[anonym]

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland

 

Zur neuern Lyrik.

 

Gedichte von Emilie Ringseis. Freiburg, Herder 1865.

 

Es gehört einiger Muth dazu, in der Gegenwart mit lyrischen Gedichten hervorzutreten. Der augenblicklich dominirende Zeitgeist ist allem Idealen völlig abgewendet und selber das Widerspiel jeder Poesie. Höhere Gesichtspunkte, Principien sind aus der Mode gekommen, die materiellen Interessen beherrschen die Welt. Was soll da die Poesie in der Welt, wenn sie nicht etwa bei den Nationalökonomen in die Lehre gehen will? Glücklicherweise ist der Zeitgeist selber kein Geist, und der Rückschlag wird nicht ausbleiben; dafür sorgt das Naturgesetz in der Weltgeschichte. Der Hunger und der Durst nach den idealen Gütern aber wird nicht aussterben, und solange dieses Naturbedürfniß in der Menschheit fortlebt, wird auch das Verlangen nach ächter kernhafter Poesie sich je und je wieder dringender geltend machen.

Aechte und kernhafte Geistesnahrung bietet die Sammlung der Gedichte von Emilie Ringseis. Es ist ein gehaltvolles, auch äußerlich auf's geschmackvollste ausgerüstetes Bändchen weltlicher und geistlicher Poesien, die aus dem [78] Born eines tiefbewegten Dichtergemüthes geschöpft sind. Daß Emilie Ringseis eine geborne Dichterin ist, braucht sie nicht erst zu erweisen; ihre geistlichen Dramen gehören zum Besten, was auf diesem Gebiete geleistet worden ist. Auch in der Sammlung der vorliegenden Gesänge wird man den eigenthümlichen Charakter dieser Muse wieder erkennen. Ihrem Wesen ebenso wie dem Ernst der Zeiten angemesssen, waltet durch die Mehrzahl derselben der religiöse Grundton vor, in allen ein streng ethischer Geist. Etwa ein Drittheil der Sammlung nehmen "Weltliches" und "Gelegenheitsgedichte" ein; daran schließt sich eine kleine Abtheilung frommer Gesänge und Sprüche als "Uebergang zum Geistlichen"; den Grundstock der eigentlich religiösen Gedichte bilden zu einem Theil "Eindrücke aus dem Kirchenjahr", zum andern die "dem hochwürdigsten Gut" gewidmeten Lieder, und als würdiger Schluß folgt dann noch ein geistliches dramatisches Gedicht: "des Blindgebornen Heilung."

Wie sich von selbst versteht, ist nicht Alles gleichbedeutend in dem Buch, und wie bei jeder andern Liedersammlung ließe sich auch hier bei Einzelnem darüber rechten, ob es besser aufgenommen oder bei Seite gelegt wäre. Auch bezüglich der Form kann gegen einzelne Freiheiten, die sich die Dichterin gestattet, Einwendung erhoben werden; in ihrem Kraftgefühl ringt sie der Sprache manche kühne Wortbildung und Wortverknüpfung ab, wovon vielleicht nicht jede vor dem Auge grimmer Wächter der Grammatik und Prosodie gleichmäßig Stand hält. Im großen Ganzen jedoch enthält das Buch so viel Schönes und Vortreffliches, daß diese milde Mischung mit minder Vollkommenem nur dazu dienen kann, der Sammlung einen liebenswürdig menschlichen Charakter zu verleihen. Hat sich ja in der Lyrik vor Allem der Mensch, die Persönlichkeit des Dichters selber darzustellen.

Die Gedichte dieser Sängerin zeigen einen merklichen Unterschied von der gewöhnlichen Frauenlyrik. Da ist nichts [79] Verschwommenes, Geschminktes, ätherisch Verduftendes: gedankenvolle Gedrungenheit ist ein wesentliches Kennzeichen der Dichtungen von Emilie Ringseis, und hierin kommt sie der ihr überhaupt geistesverwandten Annette von Droste-Hülshoff nahe. Auch die weltlichen Gedichte tragen den Ernst, der ihrer Muse auf die Stirne gedrückt ist. So besonders die Naturlieder wie: Gebirgseinsamkeit (S. 5), Wasserfall in der Klamm (S. 7), im See (S. 11). Sie haben etwas von der Wehmuth, welche über alle Natur ausgegossen ist, von jenem gemeinsamen Stöhnen der Creatur, von der die Schrift spricht. Das Unheimliche, das zuweilen aus den elementaren Kräften redet, ist gut verkörpert in der mythischen Gestalt des Staffelseereiters (S. 20). Eigentliche Lieder dagegen, jene sangbaren, weich hinfließenden oder frisch hinausgesungenen leichten Weisen findet man in der Abtheilung des "Weltlichen" fast gar nicht. Die Dichterin glaubt sich selber in einem Gedichte über den ernsthaften Zug ihres Wesens rechtfertigen zu müssen: ernst scheint sie ihr, die Welt, "am meisten, wenn ihr Lachen so sinnlos gellt", und ihr ist "der Ernst Geselle, kein drückend Joch" (S. 32). Wacker wehrt sie einen andern Einwurf gegen ihre Dichtungsweise, die man schon öfter als eine männliche bezeichnet hat, durch einen Spruch ab, worin sie sagt:

Nicht unweiblich ist, daß ich dichte
Wenn ich's in weiblicher Zucht ausrichte. . .
Doch wie den Mann auch Zartheit ehrt,
Sei dem Weibe nicht Kraft verwehrt!
Läßt sich die Weiblichkeit nur erkennen,
Hör ich mich gern auch männlich nennen;
Denn so ward mir ja nichts entwandt,
Löbliches nur hinzuerkannt.

Daß sie übrigens den Ton zum Scherz und Schalkhaften findet, zeigen einige eingestreuten muntern Einfälle, deren man gern noch mehreren begegnen möchte, wie der fröhliche [80] Rhythmus vom "Kuß im Trabe" und der kindliche Schwank über "rothes Haar" (S. 31, 33). Sinnreich, von zutreffenden Bildern durchleuchtet ist die Selbstvertheidigung des Reims gegen einen Reimverächter (S. 42); vermöge ihres Gehalts kann sich diese hübsche oratio pro domo mit ihren klingenden Oktaven in jeder Poetik sehen lassen und wird auch vielleicht in mancher künftigen zu finden seyn.

Ueberhaupt entfaltet die Dichterin, wo sie für irgend eine Gerechtsame des Parnasses das Wort führt, eine warme und markige Redegewandtheit. Von Feuer durchglüht sind besonders die dreizehn Sonette, die sie zur Ehrenrettung der Schauspielkunst in eine Kette geschlungen hat. Man hört aus diesem Redestrom wohl heraus, daß hier eine dramatische Dichterin spricht, der, wie in engeren Kreisen längst bekannt ist, gelegentlich auch selber ein mimisches Talent zu Gebote steht, und zwar ein Talent von ungewöhnlicher Darstellungskraft. Die Schauspielkunst führt da ihre Selbstvertheidigung, um Rang und Anerkennung unter den andern Künsten zu erstreiten: auch sie, sagt sie, sei "Reit'rin auf dem Flügelpferde", und will "gleichbürtig ihren Schwestern" seyn. Sie tritt als eifernder Anwalt auf für "die Zunft die sich verkleidet", und ergießt sich in fast zürnender Sprache gegen deren Schelter und Verächter. Freilich wer Beruf und Ziel der Schauspielkunst so hoch erfaßt, wie es unsere Dichterin in diesen Sonetten thut, für den bedarf es nicht erst einer Ehrenrettung jener Kunstform:

Nein, wuchre mit mir! Lerne Kunst gebrauchen
Als was sie ist: Zeugniß der Offenbarung,
Daß Gottes Bild du sei'st aus Gottes Hauchen!

Begreifst du so der Schöpferkraft Erfahrung,
Wird jede Kunst dem Glauben Liebesnahrung,
Dankwolke, zum Urschöpfer aufzurauchen!

In den Gelegenheitsgedichten lernt der Leser Emilie [81] Ringseis als warmblütige Patriotin kennen, namentlich in Gesängen aus dem Jahre 1859. Das prächtige Widmungs-Gedicht, das sie in das Radetzky-Album, bei der Kunde von der Genesung des alten Kriegshelden, schrieb, hat dazumal die Runde durch die deutschen Blätter gemacht. Ebenso ist der poetische Gruß an die heldenmüthige Königin Marie zu Gaeta ein schönes Gedächtnißblatt geworden. Andere sinnige Festgrüße in dieser Reihe sind: der Willkomm, womit Cornelius, der "Schlüsselmann neudeutscher Kunst, Peter mit dem Petersschwerte", auf seiner Heimkehr von Rom im Sommer 1861, im Festkreise der Künstler zu München begrüßt wurde; der heitere Ehrenspruch auf das goldene Schiff der Universität München, ein kunstreiches Trinkgefäß, das, ein Geschenk des Erzherzogs und nachmaligen Kaisers Ferdinand II. an die Universität Ingolstadt, noch jetzt bei festlichen Gelegenheiten umgereicht wird. Endlich wird Jeder mit Beifall in den Preis einstimmen, den die Dichterin ihrem hochverdienten Vater zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum dargebracht hat, dem "tapfern Ritter ohne Furcht und Tadel", der "in Wissenschaft und Leben seinem Stand ein Adel, Licht, Heil und Trost für Viele, dem Vaterland ein Mann!" Ja, ein Mann wie Wenige in unserer an Charakteren so kläglich armen Zeit!

Vorzügliches hat Emilie Ringseis in den geistlichen Gedichten geleistet. Erreicht in diesen ihre Poesie den höchsten lyrischen Schwung, so gelangt auf der andern Seite ebenso die schlichte ungeheuchelte Frömmigkeit in vielen derselben zu tiefempfundenen Lauten. Namentlich sind die "dem hochwürdigsten Gut" geweihten Lieder frisch aus der Stimmung heraus geschrieben und geben Gefühlen, wie sie Jeder durchgelebt hat, einen ungekünstelten seelenvollen Ausdruck. Man lese beispielsweise jene von der Communion, wie gleich das erste unter denselben: "Bin zum Tisch des Herrn gegangen" etc. (S. 179). Da spricht der unmittelbare, kindlich fromme Glaube. [82] Aecht und einfach ist auch folgendes Lied empfunden, das der Abtheilung "Uebergang zum Geistlichen" eingereiht ist:

Schweigend sah der Herr vom Kreuze,
Ich auch sah Ihn schweigend an;
Denn ich hab so oft bereuet
Und so oft die Schuld erneuet,
Daß ich nichts mehr sagen kann.

"Herr, Du weißt ja!" Das war Alles,
Da mein Blick den Seinen fand.
Daß ich nicht noch tiefer gleiten,
Sondern fürbaß möchte schreiten,
Reicht' Er mir die blut'ge Hand.

Unter den "Eindrücken aus dem Kirchenjahr" findet sich ebenfalls viel Schönes in mannigfaltigem Anklang. Erwartung, Freude, Trauer und Triumph: alle diese Herzens-Bewegungen, wie sie der Kreislauf des christlichen Jahres erweckt, brechen nach einander in Liedertönen hervor. Die Anschauung des einfältigen Glaubens prägt das naive, im Geist der alten Noels gedachte, Weihnachtslied "das neugeborne Christkind" (S. 150) recht lieblich aus. Ebenso innig aufgefaßt ist der Gesang der Jungfrau zu dem Neugebornen (S. 151). In kräftigen Akkorden aber klingen die festlichen Kirchentöne hinaus, wie "des Herrn Ruf auf Frohnleichnam" (S. 199):

Tragt Mich hinaus von den Altären,
Ich will zu Meinem Volke gehn,
Den Anblick Allen zu gewähren!
Die sich von Meinem Tische nähren,
Sie sollen Mich mit Freudenzähren
In ihrer Mitte wandeln sehn!

Die volle Poesie eben dieses schönen Tages athmet der folgende Festgesang, der als eine letzte Probe ganz hier Platz finden soll:

[83] Birken, säuselt in den Lüften,
Dieses ist der Tag des Herrn!
Die ihr kamt aus Waldesgrüften,
Gebt dem Tag mit Waldesdüften
Preis und Zier, dann welket gern!

Welche zaubrische Verlegung!
In die Kirche zog der Hain!
Auf den Straßen ganz Bewegung,
Hemmt er hier der Blätter Regung,
Zieht den Odem lautlos ein.

Zwischen prächtigen Standarten
In dem hohen Pfeilerwald
Prangt der Baum- und Blumengarten,
Und die Thore voll Erwarten
Springen auf, es hallt und schallt.

Priesterchöre, Kinderschaaren,
Fürst und Bettler ziehn heraus.
Blauer Himmel, Festfanfaren!
Und die Freud' mit sonnenklaren
Augen lacht aus jedem Haus.

Immer reicher das Gedränge,
Immer prächt'ger wird die Welt;
Horch, Sankt Benno's Glockenklänge,
Donner fällt in die Gesänge,
Denn es naht des Festes Held!

Andacht, sink Ihm tief zu Füßen,
Feuchte dich, mein Augenstern,
Klopf, o Herz, dem huldreich Süßen –
Birken, rauscht Ihm euer Grüßen,
Dieses ist der Tag des Herrn!

Den Schluß der ganzen Sammlung bildet ein kleines dramatisches Gedicht, oder wie es die Dichterin nennt, eine biblische Handlung in zwei Theilen: "Des Blindgebornen Heilung." Da, man fühlt es, ist Emilie Ringseis auf [84] ihrem eigentlichen Herrschaftsgebiete. Wie es indirekt die lyrischen Gedichte sagen, die fast alle mehr oder weniger einen dramatischen Pulsschlag verrathen, so hat sich in dieser knappen biblischen Handlung die Natur ihres vorzugsweise dramatisch gestaltenden Schaffens unmittelbar und zwar wieder in ebenbürtiger Weise geoffenbart. Die Dichtung ist ein durch würdige Einfachheit wie durch plastische Sicherheit der Zeichnung ergreifender Vorgang. Zuerst das Bettler-Genrebild im Vorhof des Tempels, dann am Teiche Siloah der freudige Schrecken, das staunende Entzücken des Sehendgewordenen, hierauf die wohlangelegte Untersuchungsscene vor dem Hohenpriester, das Pharisäerthum in Lapidarstrichen, und endlich dem gegenüber die einfach stille Hoheit in der Erscheinung des Heilandes, vor dem der Geheilte niederstürzend das eine Wort nur findet: "O Herr, ich glaube!" – das ist in kurzen charaktervollen Zügen fein ausgeführt, in der Sprache packend, in der Bewegung der fortschreitenden Handlung künstlerisch abgerundet. Es ist ein Kleinod geistlicher dramatischer Poesie. Man kann hier nicht viel expliciren. Man kann nur sagen: nimm und lies; oder wenn man die Wirkung noch besser erfahren will: nehmt und traget vor!

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland.
Jg. 1866, 1. Bd. (= Bd. 57), S. 77-84.

Ungezeichnet.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland   online
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