dem vegetabilischen Lebenssafte, als Fünklein göttlicher Liebesflamme den beschließenden Commentar gibt, indem es sich zeigt, daß es der Liebesengel war, welcher Perle und Edelstein hervorbrachte, weil eben er es ist, welcher alle Dinge im Weltall hervorbringt – so ist es, als ob uns darin die Hüllen der Dinge durchsichtig würden, als ob Plato selbst aus der sinnlichen Umkapselung der körperlichen Fesseln die in der Tiefe webenden Geister hervorzöge, welche die ewigen Ideen der Dinge sind.

Rückert's Poesie ist voll von jenem doppelten Blick, wonach die Naturerscheinungen niemals mit dem bloßen Auge des äußeren Sinnes, sondern immer zugleich mit einem starken poetischen Mitgefühl angeschaut werden, so daß nicht bloß ihre Oberfläche erscheint, sondern der durch Phantasie bewaffnete poetische Blick immer zugleich in ihr Inneres hineinschaut, uns ihre tiefere Bedeutung oder ihre Seele bloßlegt. Für diesen doppelten Blick der Naturanschauung gibt es nichts Todtes in der Natur. Alles lebt, Alles redet mit uns, Alles wird zutraulich, Alles weiß uns von seinen Freuden und Bekümmernissen zu erzählen. Wir werden die Vertrauten aller Wesen. Alle schmiegen sich uns an und erwerben dadurch unser gegenseitiges Vertrauen, unsere Gegenliebe. In einfachster Weise spricht sich diese Stimmung z. B. aus in der Wanderung des Dichters in ein unbesuchtes Thal. Keines Menschen Fußtritt war zum Wohnort dieser Blumen, dieser Nachtigallen noch jemals gelangt. Eine Nachtigall ergreift in frohem Gefühle über diesen ersten Besuch das Wort, im Namen Aller den Wanderer festlich zu begrüßen (II. 452).

Die Rückert'sche Poesie hat das gemein mit der Klopstock'schen, daß sie von Grund aus den lyrischen schwebenden Gang hat, und, wenngleich geneigt, von hier aus sich epischen und dramatischen Formen zuzuwenden, doch im Wesentlichen diesem Gange auf einseitige Art immer getreu bleibt. Auch erhebt sich diese Lyrik sowohl in ihrer triumphirenden, als in ihrer tiefsinnigen Stimmung nicht selten zu demselben erhabenen Psalmenton, welchen Klopstock von David's Harfe entlehnte und von da in weichere Tonarten überspielte. Dieser Ton ist seitdem der deutschen Poesie eingeimpft geblieben, nur daß Goethe und Schiller ihn mehr durch plastische Gestaltung und sinnliche Farbentiefe dämpften. Bei Rückert hingegen klingt er auf's Neue hell und scharf hervor. Es ist wie ein tiefer, nächtlicher Grund, aus welchem Licht aufquillt.

Einen nicht minder engen Zusammenhang hat Rückert's Poesie aber zugleich auch mit der der romantischen Schule. Die Gedankenfülle, das abwechselnde Spielen in den mannigfaltigsten Tonarten, der Phantasiereichthum, der Zug in's Märchenhafte, die Fähigkeit und das Streben, sich alles Fremdartige anzueignen, das grüblerische Auseinanderspinnen der Gedanken, der spielerische Humor sind Eigenschaften, welche sie als eine Verwandte der Poesie der Novalis, Schlegel, Tieck, Arnim, Brentano u. s. w. erscheinen lassen. Man hat jedoch bereits seit lange den Begriff der Romantik in seiner ganzen Fülle, wonach sich alle die genannten Eigenschaften in ihr vereinigt fanden, fahren lassen, so daß man ihn heutzutage nur noch gebraucht als Ausdruck für den mit jener Schule verbunden gewesenen kränklichen Zug eines Zurückverlangens nach verlebten und der Vergangenheit angehörigen politischen und kirchlichen Zuständen, den einzigen Zug der Romantik, welcher bei Rückert entschieden immer gefehlt hat. In diesem Sinne kann seine Poesie daher nur als das entschiedenste Gegentheil aller Romantik von Ursprung an bezeichnet werden.

Die originelle Art und Weise der Rückert'schen Poesie leuchtet besonders hervor aus seinen Antipathieen gegen andere Arten und Manieren, wodurch sich im Kontrast am Besten Dasjenige herausstellt, was er selbst immer als das Höchste gewollt und erstrebt hat.

Er haßte erstlich über Alles die breite Romanschreiberei, welche, anstatt dem Gemüthe durch Erweckung von Stimmungen erhöhter Lust- und Schmerzgefühle einen veredelnden Schwung zu verleihen, den Blick nur in zerstreuender Neugierde auf interessante und pikante Gegenstände und Zustände richtet, welche sie behaglich in's Breite malt. Die träge Ruhe, worin sich hierbei die Phantasie des Lesers befindet, welcher alle Selbstthätigkeit, aller elastische Schwung erspart wird, indem der Dichter ihr die Speise gleichsam schon zubereitet in den Mund steckt, läßt nur ein weichliches, passives Ergötzen zu, entsprechend dem Strecken der Glieder auf weichen Sophapolstern oder dem unthätigen Fahren im Wagen, wobei sich der malerische Baumschlag in wechselnder Gruppirung an uns fortbewegt, während wir selbst uns dabei aller Bewegung entwöhnen. Durch ein solches unfrisches und schlaffes Genießen, wozu die Lesewelt durch die Romanschreibung angeleitet wird, schien ihm der Sinn für die wahre Poesie, nämlich für ihren lyrischen und musikalischen Seelenschwung, wodurch sie die Phantasie des Hörers oder Lesers in selbstschöpferische Mitwirkung versetzt, ganz ertödtet zu werden.

Der zweite Gegenstand seines unversöhnlichen Hasses war das hohle Pathos. Er haßte das Pathos wegen der darin liegenden Unnatur, andere Gefühle zu heucheln, als wir wirklich haben, oder bei den Gefühlen, die wir haben, höhere Grade derselben zu heucheln, als ihnen eigen sind. Er duldete nirgends das mindeste affektirte oder gespreizte Wesen, sondern verlangte, daß, wenn auch im Leben der Ausdruck vieler nur gewollter, aber nicht wirklich zu Stande kommender Gefühle nicht verübelt werden darf, doch die Dichtkunst überall das Vorrecht strengster Wahrhaftigkeit behaupten solle, die Gefühle niemals so zu schildern, wie sie gern vorhanden sein möchten, sondern immer allein so, wie sie wirklich vorhanden sind. Damit verband sich denn auch sein Widerwille gegen alles dem Pathos enge verwandte und von ihm unzertrennliche Gezierte und Geschrobene in der Poesie.

Und weil innerhalb seiner Lyrik Rückert mit Todfeindschaft alles Pathos haßte, so ging aus diesem Widerwillen von selbst das Streben hervor, wovon er bei ihr einzig erfüllt war, das Streben nach unmittelbarer Lebensfrische und ungeschminkter Naturfülle. An seiner Poesie war ungeachtet der künstlichen Formen, die er mit Virtuosität handhabte, und ungeachtet der mancherlei exotischen und fremdländischen Gefühls- und Anschauungsweisen, in welche er sich allerdings manchmal künstlich hineingewöhnte, dennoch nichts gemacht, Alles nur gewachsen, und zwar augenblicklich gewachsen, wie durch Improvisation. Er feilte darum auch niemals nach. Jeder Knorren, der zufällig entstanden war, blieb sitzen. Er schnitt auch nichts aus. Alle wilden Ranken, welche einmal gewachsen waren, blieben hängen. Er zwang sich auch eben so wenig zu poetischen Empfindungen, als er jemals welche zurückdrängen mochte. Darum verzettelte er auch oft seine Kraft in lauter natürlichen Ergüssen, wie sie das unmittelbare Leben gebar, anstatt dieselbe in wenigeren und selteneren inneren Anschauungen zu sammeln.

So entstand dieser wilde Wald, dessen Schöpfer sich mit Stolz bewußt war, keine der sinnigen Empfindungen, welche ihn gleich heiligen Hauchen umwehen, jemals geheuchelt, ja sich auch nur zu irgend einer derselben künstlich gezwungen zu haben. So blühet hier Alles, aber es ist wie Feldblumen, die man wild gewachsen an ihrer Stelle lassen muß. Weder Gartenrosen noch Gartenlilien gibt es hier zu pflücken. Man schweift eben ganz in der Wildniß, und dem empfänglichen Leser wird gesund zu Sinne wie im frischen Naturduft und Naturhauch. Weder wird hier die Lust jemals zum Ueberdruß, noch der Schmerz zum Stoizismus, sondern beide benehmen sich als Kinder einer wildwachsenden Natur, welche, in ihrer unendlichen Entfernung von aller geschrobenen Civilisation, am Ehesten zurückerinnert an die paradiesischen Zustände, die das Alterthum als aller Kultur vorausgegangen träumte, ehe Tyrannen und Gewaltige auftraten und ehe alles Fleisch noch seinen Weg verderbt hatte auf Erden.

