Otto Banck

 

Das Versinken unserer Lyrik in dilettantische Spielerei.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

[241] Von jener Lyrik zu reden, deren Schöpfungen nur im Erguß subjectiver Lieder und Stimmungsaussprachen bestehen, dürfte kaum der Mühe werth sein. Der Begriff der Lyrik ist im weitesten Sinne zu nehmen und hat in gebundener Rede alle Schöpfungen zu umfassen, in denen sich das ganze Gefühls- und Ideenleben der Zeit zum kurzen poetischen Ausdruck gipfelt. Mit Ausschluß von Epos und Drama gehören Hymne, Ode, Elegie, Idylle, Romanze, Ballade, Legende, Epistel, didactisches Gedicht, Spruchgedicht, Xenie, Epigramm, Allegorie, Fabel, Parabel, Pyramythie, Singspiel und Operette alle zu diesem vielseitigen und mächtigen Gebiet. Nur die beiden letzteren stehen schon der Form nach mit einem Fuße im Felde des Dramas, während die Ballade und Legende bei größerer Ausdehnung und reicher Composition zum Epos hinüberleiten können. Die Dichtungen von Göthe und Schiller enthalten so ziemlich alle Genre der Lyrik, denn je größer der Genius, je mannichfaltigere Töne wird seine Muse entfalten, – baut doch der erste und zweite Theil des Faust das ganze tausendstimmige Seelenorchester der Lyrik in einem großen [242] phantastischen Zwischenreich poetischer Kunstformen auf. Wo bleibt für den Schulmann die Klassification und wo für den Schaffenden ihre Beschränkung!

 


 

Sobald man die neueste Lyrik der Franzosen und Engländer unbefangen betrachtet und endlich gegen Das nicht verblendet ist, welches der heutige Tag in Deutschland auf dem lyrischen Aehren- und Distelfelde emporwachsen läßt, – so kann man sich die Wahrnehmung nicht verhehlen: daß die Lyrik zwar der Quantität nach durch die Unzahl von unberufenen Dichterlingen und albernen Dilettanten in der Zunahme begriffen ist, der Qualität nach aber seit zwanzig Jahren in einem immer fortschreitenden Verhältniß abwärts sinkt. Ihre Leistungen werden stets kleinlicher, ideenärmer, leidenschaftsloser und reproductiver.

Das erste Viertel oder Drittel des neunzehnten Jahrhunderts war noch reich an hervorragenden Lyrikern. An Rückert, Uhland, Chamisso, Hölderlin, Platen, Eichendorf, Wilhelm Müller, die zum Theil noch sehr direct zur eigentlich klassischen Periode gehören, reihen sich dann Namen, wie die folgenden an, von denen manche ebenfalls eine zweite klassische Epoche für die deutsche Lyrik bezeichnen: Lenau, Heine, Mosen, Herwegh, Möricke, Hebbel. Ja wenn wir selbst diese Reihe noch durch Talente wie Fallersleben, Prutz, Geibel, Beck, Freiligrath, Bodenstedt, Grün, Pfarrius, Storm, Kinkel, Meißner, Schwab, Peters, Reinick, Fontane, Scheuerlin, Lingg vermehren, – wie tief ist hierauf der Abfall zu den Lyrikern der jüngsten Generation!

Woher kommt dies? Werden weniger begabte Talente geboren als sonst? Ich glaube nicht.

[243] Der Grund liegt tiefer, liegt im Charakter der Zeit und des Publikums selbst.

Es fehlt den neuesten Lyrikern mit einem Wort die volle, frohe Begeisterung des Schaffens und das erhebende Gefühl, daß auf die Art dieses Schaffens der Welt etwas ankomme und die Menschheit ihre lyrische Schöpfung als einen Factor betrachte, der in ihrer Lebensentwickelung mitzählt und in ihr Herz eingreift. Statt dessen müssen sie mit Betrübniß wahrnehmen, daß beim Publikum die Lyrik ganz außerhalb der wahren, warmblütigen Daseinsinteressen steht und zur Charge eines müßigen Privatvergnügens degradirt ist. Es könnte jetzt ein Poet Gedichte schreiben, so schön wie die vollendetsten unserer klassischen Periode, und sie würden bei weitem nicht so viel Effect machen, wie das gute Buch irgend eines mittelmäßigen, aber wohl unterrichteten Kopfes über Kulturgeschichte oder Politik, ja nicht, einmal so viel wie eine instructive Brochüre über die beste Düngungsmittellehre. "Was kümmern uns die Götter Griechenlands!" rief ein Negeranführer aus, als ihn ein Abolitionist durch mythologische Beispiele zur Geduld beruhigen wollte. Ohne eine Negerbildung zu haben, ruft mehr oder weniger unser ganzes Zeitalter: "Was kümmern uns die Götter Griechenlands!" d. h. "Wo nehmen wir bei unserer harten Tagesarbeit und bei unserer mit nervöser Hast auf praktische Erfolge gestellten Lebensansicht die Muße her, uns mit Ernst für Dinge zu interessiren, die deswegen nur poetische Spielereien sein können, weil sie keine einträgliche Geschäftssache sind!" Unsere im Realen angestrengte Zeit, die es allerdings mit der Lösung von wichtigen materiellen, socialen und politischen Lebensfragen zu thun hat, will ihre müßigen Stunden nur noch stofflich literarischen Unterhaltungen widmen, um so mehr, da sie sich der idealistischen Sphäre fast ganz enthoben fühlt. Daher feiern die [244] abenteuerliche Novelle und der spannende Roman jetzt ihre Herrschaft, und viel leichter wird es noch dem modernen Drama als der Lyrik gelingen, das Publikum zu fesseln. Es ist natürlich, denn während diese ganz auf die bereitwillige, weihevolle Stimmung und die nachhelfende Einbildungskraft des Lesers angewiesen ist, macht sich die dramatische Leistung selbst eine Stimmung und greift der Phantasie des Genießenden kraftvoll unter die Arme: ist doch dieser kein Leser sondern ein Zuschauer, d. h. eine Person, die den bestechlichen Ueberredungen von sinnlich wahrnehmbaren Dingen, als da sind: Coulissen, Costüme, lebendige Personen, fortwährend ausgesetzt bleibt. Der Romanschreiber gebietet zwar nicht über diese, den figürlichen Effect stützenden Requisiten, aber er legt eben heut zu Tage die geistigen Effecte so grob an und reicht der Phantasie des Publikums so aufregende Mittel, daß es weniger eine Arbeit als ein sinnliches Vergnügen wird, sich das in sehr lebendigen realistischen Vorstellungen nachzuconstruiren, was die Willkür des Dichters vorschreibt. Und noch eins: diese Arbeit wird für die Einbildungskraft des Lesers dadurch erleichtert, daß es dabei in der Regel auf ästhetische Schönheit, auf Grazie, auf geschmackvolle Ausführung, auf zarte Farbe und feine Contour nicht ankommt; wohl aber werden diese Eigenschaften bei der phantastischen Auffassung und Nachempfindung einer wirklich idealen, edlen Lyrik verlangt. Der Romanleser kommt gewöhnlich damit aus, sich von dem Geschilderten ein Bild in grellen Farben und gewöhnlichster Zeichnung zu entwerfen, gerade so, wie es die gemeine Wirklichkeit täglich darbietet und wie es jeder Gehirnthätigkeit leicht wird, zu erschaffen.

Weil es für die ungebildete oder vielbeschäftigte Menge eine harte Aufgabe ist, sich zu den Werken erhabener Dichter die richtigen Vorstellungen zu entwerfen, so erklärt sich zugleich, daß dramatische [245] Producte wohl Zuschauer, aber sehr wenig Leser hoben. Ja von Shakespeare's Dramen kann man im Verhältniß zu der Popularität, die sie genießen, annehmen, daß sie beinahe gar nicht gelesen werden und dem großen Kreise nur von der Bühne her in einzelnen Stücken bekannt sind. Auch die Dichtungen von Lessing, Göthe und Schiller lesen mit Ausnahme von Fachmännern fast nur noch Jünglinge und Jungfrauen, so lange diesen die Fähigkeit idealistischer Seelenhingabe, wahrer Sentimentalität und reproducirender Phantasie noch nicht durch das praktische Leben abhanden gekommen ist.

Auch für die Lyrik bildet vorzugsweise die Jugend und die Frauenwelt das Auditorium; doch kann auch diese Dichtungsgattung dadurch nicht vor dem Verfall gerettet werden, denn nicht nur eine einzelne Leserklasse oder ein bestimmtes Lebensalter, sondern die gesammte Generation muß sich für Kunstleistungen erwärmen, wenn diese durch den allgemeinen Sammelstrahl des Zeitinteresses zu kraftvollem Wachsthum, zu nationaler Größe emporgetrieben werden sollen.

Bei dem Mangel an solcher Theilnahme besteht unsere jetzige Lyrik aus Mimosen, Sinnblümchen, Schlingpflanzen von mehr oder weniger niedlichem oder abgeschmacktem Gerank, und das gilt nicht blos für Deutschland, sondern, wie ich schon bemerkt habe, auch für England und Frankreich. Die schwedische, dänische und holländische Literatur theilt mit den genannten stets dieselben Zeitkrankheiten, und von einer spanischen und italienischen kann man nicht viel reden. Spanien stirbt vielleicht leiblich noch rascher aus, als der Parnaß der modernen europäischen Lyriker, und Italien blüht zwar materiell und pflanzt sich fort ohne Nachlaß sinnlicher Zeugungskraft, aber es hat nicht mehr wie ehemals eine ideale literarische Stimme, durch welche es in dem Hörsaal allgemeiner Weltkultur mitreden könnte. Sobald es politisch gereift und erstarkt ist, wird sich ihm die [246] Zunge vielleicht noch einmal lösen. Die Literatur Amerika's und wesentlich seine poetische ist durchaus das Echo der englischen, deren Ton nur an den transatlantischen Felsen und auf den weiten Prairien zu anderen Klangwirkungen gebrochen ward.

Und wenden wir uns in einigen Gesichtspunkten speciell der deutschen modernen Lyrik zu, so gesellen sich zu den schon erwähnten Hindernissen noch andere Uebel, um dem siegreichen Durchbrechen des tüchtigen Schaffens das Leben abzuschneiden oder wenigstens schwer und unerfreulich zu machen.

Vor Allem gehört dahin die bereits beim Roman erwähnte Verschlechterung des modernen Geschmacks, sowohl bei den Poeten als beim Publikum, eine Schule, die auf das hier so nachtheilig wirkende Princip des gegenseitigen Unterrichts begründet ist. Die Leser haben sich gewöhnt, entweder süßromantische Sentimentalitäten oder pointirte Pikanterien voll künstlich aufgestachelter Leidenschaft zu genießen, oder sie sind vielmehr von dem Gang unserer Literatur und von einzelnen Persönlichkeiten derselben zu dieser Lectüre gewöhnt worden. Statt nur zu bringen, was Jeder seiner Natur nach im Innern birgt, ist es auch in der Lyrik von Seite der Schaffenden, wenn man unselbstständige Individuen so nennen kann, zur schwachsinnigen Mode geworden, zu fragen: was dem Publikum wohlgefallen und ihm seinen allerhöchsten Beifall abnöthigen möchte? In der Musik und Malerei, von der Plastik gar nicht zu sprechen, findet derselbe sclavische Unfug statt, und so dichtet, componirt, modellirt und malt gar Mancher etwas ganz Anderes, als sein innerer Trieb eigentlich verlangt. Das Publikum würde sich aber viel besser dabei stehen, und sich auch vielmehr dabei erbauen, wenn man ihm nicht sowohl brächte, was man für begehrt, als was man für begehrungswürdig hält. Nicht der Essende, sondern der geschmackskundige Koch [247] ist befähigt, Gerichte zu erfinden, und die Freuden der Tafel zu arrangiren. Die feinsten und edelsten Genüsse sind nicht der Zunge der Welt anempfunden, sie sind ihr octroyirt. So auch im geistigen Gebiet.

Es fühlt sich heute in der Dichtkunst Jeder ungemein berufen, den nicht die Befähigung, den nur der Drang der Eitelkeit beruft. Ohne es sich selbst klar zu machen – denn er hütet sich wohl, sich etwas Demüthigendes zu gestehen – sagt es ihm unbewußt zu, daß die Lyrik in Süßlichkeit versunken ist, daß sie das Gedankenmark und die Gefühlskraft verloren hat, und man sogar in der halbgebildeten Gesellschaft oft so thut, als gehöre das Höchste aller Kunst eigentlich gar nicht in ihren Kreis. Mit Sympathie und innerer Sättigung fährt nun der junge Dichter fort, auf diesem seichten Wege durch den Nürnberger Spielzeugpark moderner Lyrik weiter zu schreiten und wie ein krankes träumerisches Heimchen zirpt er auf jedes grüne oder welke Blatt im Mond- und Sonnenschein ein schmachtendes Liedchen. Zwischen dem abgethanen, nicht mehr in der Mode florirenden, großmäuligen Weltschmerz, und der kleinen persönlichen, allerneuesten Wehmuth mitten inne stehend, fühlt er sich schon in seinem dreißigsten Jahre ein Greis, beklagt seine verlorene Jugend und Lebenslust, "Kann nie beglücken mehr ein holdes Mädchen," aus dem Leser unbekannten Gründen; beklagt einige Male Deutschland in patriotischen Seufzerphrasen, dichtet bei friedlichem Thee und Zwieback noch einige pikante Berliner "Hurrahlieder," daß alle Franzmänner vor Schreck auf die Rückseite fallen; thut ein paar langbeinige Schritte in die deutsche Vergangenheit, stattet dem alten Barbarossa im Kyffhäuser einen aufdringlichen Besuch ab, und geht dann plötzlich, nachdem er dem Jugendleid, dem Liebesschmerz und der Vaterlandsliebe genug gethan, in ein gemüthliches Thema über. [248] Er läßt nun entweder einige stumpfe Epigramme hören, singt ein paar naive Kinderlieder und contemplative Frühjahrsempfindungen, worin das Veilchen und das Maiglöckchen Zwiesprach halten, oder er wird gar humoristisch, sei es in der spießbürgerlichen Ballade oder im abgedroschenen Trinklied. Natürlich kommt ihm das Alles nicht schwer an, denn die Mühle der Rhythmen und Reime klappert ihm Tag und Nacht im Kopfe und ist wie eine andere Mühle, die man nach allen Richtungen wenden kann. Er braucht ihren lyrischen Schnepper blos auf irgend einen Gegenstand zu stellen und das Dichten beginnt: lauter äußerlich glatte Verse, wie sie jetzt bei fortgeschrittener Formbildung zwischen Tertianern und Institutbackfischen nicht anders gewechselt werden. So wird ein lyrischer Band nach dem andern fertig, aber der Dichter selbst wird immer unfertiger und werthloser und doch wäre er vielleicht in anderer Branche ein ganz nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft, etwa ein sehr begabter Frauenschneider, Kaufmann, Militär oder Beamter geworden.

Ich weiß nicht, welcher moderne Lyriker es ist, der uns immer mit Resignation von der Schwere seines Kopfes erzählt, weil ungemein viel Gehirn in seinem Schädel sitze; ein Anderer spricht über sein großes abnormes Herz, und spielt dabei nicht etwa auf die Krankheit der Herzenserweiterung, sondern auf die übermenschliche Macht seines Gefühls an; ein Dritter versichert, ihm sei alles Irdische gleichgültig, er habe nur den einen heiligen Drang, fortwährend seine Leyer ertönen zu lassen, denn so viel Schmerzen und Freuden, so viel Lieder gebe ihm Gott der Herr, und ein Vierter entwirft uns endlich eine ideale Selbstbiographie, indem er sich den Vertheidiger alles Hohen und Schönen, den begeisterten Anwalt des Lichtes nennt.

[249] Wenn aber der gemißbrauchte Leser so naiv ist, ein wenig von diesen Versicherungen zu glauben und die Bücher mit hoffnungsvoller Erwartung auf das Verheißene durchliest, so gleicht er dem Zuschauer in der Berliner "Aalbude". In Bezug auf die unwissenschaftliche Volksmeinung, daß der Aal ein lebendige Junge werfendes Säugethier sei, hatte nämlich ein Speculant gegen mäßiges Entrée eine Aalmutter angekündigt. Die zahlreichen Wißbegierigen sahen aber nichts weiter als einen gewöhnlichen Aal in einem Wassernapfe und auf die ungeduldige Frage nach den jungen Aalen, erfolgte die Antwort: daß es diese ja eben seien, worauf der Aussteller warte.

Dieser glatten Aalmutter gleichen auf ein Haar jene Gedichtbücher, deren Verfasser nur lächerliche Täuschungen erregen, da sie keine ihrer phrasenreichen Versprechungen erfüllen. Die Lieder eines solchen, von der modernen Reimseuche befallenen Gecken, der mit dem alten von Eitelkeit aufgeblähten Ziegenschlauch seiner Seele als persönlicher Dudelsack einhergeht, erschallen jetzt auf allen Straßen, und die "geliebten Leser" und "schönen Leserinnen" sind nachsichtig genug, zu glauben, da es Lieder ohne Worte giebt, so müßten Lieder ohne Gefühl und Verstand für eine noch bessere Errungenschaft gelten können.

Wäre unser gegenwärtiges Publikum ein wenig gesünder und den tieferen Interessen der Kunst von Herzen zugethaner, so könnten solche flache Stümpereien nicht so viel Theilnahme oder Schonung finden, ja sie würden überhaupt gar nicht in so großer Anzahl existiren. Ihre Verfasser mischen sich als vorlaute Laien in Dinge, die über ihren Horizont gehen, der so eng ist, daß sie ihn mit der Nasenspitze beschreiben, wenn sie auf dem Absatz ihrer Beschränktheit herumdrehen und glauben, die ganze Welt drehe sich mit.

[250] Wer die tausend Phrasen beobachtet hat, die in unserer mechanisch ausgearbeiteten Kultur bereits in ganzen rhythmisch fertigen Stoßseufzern wie gebratene Tauben in der Luft herumfliegen und mit Messer und Gabel darin Jedem auf den lyrischen Bettelteller fallen, der so gut sein will, ihn hinzuhalten, – wer diese abgeleckten Redensarten kennt und damit unsere neueste Lyrik, mit und ohne Goldschnitt, zusammenhält, wird finden, daß sich die Verfasser wesentlich in zwei Gattungen eintheilen lassen. Die eine spricht das Längstbekannte noch einmal einfältig und mit unerschütterlicher Naivetät aus. Was machen aber die andern, ebenso simplen, doch eitleren und dabei gewandteren Poeten? Sie sagen ganz dasselbe, aber sie sagen es mit geschminkten Reden, mit verdrehten Satzbildungen, mit erheuchelten Blasirtheiten und lispeln mit ihren Worten einen andächtigen Seufzer, während sie mit ihren Versfüßen einen verlockenden, von allen Gouvernanten verpönten Tanzpas schlagen. So erzielen sie eine Wirkung, befriedigen die Frommen dieses "dunklen Jammerthals" und zugleich die üppigen Welktkinder dieser "sonnigen Maienflur." Im Grunde aber haben beide Theile ihre neuen Gedankenpuppen doch nur mit dem Mottenwerg des alten Inhalts ausgestopft.

Wer ist nun der ehrenvollere Theil? Ich stimme für die frugalen Wiederkäuer, bei denen die immerhin ehrwürdige Andacht der Blödsinnigen vermuthet werden darf, während die andere Partei in der Regel einen affreusen Mummenschanz mit sich und der Welt treibt. Und wenn ich das kleine und große lyrische Einmaleins doch immer wieder abgedruckt erblicken soll, so kann es mir Niemand verdenken, wenn ich mich freue, es nicht auch noch in Musik gesetzt zu sehn, oder mit Illustrationen verziert.

Für Alle, welche den unwiderstehlichen Drang fühlen, unsere [251] lyrische Makulatur durch Weihnachtsgeschenke für sinnige Leser und Leserinnen zu vermehren, theile ich hier, da sich die jungen Dichterlinge doch zunächst an den Frühling und dessen Kräuter halten werden, ein Frühlingslied als Recept mit:

Wie ist der Maienduft so duftig,
Wie ist der blaue Himmel blau!
Wie weht die Morgenluft so luftig,
Wie lacht so grün die grüne Au!
Zuerst kommt nun das liebe Veilchen,
Es blüht so still und riecht so schön,
Und wieder in ein kleines Weilchen,
Da werdet ihr die Rosen sehn.
Die Lerchen singen, und die Staare
Ergeben sich der Heiterkeit, –
Der Lenz ist doch im ganzen Jahre
Die allerangenehmste Zeit!
Und stets im Frühling kommt er wieder
Mit seinem leichten Zephyrtritt,
Es bringt der Lenz uns schöne Lieder
Und wie gesagt auch Rosen mit.
Die Ros' ist doch die schönste Blume
In Form und Farbe und Geruch,
Wie hat der Mensch zu ihrem Ruhme
Gedichtet schon so manchen Spruch!
Und da ich, Rosa, dich gepriesen,
Mein Mund nun auch die Bitte spricht:
Spazierst du hin auf keuschen Wiesen,
O Leserin – vergiß mein nicht!
Wer hätte nicht in seinem Leben
Ein blaues Auge gern gesehn! u. s. w.

Ein solches Gedicht kann man bogenlang fortsetzen, es bleibt immer harmonisch, denn es trägt die Wahrzeichen der neuesten Dutzendlyrik an sich: Ohne Nachtheil für die Gesundheit des Lesers bietet es die Vortheile einer Wurst, man darf sie anschneiden, wo [252] man will, Inhalt und Geschmack sind überall gleich gut; endlich kann man es auch rückwärts vorlesen, oder wenigstens einzelne Strophen nach Belieben umstellen, ja sogar statt ihrer unbeschadet des schönen Ganzen andere approbirte Zeilen, von Hölty bis auf Geibel, aus Albums und Stammbüchern hineinsetzen.

 


 

Wer indeß zu einem wirklichen Lyriker Beruf zu haben glaubt, der mag zunächst bedenken, daß aller Inhalt des in der Kunst Geschaffenen vom Dichter in der Wirklichkeit durchempfunden sein muß. Reine Illusionen in der Poesie gleichen den phantastischen Schilderungen vom häuslichen Treiben der Mondbewohner. Diese zahlreichen Faseleien haben keine Lebensberechtigung, weil sie keine Lebensfähigkeit, keine reale Wahrheit in sich tragen. Es kann damit nicht gemeint sein, der Dichter solle die dargestellten Facta speciell erlebt haben: es ist nur nöthig, daß er durch ähnliche Vorfälle und Zustände, durch Parallelstellen, welche das Menschenherz berühren, von gleichartigen Empfindungen bewegt wurde. Was er uns giebt sei ein Stück seines Lebens, indem es ein durch die Kunst objectiv gemachtes Spiegelbild seiner inneren Schmerzen, seiner Geisteskämpfe und Seelenfreuden ist, von denen er sich durch die Poesie erlöst.

In der Lyrik ist die Erfüllung dieses Gesetzes am nothwendigsten, weil die Lyrik die einfachste, ursprünglichste Gattung der Dichtkunst bildet. Sie erlaubt am wenigsten eine fremde, außerhalb des Subjectes liegende Zuthat, indem sie die Elemente zu allen anderen Dichtungsformen in ihren Keimpunkten rein und ursprünglich in sich trägt. Wer das Talent zu einem großen Lyriker hat und es zur Geltung bringen will, muß sich der directesten, naturwahrsten Empfin[253]dung und dem ganz selbstständigen, persönlichen Denken hingeben können, muß ein Originaldenker sein. Denn diejenige Gefühlswelt, welche allen empfänglichen Gemüthern durch ihre oft betretenen Bahnen gemeinsam zugänglich ist, und dasjenige Gedankenleben, welches als ein philosophisches Präparat außerhalb einer bestimmten Persönlichkeit liegt und sich als eine geistige Vereinsmünze bereits in den Händen der Intelligenz befindet, wird in der Lyrik nie eine Wirkung hervorbringen. Die Lyrik verlangt, mehr als jede andere Art der Poesie, Darstellung des Individuums, weil man über ihre kurze, auf Stimmungen basirte Rede den Sprecher noch weniger als in einem großen, vielseitigen Werke vergessen kann. Ist das Individuum von geistiger Bedeutung, so wird es ganz von selbst die Macht der allgemeinen Wahrheit und Schönheit offenbaren, befestigen helfen und somit verherrlichen. Stellt aber ein Lyriker das Allgemeine als einen ihm von der Welt überlieferten Bildungsstoff dar, erhebt er es nicht mit seiner eigenen Geisteskraft aus dem Besonderen, so wird es Niemand gelingen, sich aus diesem generellen Eindruck den des lyrischen Individuums zurückzuconstruiren.

Alle Lyriker, welche ein so verschwommenes Resultat herbeiführen, verdienen eigentlich nur den Namen höherer Reimschmiede, denen es in ihrer sich selbst täuschenden Anempfindung ein wohlthuendes Vergnügen ist, nicht im Reiche ihrer eigenen Production, sondern in dem der Production Anderer spazieren zu gehen und poetische Wilddieberei zu treiben.

Allerdings ist die Lyrik auch das zeitraubendste Gebiet der Production in Bezug auf künstlerische Formvollendung. Die Zeit, welche die besten Lyriker der Welt auf die Ausarbeitung ihrer Gedichte verwandt haben, würde sich im Verhältniß zu ihren anderen Schöpfungen als das größte Opfer ihrer Lebenskraft herausstellen. [254] Es ist eine Gigantenarbeit, bei welcher nur der innig Begeisterte, der in seinen Gegenstand selig Versunkene bis an's Ende ausharren kann, ohne erwachend zu zählen die Verluste des großen Zeitkapitals, für die, auch pecuniär betrachtet, niemals ein Ersatz eintreten kann. Diese Resignation fordert die Hingabe eines Jünglings, sowie die ganze Macht eines männlichen Geistes.

Es ist natürlich.

Ein Buch, in dem ein paar hundert kleine Kunstwerke vorhanden sein sollen, muß ein paar hundert Mal die ganze Kraft des Vollendungstriebes und den Aufwand aller Künstlertechnik in Anspruch nehmen. Die völlig harmonische Abrundung und Herausbildung eines Gedichtes zieht sich gewöhnlich durch eine Reihe von Jahren hindurch. Lediglich unwissende Dilettanten, zu denen die meisten Lyriker zählen, sind der Ansicht, daß graziöse Leichtigkeit nur auf den ersten Wurf zu erreichen sei. Die holdesten Zauber, die süßesten Reize, welche in jenem Elemente spielender Anmuth jemals gewoben sind, wurden oft vom Dichter am langsamsten und mühevollsten herausgearbeitet. Es ist aber der Grund der schönen Täuschung der, daß beim wahren Genius alle Arbeit zum Schaffen wird und man keine Mühen bemerkt. Beim gewöhnlichen Talente bleiben diese wie Schweißtropfen am Producte haften. Kleine Kräfte gewinnen durch weitgetriebenen Fleiß eine winkelrechte, solide Schulmäßigkeit, verlieren aber oft, was dem flüchtigen Leser für poetisch gilt: üppige Bilderüberladung; jugendliche, aber vollblütige Unreife; bengelhaften, aber frisch erscheinenden Anlauf gegen die gute Ordnung der Gedankenwelt.

Ist dieser Verlust ein Vortheil? Ja. Für den Einzelnen, für das niedere Talent nicht, aber für die Majorität, für das Publikum, welches nun sogleich weiß, wen es vor sich hat.

[255] Mehr noch ist bei höheren Talenten jener Kunstfleiß zu wünschen. Hier gewinnen beide Theile, auch der dichtende, denn dessen Productionskraft liefert einen Stoff, der nicht unter der Hand der Technik zur leeren Hülle wird. Die strenge Selbstkritik schafft hier durch Kürzung, Correctheit und geläuterten Kunstgeschmack unberechenbare Segnungen.

 


 

Noch möchte ich der politischen Lyrik eine Hindeutung widmen. Nur Mißverständniß und die dem Leben abgewandte Schulästhetik konnte zu dem Irrthum kommen, jener Lyrik die Existenzberechtigung abzusprechen. Die stolzen Freuden des Patrioten, die Kämpfe um die gesellschaftliche Aufklärung, die Leiden des bedrückten Braven zu besingen und die heiligen Rechte des Volkes laut zu fordern, das werden so ewig jugendliche als rein menschliche Themen bleiben.

Und mehr als das.

Wenn man fragt, wer der Jugend dankenswürdiger sei, Derjenige, welcher sie in Wissenschaften, Moral und schönen Künsten unterrichtet, oder ihr Fechtlehrer? So ist zwar diese Fassung einseitig, doch läßt sie sich nicht immer zu Gunsten der ersteren Frage beantworten. Wohl darf man zuweilen sagen: der Fechtmeister, sofern er ein Lehrer und Erzieher der männlichen Ehre und muthigen Energie ist. Es gab Zeiten der behaglichen Stagnation und der Vaterlandsgefahr, wo jene Energie der vorläufig wichtigere Theil war, denn die Stütze des politischen Selbstgefühls ist im äußersten Fall nicht die gefesselte Kraft, sondern die entbundene That.

Die Lyrik ist vorwaltend die Sprache der Empfindung, nicht nur der individuellen, auch der Völkerempfindung, und als solche [256] wird sie sich in Zeiten innerer Bewegungen und wichtiger Veränderungen immer geltend machen.

Es ist eine oft wiederholte Ansicht, daß die echte, einzig lebenswahre politische Lyrik erst mit der That erblühe. Grundfalsch. Ein bedeutender Dichtergenius ist zugleich der Vorahner, der Prophet der Zukunft. Dem bloßen Talent fällt die einseitige Mission zu, die Thaten zu begleiten mit ihrem Lied, wie der Trommelschläger den Sturm der Colonne. Dieses poetische Geräusch kann zu einem sehr begeisternden Schlachtruf werden. Theodor Körner's Gesänge beweisen dies in schönster Art. Die wahre politische Ode im großen, beispielerweckenden, reformatorischen Heldenton des sittlichen Geistes war jedoch schon vorher von Schiller gesungen, und die Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts, welches sein Seherblick nur kurze Zeit begrüßte, hat seinen Werken erst noch gerecht zu werden.

Zuweilen ist aber auch die geistige Strömung brütender Ideenfülle so mächtig und reif im Zeitgeist, daß sie keines so allseitigen Genius bedarf, um durch ihn in Worten frei zu werden. Georg Herwegh unter Anderen, und zwar wesentlich er, wurde von seiner Zeitepoche zu einer solchen Mission auserwählt. Wohl war er reich begabt, denn das in Tausenden wach gewordene gemeinsame Völkergefühl spricht sich in der Poesie nicht durch Kinder und Unmündige aus. Doch Herwegh war kein Poet von umfassender Seherkraft; er fühlte sich verpflichtet, doch nicht tief angeregt, noch mehr zu reden, und glich so einem durch allgemeinen Regen gebildeten Bergquell: er floß noch fort, nachdem sich das Wetter geändert hatte, doch schwächlich, seicht und bald verendend. Aber was ihm Anfangs die Zeitfluth zugeströmt hatte, was er auserwählt war, zu sagen, wird groß, wird bedeutend bleiben, eine vorklingende Chorstimme des Ganzen.

[257] Einen solchen lyrischen Aufschwung in der sogenannten politischen Poesie werden wir wieder erhalten, nur anders gefärbt, vertiefter in den Begriffen und frei von dem hohlen Pathos, welcher die in das Asyl der Phrase geflüchtete Opposition kennzeichnet. Viel der Vorhänge sind vom Welttheater hinweggezogen, und dunkle Visionen lichten sich zu klaren, realen Gemälden.

Doch warten wir diese Zeit politischer Liederfluthen ruhig ab. Einstweilen findet nicht jede voreilig geblasene Trompete die Mauern von Jericho; die Kappe der Partei wird aber auf jedem Dichterhaupt nur zu leicht eine Narrenkappe werden, sehr weit von der Märtyrerkrone verschieden, die der Opferdienst für die geistige Befreiung und Verklärung des Vaterlandes verleiht.

Der wahre Patriotismus, der über alle vorgängliche politische Tendenzen weit hinausragt, liegt für den Dichter in der Veredelung seiner Nation durch Läuterung des Geschmackes und der Sitte, durch den Kampf gegen Lüge, Trug und Verfinsterung, durch den Fortbau an jenem großen gemeinsamen Völkertempel, in welchem Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit, diese drei Grazien des ewigen Menschenthums, verehrt werden.

Auf diesem Urboden stehend wirke Jeder nach seiner Art und man wird bald den Feigen von dem Muthigen, den Heuchler von dem Ehrlichen, den Verwirrten von dem Klaren unterscheiden, je nachdem er unter Politik Staatskünstelei und Klügelei oder die aufrichtige, nach Menschenwohl und Bildung strebende wahre Staatskunst versteht.

 

 

 

 

Druckvorlage

Banck, Otto: Kritische Wanderungen in drei Kunstgebieten.
Licht- und Schattenbilder zur Geschichte und Charakterisitk der deutschen Bühne, modernen Literatur und bildenden Kunst.
Bd. 2: Vom Literaturgeist unserer Tage.
Leipzig: Dürr 1866, S. 241-257.

URL: https://books.google.fr/books?id=DCtKAAAAcAAJ

(Editionsrichtlinien).

 

 

Literatur

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Göttsche, Dirk: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus). In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hrsg. von Ralf Simon. Berlin u. Boston 2018, S. 175-200.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u. New York. 2004.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; N.F., 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Zymner, Rüdiger: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23-36.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer