Julius Saupe

 

II. Lyrische Poesie.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

§ 55. Wesen der lyrischen Poesie.

 

Die lyrische Poesie, 1) welche die innere Welt, die Schwingungen des Gefühlslebens, im Lichte des Bewußtseins enthüllt, schildert die besondere Stimmung des von einem kleinen Punkte der Welt erregten Dichtergemüthes. Ihr Ausgangspunkt ist der Augenblick, wo ein Gegenstand 2) in des Dichters Herzen zündet und Alles hervorlockt, was in dieser Richtung in demselben schlummert. Der Gegenstand selbst, den der Dichter eben jetzt 3) so und nicht anders empfindet, wird zwar angedeutet, aber nicht entwickelt. Die Erzeugnisse der lyrischen Poesie haben daher in ihren Gefühlsklängen nicht sowol einen bestimmten Körper, 4) als einen bestimmten Duft, der jenen zündenden Punkt umwebt, wie der Blüthenduft den aufgeschlossenen Blüthenkelch.

 

1) Unter lyrischer (λύρα - λυρικά) verstanden die alten Griechen nur die Poesie, welche mit musika[48]lischer und orchestischer Darstellung d. h. mit Gesang, Saitenspiel, Geberden und Tanzbewegungen verbunden war.   zurück

2) Die Gegenstände, welche das Gefühl hervorrufen, können ebensogut Persönlichkeiten und Ereignisse sein, als Bilder und Anschauungen, Gedanken und Willensbewegungen.   zurück

3) Wie die epische Poesie an die Vergangenheit, ist die lyrische wesentlich an die Gegenwart gewiesen, und nur von der Gegenwart aus durchmißt sie die Vergangenheit und Zukunft.   zurück

4) Denn der Gegenstand ist nur der Draht, "an welchem der elektrische Funke des Gefühls hinläuft und aufsprüht." (Vischer.)   zurück

 

 

§ 56. Die lyrische Darstellungsweise.

 

Da sich das Gefühl, seiner Natur nach, dem Ausdrucke in Worten entzieht, so ist es begreiflich, daß der lyrische Dichter mehr ahnen läßt, als ausspricht, daß er kurz, rasch und abgebrochen den Weg durchläuft, den ihm das Anschwellen, Ausbrechen und sich Beruhigen seiner besondern Stimmung vorschreibt. Diesem Ton und Gang entspricht die musikalisch-rhythmische Form, 1) die klang- und kunstreiche Strophenbildung und der die übersichtliche Haltung sichernde Reim und Refrän.

1) "Wer keine Erzeugnisse aufzuweisen hat, die wie Gesang klingen, zum Gesang auffordern, dem Komponisten entgegenkommen, der hat sich nicht wahrhaft als lyrischer Dichter bewährt." (Vischer.)   zurück

 

 

§ 57. Arten der lyrischen Poesie.

 

[49] Den in Welt und Leben gegebenen Inhalt verwandelt der lyrische Dichter entweder ganz in Gefühl und Empfindung, oder er läßt ihn über sich und hebt sich singend zu ihm hinauf, oder er hält ihn vor sich und wendet ihm seine Gedanken in beschaulicher Stimmung zu. Hierauf gründet sich die Eintheilung in die Lyrik des reinen Gefühls, in die Lyrik des Aufschwunges zum Gegenstande und in die Lyrik der Betrachtung; die erstere unfaßt alles Liederartige, die zweite alles Hymnenartige, die dritte alles dem denkenden Fühlen Entsprungene. Die Scheidung zwischen Volks- und Kunstpoesie tritt in der Lyrik nicht so scharf hervor, wie in der Epik, und läßt sich nur in der reinen Gefühlslyrik geltend machen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Julius Saupe: Die Gattungen der deutschen Dichtkunst.
Eine Poetik für obere Gymnasialklassen.
Gera: Kanitz o.J. [1863], S. 47-49.

URL: https://books.google.fr/books?id=x3laAAAAcAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

Literatur

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Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u.a. 2010.

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