Diese treue Anhänglichkeit an das uralte Idyll der Menschheit war seine Stärke, sowie auch zugleich seine nothwendige Schranke. Was bei Schiller mehr als ein flüchtiger und vorübergehender Gedanke auftrat, nämlich das Idyll als das Ideal und den Höhepunkt aller Poesie auffassen und darstellen zu wollen, das war bei Rückert Grundstimmung sowohl als Grundsatz, welcher, so wie er sein Schaffen von Anfang an instinktartig beherrscht hatte, hernach bis an's Ende mit bewußter Festigkeit nur um so unerschütterlicher festgehalten wurde. Er strebte überall nur nach Versöhnung, Zähmung der Affekte, Milderung der Gefühle, Klärung des Gemüthes, und verlangte vom Dichter auch prinzipiell, daß er nichts anderes als dieses, oder doch alles Andere nur von dieser Seite her in den Kreis seiner Darstellung ziehen solle. Dieses war ihm das iranische Lichtprinzip, wofür er kämpfte. Alles Andere verwies er geradezu und schlechtweg nach Turan, unter die Feinde, die nicht zu leben verdienten, in die Finsterniß, die er mit unerbittlichem Zorne verabscheute. Damit aber wurde dann unleugbar ein nicht unerheblicher Theil starker poetischer Motive ausgeschlossen. Ausgeschlossen wurde damit aller eigentlich theilnehmende Sinn für eine gewisse vulkanische Glut des aus seinen friedlichen Angeln gehobenen Gemüthslebens, wie sie sich z. B. bei den Griechen in des Aeschylus Agamemnon und Eumeniden, bei Shakspere im Macbeth und Richard, bei uns in Schiller's Räubern und Hofmann's Phantasiestücken am Stärksten aus[671]gesprochen hat. Obgleich Rückert dergleichen Themata ebenfalls durchaus nicht vermied, vielmehr in Rostem und Suhrab, sowie auch im Herodes, geflissentlich Proben einer möglichen Harmonisirung des Unharmonischen zu geben bestrebt war, so verweilte sein Blick doch im Ganzen ungern und nur des bloßen Kontrastes wegen auf diesen Gebieten.

In Beziehung auf die Formen hat unsere Poesie durch Rückert manche mit seinen orientalischen Studien Hand in Hand gegangene Bereicherung erfahren. Er zuerst hat ihr die graziöse Form des Ghasels angeeignet. Mit unübertrefflicher Meisterschaft hat er die gereimte Prosa des Hariri, dieses treffliche Vehikel einer humoristischen Muse, gehandhabt. Aber auch die noch künstlicheren Formen der arabischen Poesie, die Verse, welche eben so wohl durch den Reim, als durch strenggegliederte Metra beherrscht sind, hat er probeweise trefflich wiedergegeben in der Hamasa und in den reichhaltigen Anmerkungen zur ersten Ausgabe seines Hariri, wie z. B. die Verse aus der schönen Kasside des Elbochteri auf die Schönheiten der Stadt Damaskus (S. 262):

Die Wolken ruh'n abendlich zerstreut auf ihrem Gebirg,
Und Pflanzenwuchs morgendlich umwuchert Felder und Wald.
Du siehest hier andres nicht, als frische Feuchte, die thaut,
Als junges Grün, welches sproßt, und frohen Vogel, der schallt.
Als ob sich abwende Sommerglut, sobald sie entbrannt,
Als ob zurückkomme Frühlingshauch, wann kaum er entwallt.

Es ist eine wunderbare Melodie in diesen arabischen Versformen. Später hat Rückert ihre Nachbildung als zu beschwerlich wieder fallen lassen und sie beim Uebersetzen meistens mit dem Alexandriner vertauscht. Aber auch dem Alexandriner selbst, welcher durch eine Modelung nach dem Französischen eine steife und zerbrochene Form gewonnen hatte, hat er durch eine schlankere und freiere Behandlung seinen ihm gebührenden Rang und die solenne Grazie, deren er fähig ist, wiedergegeben. Dabei gebraucht er den Schatz unserer reichen Sprache in seinem größten Umfange, scheut auch dabei keinesweges, sobald es sich als zweckmäßig bietet, das Ungewöhnliche.

So wie er sich dichtend seine Sprache selbst gestaltet hat nach den Zuflüsterungen der wahren Sprachgenien und nicht nach der bloßen Mode der Gewohnheit, so war es auch bei dem Accent seiner lebendigen Rede. Die deutsche Sprache wurde eine andere in seinem Munde. Den tonlosen Sylben gab er wieder eine edlere Betonung und ließ dadurch die Sprache zu einer gewissen jugendlichen Frische ausblühen, wie wir sie im Gebrauche des täglichen Lebens und seiner unedel abbrevirenden und hervorstürzenden Haft nur selten zu empfinden gewohnt sind.

Man hat über die Rückert'sche Poesie häufig die Klage vernommen, daß dieselbe zu wenig der Ausdruck des Volkslebens und seines Zeitgeistes gewesen sei, dabei auch zu wenig ihren Inhalt mit solchen geistigen Hebeln bewegt und in solche Formen gekleidet habe, wie sie dem Kulturstandpunkt ihrer Zeit hätten entsprechen können. Natürlich gehen solche Klagen nicht auf die politische Muse seiner Jugendjahre, welche eben ganz mit dem damaligen Zeitgeiste schwamm, sondern ganz allein auf seine spätere Hinneigung zu den orientalischen Studien, welche ihn allerdings in einem gewissen Sinne den gegenwärtigen Zuständen seines Volkes merklich entfremdeten. Zu beklagen ist mit vollem Rechte die nach und nach eingetretene Entfremdung; ihm aber einen Vorwurf aus ihr machen, hat gerade so viel Sinn, als dem Wasser vorzuwerfen, daß es auch dort, wo wir es lieber fest sähen, noch immer fließt, oder der Flamme, daß sie auch dort, wo wir sie lieber in Ruhe sähen, noch immer flackert. Denn Rückert konnte unmöglich anders gehen, als er ging. Er trug von Jugend auf in sich das Bewußtsein nicht bloß einer poetischen Begabung, die sich willfürlich bewegen und lenken läßt, und die gewiß Niemand geschickter zu lenken verstand, als gerade er, sondern auch noch außerdem einer poetischen Offenbarung, einer unwiderstehlichen Liebesoffenbarung der uralten, unentstandenen und unvergänglichen Religion des Menschengeschlechts, und mit einer solchen läßt sich nun einmal schlechterdings nicht handeln und markten. Bei ihr wird jeder Eigenwille, den wir uns erlauben, sogleich zur Existenzfrage. Wollen wir, daß sie vorhanden bleibe, daß sie sich in uns weiter entzünde und vermehre, so müssen wir gehen, wie sie will und nicht wie wir wollen, überall dahin, wohin sie will, und führte sie uns in die tiefsten Einöden. Rückert gibt uns das Schauspiel eines Jünglings, in dessen Geist der Blitz dieser Offenbarung frühzeitig so stark einschlug, daß er schwur, seiner himmlischen Geliebten treu zu bleiben, koste es was es wolle. Und so gelangte er denn auch bald an ihrer Hand, durch einen überaus sicheren Instinkt geleitet, mitten in ihr Vaterland, den Orient, und zwar aus dem inneren Grunde, weil der Orient die Geburtsstätte aller Religionen und folglich auch der eigentliche Ursitz jener unentstandenen Religion ist, welche sich ihm im Innern seiner Seele offenbart hatte, und nach welcher er fortan seinen poetischen Wanderstab unermüdlich richtete. Ob er sich mit diesem Suchen und Forschen seinem eigenen Volke allmälig immer mehr entfremden würde, dieser Skrupel konnte ihm dabei am Wenigsten in den Sinn kommen. Strebte er doch nach nichts, als nach der Uroffenbarung des göttlichen Lebens auf Erden. Sollte er denn sein eignes Volk, sein Fleisch und Blut, für ein gottentfremdetes ansehen? Oder sollte er, falls er wirklich in Gottentfremdung versunken war, sich auf seine Seite schlagen gegen Gott? Das Eine lag ihm eben so fern als das Andere, und daher konnten solche Reflexionen niemals auftauchen. Er war sich vielmehr einfach und ruhig bewußt, ob verstanden oder unverstanden, für die große Sache der Höherbildung seines Volkes tapfer mit einzustehen als einer der redlichsten und freimüthigsten Kämpfer.

Rückert's Poesie gehört nicht mehr der klassischen Epoche an, welche in der Vollendung mustergültiger Werke das Endziel erkannte, wonach sie rang, und das von unseren großen Klassikern zuletzt auch mit ungetheiltem Beifall erreicht wurde. Rückert's Muse hat vielmehr einen in die Zukunft schauenden prophetischen Charakter, zufolge dessen die Sorge um die klassische Vollendung eigener Werke ihr entschieden zurücktrat gegen die Interessen der großen weltgeschichtlichen Kämpfe Irans gegen Turan, um derentwillen die Menschheit lebt, und in welche er sein Volk als einen der wesentlichsten Träger derselben mitverflochten erblickte. Er fühlte sich nicht mehr gleich den klassischen Dichtern als eine seinem Volke gegenüberstehende Einzelperson; er fühlte vielmehr die tiefsten Instinkte des deutschen Volkes in seiner eigenen Seele sich entfesseln, vor Allem den urgermanischen Instinkt nach Erweiterung des Gesichtskreises. In seiner Seele begann das deutsche Volk zu fühlen, daß es so lange noch nicht völlig bei sich selbst zu Hause ist, als es sich nicht in seiner geistigen Urheimat, dem Orient, auf's Neue vollkommen heimisch zu machen weiß; in seiner Seele begann es zu fühlen, daß es, um auf die Höhe der Menschheit zu gelangen, unumgänglich zuvor seinen eigenen Geist zum Geiste der ganzen Menschheit erweitern muß; in seiner Seele begann es zu fühlen, daß das Christenthum in seinen bisherigen verhüllten und verschleierten Gestalten nur der grundlegende Anfang gewesen ist zur Entfaltung eines entschleierten und unvergänglichen Christenthums, welches in Zukunft die entzweiten Geister versöhnen, die Gefesselten aus ihren Banden erlösen soll. War das verschleierte Christenthum nur die erste im Occident anlangende frohe Botschaft aus dem fernen noch unverstandenen Osten, so hat das entschleierte Christenthum die Bestimmung, die Urquellen aller Religion an Ort und Stelle aufzugraben und in den vollen Besitz Dessen zu gelangen, mit dessen bloßer Nutznießung sich das verschleierte oft kümmerlich genug hatte behelfen müssen.

Daher sein Heißhunger im Aneignen immer neuer Stoffe, welche sämmtlich in sein eigenes Schaffen mit übergingen, vollständig Theile seiner selbst wurden; daher diese Rastlosigkeit im Erobern immer neuer Provinzen im Gebiete orientalischer Völkerliteratur, im Aufschütten immer neuen Kornes auf die große Mühle in überschwenglichem Reichthum, in unerschöpflicher Fülle. Dieses Alles hätte nicht so stattfinden können, wäre nicht sein persönliches Selbstgefühl ganz nur im Gefühle von der hohen weltgeschichtlichen Aufgabe seines Volkes aufgegangen und absorbirt gewesen. Daher wird freilich sein ganzes Treiben und Schaffen für alle Diejenigen immer etwas Seltsames und Unverstandenes behalten, denen dieser weltbewegende und schicksalschwangere Glutheerd eines welthistorischen Nationalgefühls fremd ist, obgleich sie dabei immer noch recht gute Patrioten im partikularistischen Sinne des Wortes zu sein vermögen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Über Land und Meer.
Allgemeine Illustrirte Zeitung.
Jg. 9, Bd. 18, 1867, Juli, Nr. 42, S. 670-671.

Ungezeichnet

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


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Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Bobzin, Hartmut: Friedrich Rückert. Der 'orientalische' Dichter und Philologe. In: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Mark-Georg Dehrmann u.a. Bern u.a. 2010, S. 65-82.

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Literatur: Über Land und Meer

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Barthold, Willi W.: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien. Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2021.

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Dussel, Konrad: Bilder als Botschaft. Bildstrukturen deutscher Illustrierter 1905-1945 im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Publikum. Köln 2019.

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Podewski, Madleen: Mediengesteuerte Wandlungsprozesse. Zum Verhältnis zwischen Text und Bild in illustrierten Zeitschriften der Jahrhundertmitte. In: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885. Hrsg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling. Berlin 2016, S. 61-79.

Rasch, Wolfgang: "Vielleicht ist dies nur eine träumerische Schrulle von mir". Zehn Briefe von Karl Emil Franzos an Eduard Hallberger und die Redaktion von Über Land und Meer aus den Jahren 1874 und 1875. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 6 (2004), S. 17-37.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer